Denkfalle Realität

„Ich glaube nur, was ich sehe.“ – Dieser Satz ist naiv. Bereits die optischen Täuschungen zeigen uns, dass er zu nichts führt. Es ist vielmehr so, dass „die wesentlichen Strukturen und Modelle […] bereits in unserem Kopf gespeichert, angeboren oder in früher Kindheit erlernt [sind]. Sie gehören zu unserem Hintergrundwissen. Durch Auswahl aus diesem Fundus und durch Mustervergleich kann unser Wahrnehmungsapparat die Sinneseindrücke interpretieren.“ (Denkfallen, S. 3). Das funktioniert nur, wenn wir, ausgelöst durch Eindrücke auf unserer Netzhaut, unbewusst eine Erwartung bilden an das, was wahrzunehmen ist. Der Sache näher kommt, wer meint: „Ich sehe nur, was ich glaube.“

Die allgegenwärtigen Denkfallen zeigen uns, dass angeborene und erlernte Wahrnehmungs- und Denkmechanismen nicht das tun, was wir von ihnen erwarten – nämlich dass sie uns die wahre Realität der Dinge zeigen. Das heißt: Oft – vielleicht sogar immer – erleben wir Dinge, die es so eigentlich gar nicht gibt.

Das kann nicht sein? Oh, doch. Das bringt uns Martin Mahner in seinem Aufsatz „Fakten über Fakten“ nahe (skeptiker 3/2017, S.121-124): „Versteht man unter ‚Fakten‘ real existierende Sachverhalte, wirft dies die Frage auf, welchen Status mathematische Fakten haben.“

Wir sprechen in der Mathematik über Punkte, Geraden, natürliche Zahlen und dergleichen. Aber keiner hat so etwas je gesehen, gerochen, gefühlt. Punkte sind ausdehnungslos und in unserer Erfahrungswelt nicht unterzubringen. Genauso geht es mit anderen mathematischen „Gegenständen“: Sie sind nur in unseren Gedanken „real“. Sie gewinnen Gestalt durch das, was wir in Gedanken mit ihnen anstellen können und welche Gesetzmäßigkeiten für sie gelten.

Die Zahl 3 steht für einen solchen mathematischen Gegenstand. Aber „3“ ist ja nur ein Symbol. Was dahinter steckt, müssen wir uns denken. Und wir haben Modelle dafür: drei Streichhölzer, das ziemlich konkrete Symbol „III“, drei Äpfel, usw. Aber die Drei selbst entzieht sich dem direkten Zugriff.

Aus diesen Schwierigkeiten befreit sich der Mathematiker mit Hilfe von Axiomen. In diesen Grundsätzen kommen die mathematischen Gegenstände vor und gewinnen dadurch an Bedeutung für uns. Die Gegenstände der Geometrie wurden auf diese Weise von Euklid gefasst. Eine moderne Version seines Systems der Geometrie bietet David Hilbert (Grundlagen der Geometrie). Er beginnt mit den Axiomen der Verknüpfung. Hier die ersten drei:

  1. Zu zwei Punkten A, B gibt es stets eine Gerade a,  die mit jedem der beiden Punkte A, B zusammengehört.
  2. Zu zwei Punkten A, B gibt es nicht mehr als eine Gerade, die mit jedem der beiden Punkte A, B zusammengehört.
  3. Auf einer Geraden gibt es stets wenigstens zwei Punkte. Es gibt wenigstens drei Punkte, die nicht auf einer Geraden liegen.

Für die natürlichen Zahlen hat Giuseppe Peano ein solches Axiomensystem aufgestellt.

Kurz und gut: Wir können sehr wohl vernünftig über mathematische Gegenstände reden und uns mit anderen darüber verständigen, obwohl sie nirgendwo definiert sind und obwohl es sie in der Wirklichkeit gar nicht gibt!

Vielleicht verhält es sich mit den Dingen unserer Erfahrungswelt ebenso? Die Welt in unserem Kopf wird von Gesetz und Ordnung zusammengehalten. Alles wirkt stimmig und real; das verführt dazu, diese innere Welt für ein Abbild der bewusstseinsunabhängigen Außenwelt zu halten. Wir bekommen es mit Denkfallen zu tun, wenn es die Dinge, so wie sie uns erscheinen, in Wirklichkeit nicht gibt.

Unter den Philosophien, die von einem halbwegs getreulichen inneren Abbild der „wirklichen Wirklichkeit“ ausgehen und die jeweils ihre eigene Fundierung dieses Abbilds anbieten, räumt Richard Rorty in seinem Buch „Philosophy and the Mirror of Nature“ (Thirtieth-Anniversary Edition, 2009) ziemlich gründlich auf. Dabei geht es vor allem um die Philosophien von Descartes und Kant. Auch der Naturalist findet sich in diesem Kreis wieder, wenn er von einer Rekonstruktion der Außenwelt spricht und als deren Fundament die Projektionen der äußeren Welt auf seine Peripherie ansieht.

Richard Rorty plädiert für eine pluralistisch angelegten Philosophie der Bildung (Edifying Philosophy), zu der auch die auf Fundamentierung angelegten Philosophien ihren Beitrag liefern: “When we have justified true belief about everything we want to know, we may have no more than conformity to the norms of the day. They [Goethe, Kierkegaard, Wittgenstein, Heidegger, …] have kept alive the historicist sense that this century’s “superstition” was the last century’s triumph of reason, as well as the relativist sense that the latest vocabulary, borrowed from the latest scientific achievement, may not express privileged representation of essences, but be just another of the potential infinity of vocabularies in which the world can be described.” (S. 367)

Ich übersetze das einmal so: Wenn wir unseren wahren Glauben über alles Wissenswerte gerechtfertigt haben, könnte das darauf hinauslaufen, dass wir nicht mehr als eine Übereinstimmung mit den gerade geltenden Normen erreicht haben. Denker wie Goethe, Kiergegaard, Wittgenstein und Heidegger haben sich die Einsicht des Historikers bewahrt, dass der „Aberglaube“ unseres Jahrhunderts im letzten Jahrhundert als Triumph der Vernunft gegolten hat, so wie sie die Einsicht der Relativisten am Leben gehalten haben, dass das neueste Vokabular, das mit den aktuellen wissenschaftlichen Errungenschaften verbunden ist, nicht etwa Ausdruck einer herausragenden Darstellung des Wesens der Dinge ist, sondern dass es sich nur um ein weiteres von potentiell unendlich vielen Vokabularen handelt, mit der die Welt beschrieben werden kann.

Nachtrag (17.11.2017): Bin ich selbst in die Denkfalle Realität hineingeraten? Ich lehne ja den kritischen Realismus des Karl Raimund Popper und damit sein (bescheidenes) Wahrheitsstreben nicht grundsätzlich ab. Meine Mitgliedschaft in der GWUP und meine Kritik an ihr könnten gedeutet werden als ein Streben in Richtung eines Idealzustandes, als Verbesserungsversuch in Richtung eines „wahren Skeptizismus“.

Aber darum geht es nicht. Im Rahmen der Diskussion mit „little Louis“ im Anschluss an den Artikel Die Giordano-Bruno-Stiftung (GBS): nur wirr oder gar gefährlich? habe ich einen Klärungsversuch unternommen, und der geht so:

Nach meiner Auffassung tritt der Skeptiker nicht im Rudel auf. So gesehen ist der Begriff Skeptikerbewegung ein Selbstwiderspruch. Wenn ein Skeptiker Mitglied einer Skeptikerorganisation wird, dann bezieht er eine zumindest prekäre Position.

Es gibt gute Gründe dafür, eine solche prekäre Lage hinzunehmen. Immerhin hat mir meine Mitgliedschaft die Absurdität dieser Situation vor Augen geführt. Es ist gut, dass auch andere sie sehen können.

Ich erhalte Rückendeckung von Richard Rorty. Er empfiehlt, „den menschlichen Fortschritt nicht als das Zusteuern auf einen für die Menschheit irgendwie im Voraus eingerichteten Ort [zu] denken, sondern als eine Möglichkeit, interessantere Dinge zu tun und interessantere Personen zu sein“ („Solidarität oder Objektivität“, 1988, Reclam).

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