Sechstes Intermezzo: Basics für Skeptiker

Was Maimonides und Descartes uns zu sagen haben

Die Medien bringen zu strittigen Themen wie Klimawandel, Glyphosat oder Impfen das Pro und das Kontra. Wenn wir vor schwierigen Entscheidungen stehen, brauchen wir Orientierung in der Fülle einander widersprechender und verwirrender Argumente.

Da hilft die skeptische Methode des Moses Maimonides (1138-1204).

  1. Toleranz. Maimonides zitiert Aristoteles: „Es zeichnet denjenigen aus, der gemäß der Wahrheit entscheidet, dass er seinen Gegnern gegenüber keineswegs feindlich gesonnen ist, sondern ihnen freundlich und gerecht begegnet, und so wie sich selbst behandelt, und zwar gemäß der Richtigkeit der Begründung; des Weiteren, dass er ihnen gleichermaßen zugesteht, dass ihre Begründungen ebenso richtig sein können wie die eigenen.“
  2. Abgewogene Zweifel. In Buch 2, Kapitel 23 seines Wegweisers für die Verwirrten schreibt er: „Du sollst wissen, dass wenn du die Zweifel, die mit einer gewissen Ansicht notwendig verbunden sind, mit denjenigen vergleichst, die mit der entgegengesetzten Ansicht verbunden sind, und du dich entscheiden willst, welche von beiden weniger Zweifel hervorruft, dann solltest du weniger die Anzahl der Zweifel in Erwägung ziehen als vielmehr die Tatsache, wie gewaltig ihre Absurdität ist und inwieweit die Realität ihr widerspricht. Denn manchmal kann ein einzelner Zweifel gewaltiger sein als tausend andere Zweifel.“

In seiner „Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs“ gibt René Descartes (1596-1650) dem Skeptiker Regeln mit. Er glaubte, „an den folgenden vier genug zu haben“.

„Die erste war: niemals eine Sache als wahr anzunehmen, die ich nicht als solche sicher und einleuchtend erkennen […] würde, d. h. sorgfältig die Übereilung und das Vorurteil zu vermeiden und in meinen Urteilen nur so viel zu begreifen, wie sich meinem Geist so klar und deutlich (clairement et distinctement, clare et distincte) darstellen würde, dass ich gar keine Möglichkeit hätte, daran zu zweifeln.

Die zweite: jede der Schwierigkeiten, die ich untersuchen würde, in so viele Teile zu zerlegen (diviser) als möglich und zur besseren Lösung wünschenswert wäre.

Die dritte: meine Gedanken zu ordnen; zu beginnen mit den einfachsten und fasslichsten Objekten und aufzusteigen allmählich und gleichsam stufenweise bis zur Erkenntnis der kompliziertesten[…]

Und die letzte: überall so vollständige Aufzählungen und so umfassende Übersichten zu machen, dass ich sicher wäre, nichts auszulassen.“

Über all dem steht der Gewährleistungsausschluss: Die skeptische Methode liefert keine für jeden gültige Ja-nein-Entscheidung, kein schwarz oder weiß. Es geht um Gewichtungen und Grade der Glaubwürdigkeit. Welche Entscheidung schließlich getroffen, welcher Standpunkt bezogen wird, ist auch eine Angelegenheit der persönliche Wertvorstellungen.

Das waren sechs Grundregeln des Skeptikers, die ich von den frühen Denkern übernommen haben. Ich werde noch eine siebente ins Spiel bringen. Aber dafür braucht es ein wenig Vorbereitung. Dabei wiederhole ich den einen oder anderen Gedanken aus meinem letzten Artikel über Geistartiges.

Täuschungen: Weltbilder und Denkfallen

Wir haben eine Vorstellung davon, wie die Welt um uns herum funktioniert. Das nennt man Realismus. Diese Weltbilder sind im Wandel: Von Eratosthenes (ca. 284-200, Messung des Erdumfangs) über Ptolemäus (ca. 85-165, geozentrisches Weltbild) und Galileo Galilei (1564-1642, heliozentrisches Weltbild) bis zu Albert Einstein (1879-1955, Relativitätstheorie) hat sich einiges getan. Aktuell wird infrage gestellt, ob die schwere und die träge Masse tatsächlich gleich sind, wie es in den Lehrbüchern steht. (Die Lebensdaten sind aus dem Lexikon bedeutender Mathematiker von 1990.)

Manchmal führt nicht der Realitätssinn zu bedeutenden Entdeckungen; zuweilen spielen Ignoranz und Sturheit die Hauptrolle. Ausgehend von einer damals bereits längst überholten Schätzung des Erdumfangs durch Aristoteles („wenige Tagesreisen von Europa nach Asien“) und Toscanelli (ca. 30 000 km) brach Christoph Kolumbus mit den Schiffen Santa Maria, Pinta und Nina gen Westen auf und entdeckte 1492 Amerika.

Das zeigt uns: Der Realitätssinn ist grundsätzlich fehlbar. Und das gilt nicht nur im Großen, bei den Weltbildern; Täuschungen sind ganz alltäglich und allgegenwärtig. Eines meiner Lieblingsbeispiele ist die Zwei-Nasen-Täuschung (aristotelische Täuschung). Probieren Sie es aus: Legen Sie Zeige- und Mittelfinger über Kreuz. Dann streichen Sie mit diesen Fingerkuppen über Ihre Nase hin und her, so dass die Fingerkuppen abwechselnd die Nase berühren. Das Ergebnis ist verblüffend – oder etwa nicht?

Weitere Beispiele kennen wir aus der optischen Wahrnehmung, von den Kippbildern und den Längentäuschungen. Hier ist meine Version des rubinschen Bechers:

Das Kippbild zeigt entweder zwei einander zugewandte Gesichter oder eine Vase, je nachdem, was der Wahrnehmungsapparat als Figur und was er als Grund interpretiert. Es ist aus meinem Buch „Klüger irren“. Darin habe ich viele Situationen aufgezeigt, in denen der Realitätssinn irrt.

Körper-Geist-Dualismus als Ordnungsprinzip

René Descartes unterschied die denkende Natur von der körperlichen (Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs, Viertes Kapitel).

Descartes sagt uns, dass sich Körper und Geist als voneinander Getrenntes auffassen lassen: das Physikalische einerseits und das Mentale andererseits. Schauen wir uns den metaphysikfreien Teil von Descartes‘ Dualismus genauer an.

Der mentalen Welt steht die physikalische gegenüber – die Realität. Von dieser haben wir nur fehlbares Wissen.  Karl Raimund Popper nutzt dreihundert Jahre nach Descartes diese grundsätzliche Falsifizierbarkeit unserer Realitätserkenntnis als Abgrenzungskritierium; es scheidet die empirischen Wissenschaften von der Metaphysik. Richard Rorty stellt heraus, dass das Mentale in Descartes‘ Sinn all das umfasst, was wir zweifelsfrei erkennen und über das wir unkorrigierbar berichten können, nämlich Erscheinungen oder Vorstellungen. Drastisch wird uns das vor Augen geführt im Versehrten, der Schmerzen in dem Arm hat, der ihm amputiert wurde.

Karl Raimund Popper dröselt die Beziehungen zwischen den Bereichen auf: Körper und Geist stehen in Verbindung und es gibt Wechselwirkungen zwischen den Welten in beiden Richtungen. Der Geist ist es, der uns etwas über das Reale mitteilt. Unser Bewusstsein bildet die zweite Welt und steht als Mittler zwischen der Realität, die Popper als erste Welt bezeichnet, und unserem Wissen darüber in der von ihm so genannten dritten Welt.

Karl Raimund Popper sagt es so: „Was man die zweite Welt nennen könnte – die Welt des Bewusstseins –, wird auf der Ebene des Menschen mehr und mehr zum Bindeglied zwischen der erste und der dritten Welt: alle unsere Handlungen in der ersten Welt werden von unserer zweitweltlichen Erfassung der dritten Welt beeinflusst. Daher kann man das menschliche Bewusstsein und Ich nicht ohne die dritte Welt (den „objektiven Geist“) verstehen, und deshalb kann man die dritte Welt nicht einfach als einen Ausdruck der zweiten oder die zweite als bloßen Abglanz der dritten auffassen.“

Der Geist ist also Bindeglied oder Mittler zwischen der Realität und den Naturwissenschaften. Richard Rorty und Konrad Lorenz bezeichnen ihn als Spiegel der Natur: „Auch heute noch blickt der Realist nur nach außen und ist sich nicht bewusst, ein Spiegel zu sein. Auch heute noch blickt der Idealist nur in den Spiegel und kehrt der realen Außenwelt den Rücken zu. Die Blickrichtungen beider  verhindert sie zu sehen, dass der Spiegel eine nicht spiegelnde Rückseite hat, eine Seite, die ihn in eine Reihe mit den realen Dingen stellt, die er spiegelt.“ (Lorenz)

Das ist die weltliche Seite der Körper-Geist-Trennung. Sie ist nicht Metaphysik, nicht Glaubensangelegenheit. Es handelt sich so gesehen um ein reines Ordnungs- und Klassifikationssystem. Es dient der Kommunikation und besitzt kein eigenständiges und noch zu ergründendes tieferes Sein.

Der Leib-Seele-Dualismus – Geistartiges

Sobald es um das Wesen des Geistigen geht, überschreiten wir eine Schwelle, hin zur Metaphysik. Vor allem Descartes geht ein paar entscheidende Schritte über den Körper-Geist-Dualismus als ordnendes Prinzip hinaus.

Descartes fragt sich, inwieweit wir wahre Erkenntnis über reale Dinge begründen können. Im vierten Kapitel seiner Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs schreibt Descartes, „dass es vollkommener sei, zu erkennen als zu zweifeln“ und das vollkommenste Wesen ist für ihn Gott. Und weiter: „Aber wenn wir nicht wüssten, dass alles Wirkliche und Wahrhaftige in uns von einem vollkommenen und unendlichen Wesen herrührte, so hätten wir, wie klar und deutlich unsere Ideen auch wären, noch keinen sicheren Grund dafür, dass sie die Vollkommenheit hätten, wahr zu sein.“

Die Anschauung Gottes findet in der denkenden Natur Platz wie viele andere Vorstellungen auch: Geistartiges, Übersinnliches, Dogmen, die Vorstellungen des Lewis Carroll, Melodien usw. Das Mentale bietet einen Tummelplatz für Scharlatane, Beutelschneider und Wichtigtuer. Und dieser Tummelplatz ist mit rationalen Argumenten nicht eliminierbar.

Damit kommen wir zur siebenten Grundregel für den Skeptiker: Die Berufung auf Geistartiges ist Grund für Argwohn, nicht jedoch für die sofortige Verdammung eines Geltungsanspruchs. Entweder ist der Geltungsanspruch praktisch bedeutungslos oder er lässt sich an Effekten ablesen. Allein denen sollte die Aufmerksamkeit des Skeptikers gelten.

Anwendung: Homöopathie

Die Homöopathie beruft sich auf Geistartiges im Zusammenhang mit der Potenzierung: „Durch diese mechanische Bearbeitung, wenn sie nach obiger Lehre gehörig vollführt worden ist, wird bewirkt, dass die, im rohen Zustande sich uns nur als Materie, zuweilen selbst als unarzneiliche Materie darstellende Arznei-Substanz, mittels solcher höhern und höhern Dynamisationen, sich endlich ganz zu geistartiger Arznei-Kraft subtilisirt und umwandelt, welche an sich zwar nun nicht mehr in unsere Sinne fällt, für welche aber das arzneilich gewordene Streukügelchen, schon trocken, weit mehr jedoch in Wasser aufgelöst, der Träger wird und in dieser Verfassung die Heilsamkeit jener unsichtbaren Kraft im kranken Körper beurkundet.“ (Samuel Hahnemann, zitiert nach N. Grams, 2015, S. 39 f.)

Diese Aussagen wecken unseren Argwohn – gemäß der siebenten Grundregel. Genauere Untersuchungen, die Wirksamkeit der Homöopathie betreffend, sind angezeigt. Diese gibt es aber schon seit über zweihundert Jahren. Das Ergebnis ist bekannt.

Quellen

Descartes, René: Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs. Reclam 1961/1963

Grams, Natalie: Homöopathie neu gedacht. 2015, S. 39 f.

Grams, Timm: Klüger irren – Denkfallen vermeiden mit System. 2016

Lorenz, Konrad: Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens. 1973. Schluss des ersten Kapitels.

Maimonides, Moses: Wegweiser für die Verwirrten. Eine Textauswahl zur Schöpfungsfrage mit einer Einleitung von Frederek Musall und Yossef Schwartz. Herder, Freiburg 2009

Popper, Karl Raimund: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf. 1972, S. 123ff., S. 168, S. 279f.

Rorty, Richard: Philosophy and the Mirror of Nature, Zweites Kapitel „The Invention of Mind“ (1979)

Wolff, Maurice: Einleitung zu “Acht Kapitel – Eine Abhandlung zur jüdischen Ethik und Gotteserkenntnis” von Moses Maimonides. 1992

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