Der Spiegel der Natur

Rätsel machen Spaß. Davon war im letzten Artikel die Rede. Manche bieten den schnellen und etwas flachen Erfolg. Andere erfordern mehr Anstrengung und beglücken uns dafür mit überwältigenden Aha-Erlebnissen. Wieder andere führen zu langen Disputen, die ebenfalls ihre Liebhaber finden.

Heute schreibe ich von Rätseln, die lebenslange Grübeleien nach sich ziehen und die letztendlich ohne Lösung bleiben (müssen). Es ist ein besonderer Menschenschlag, der auf so etwa versessen ist. Sie nennen sich Philosophen. Sie fragen, ob die Zeit einen Anfang hat oder ob sie schon ewig da ist, oder auch, ob die Welt unendlich ausgedehnt oder ob sie endlich ist. Lauter so Sachen.

Nun gibt es schon seit Jahrtausenden die Warnung vor derartiger Gehirnakrobatik. Zuletzt, soviel ich weiß, hat vor zweieinhalb Jahrhunderten Immanuel Kant gemahnt: Lasst das! Es bringt nichts. So jedenfalls interpretiere ich die Worte aus dem Abschnitt „Antithetik der reinen Vernunft“ seines Werkes „Kritik der reinen Vernunft“ (1787): „Wenn wir unsere Vernunft nicht bloß zum Gebrauch der Verstandesgrundsätze auf Gegenstände der Erfahrung verwenden, sondern jene über die Grenzen der letzteren hinaus auszudehnen wagen, so entspringen vernünftelnde Lehrsätze, die in der Erfahrung weder Bestätigung hoffen, noch Widerlegung fürchten dürfen.“ Kant war der Auffassung, dass derartige Probleme nicht gelöst, sondern bestenfalls „unschädlich gemacht“ werden können.

Kant hat seine Mahnung in den Wind geschrieben. Nach wie vor erscheinen dicke Bücher über die grundsätzliche Beschaffenheit der Welt; gemeint ist eine von unserem Denken unabhängige Welt, über die wir nachdenken und die zu erkennen wir befähigt sein sollen. Außer dieser Natur gibt es diesen Büchern zufolge nichts, vor allem keine Übernatur.

Diese Geisteshaltung nennt sich Naturalismus. Ihm zufolge sehen wir die Welt wie in einem Spiegel (Rorty, 1979/2009). Dieser Spiegel der Natur in unserem Kopf gehört, wie der Kopf auch, zur Welt, da es ja voraussetzungsgemäß sonst nichts gibt.

So gerät der Philosoph in eine ausweglose Situation: Er denkt also nach über das Spiegelbild der Natur und über seine – ebenfalls gespiegelten – Gedanken dazu, und über seine Gedanken dazu, und über … Hätte er doch nur auf Kant gehört, der ihm zurief: Lass das!

Obwohl erst einmal nichts gegen den Begriff einer allumfassenden Welt zu sprechen scheint, stellt sie sich doch als undenkbar heraus. Wissen ist offensichtlich nicht naturalisierbar (Rorty, 1979/2009, „Truth without mirrors“, S. 295-299). Andererseits empfinden wir unser Wissen über Zahlen beispielsweise als durchaus real, auch wenn es die Zahlen selbst nicht sind. Aber: Lassen wir das!

Jetzt lässt sich auch verstehen, warum es auf dem Büchermarkt Titel von ernst zu nehmenden Autoren gibt, die einander schreiend widersprechen: „Wieso können wir die Welt erkennen?“ (Vollmer, 2003) und „Warum es die Welt nicht gibt“ (Gabriel, 2013).

Wer diesen Schwierigkeiten entkommen will, dem bleibt nichts anderes übrig, als dem allumfassenden Realismus adieu zu sagen. Genau das hat Hilary Putnam (2012) getan. Er hat sich von dem von ihm so genannten metaphysischen Realismus abgewandt und propagierte stattdessen eine deutlich schwächere Variante des Realismus, den internen oder wissenschaftlichen Realismus. Demzufolge ist der praktische Erfolg einer Theorie Beleg dafür, dass sich ihre Begriffe auf real existierende Objekte beziehen und dass diese Theorien die Realität wenigstens teilweise richtig erfassen.

Das Problem mit dem Spiegel der Natur ist er so zwar losgeworden, die denkunabhängige Realität gibt es in Putnams Gedankengebäude aber immer noch. Sie ist jetzt zwar lokal begrenzt, eingeschränkt auf das jeweilige Anwendungsgebiet einer Theorie. Das ist ein Rest an Metaphysik. Dieser Rest bringt ihn erneut in Schwierigkeiten, nämlich dann, wenn sich die rätselhaften Erscheinungen der Quantenphysik seiner Vorstellung von Realität verweigern: „We will just fail to find a scientific realist interpretation that is acceptable.“ (Putnam, 2012, S. 145)

Anstatt den Realismus infrage zu stellen, hofft er auf eine noch zu entwickelnde realistische Interpretation der Quantenphysik. Dieses Argumentationsmuster kennen die Skeptiker von den Homöopathen: Auch nach über zwei Jahrhunderten an negativen Erfahrungen stellen sie ihre Auffassung nicht zur Disposition; da müsse eben mehr Forschung her, meinen sie.

Den Witz der Geschichte hätte ich fast unterschlagen. Am Ende seines Weges zieht Putnam den naiven Realismus in Betracht, einen Realismus, den wohl die meisten von uns akzeptieren. — Er hat ihn nur besser durchdacht als manch anderer.

Literaturhinweise

Gabriel, Markus: Warum es die Welt nicht gibt. 2013

Putnam, Hilary: Philosophy in an Age of Science. 2012

Rorty, Richard: Philosophy and the Mirror of Nature. 1979, 2009

Vollmer, Gerhard: Wieso können wir die Welt erkennen? 2003

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2 Antworten zu Der Spiegel der Natur

  1. Florian Aigner sagt:

    Ich halte es für relativ uninteressant, ob wir die Existenz eine „objektiven Wirklichkeit“ beweisen können, oder ob wir die „wahre Natur“ der Wirklichkeit erkennen können. Man könnte argumentieren, dass eine solche Frage eigentlich definitionsgemäß offen bleiben muss.
    Für viel interessanter halte ich die Beobachtung, dass es pragmatisch gesehen sich erfahrungsgemäß lohnt, von der Vorstellung auszugehen, dass es eine objektive Wirklichkeit gibt, der wir durch wissenschaftliche Methoden nach und nach immer näher kommen können. Diese Sichtweise hat sich so unfassbar umfassend bewährt, dass es gefährlicher Unfug wäre, sie über Bord zu werfen. Dazu brauche ich aber überhaupt kein ontologisches Argument.

    Mich erinnert das an die berühmte Geschichte von Niels Bohr in der Berghütte, dessen Aufgabe es war, das Geschirr zu spülen – und dann soll er gemeint haben: Mit der Sprache (und der Wissenschaft) ist es wie mit dem Geschirr spülen: Man verwendet schmutzige Lappen in schmutzigem Wasser um schmutzige Teller zu säubern, trotzdem kommt am Ende etwas Sauberes heraus.

    Ich bin davon überzeugt, dass eine realistische Weltsicht die Nützlichste ist. Gleichzeitig interessiert es mich nicht besonders, ob man ihre Gültigkeit beweisen kann.

  2. OTHMAR Ennemoser sagt:

    Hallo,
    In den Kommentaren zuvor geht es zumindest implizit um Kritik an der Philosophie. Der Anfang des bewussten und wissenschaftlich orientierten Denkens aber war ja zutiefst philosophisch. So ist, bzw. wahr wohl, die Philosophie die „Mutter aller Wissenschaften“. Und auch massiver Generator von anthropogen humanistischen Grundwerten, wie etwa Moral und Ethik.
    Insofern war und ist sie, wenn auch nicht bewusst ausgesprochen, nützlich, aber in sich ohne bekennende Absicht. Denn Wissenschaft galt vor der Machtübernahme durch die Naturwissenschaften als nicht nutz- und werteorientiert, sondern allein nur einer „unbefleckten“ Erkenntnis verpflichtet, die sodann in einem nicht wirklich vorstellbaren Idealfall eine objektiv beschreibbare Wahrheit zu repräsentieren vermag.
    Nun, wenn heute – und wie zuvor – von wissenschaftlicher Beweiskraft gesprochen wird, so ist da immer das offensichtlich gut beweisbare Verhalten von Materie im Fokus, wie in Chemie und Physik hinlänglich beschrieben, die verteidigende Rede von wissenschaftlicher Verlässlichkeit, aber wohl so gut wie nie von all den anderen Wissenschaften, wie diese doch nach wie vor ohne vernünftig oder konkret sein könnenden Beweis wirken müssen, wie da ja eben all die gelernten und gelehrten Geistes- und Gesellschaftswissenschaften sich immer wieder neuen „Realitäten“ stellen müssen, ohne jemals zu einem vernünftigen Abschluss kommen zu können – oder gar zu wollen.
    Allerdings muss doch bei allem hell leuchtendem Glorienschein der wirksam seienden Naturwissenschaften auch kritisch festgestellt sein, dass diese – und darin liegt ja auch ihr großartiger Erfolg – nicht nur Segensreiches hervorgebracht haben, so doch viele Problem des Jetzt auch unmittelbar mit den praktikabel seienden Ergebnissen und den daraus zur Wirklichkeit gewordenen Produkten physikalischer oder chemischer Erkenntnisgrundlagen zu tun haben; also letztlich auch z. T. halt Klimawandel und Kriege genau so ermöglicht haben, wie eben allgemeinen Wohlstand und auch relativ möglich sein könnende Gesundheit durch medizinische Apparaturen und Rezepturen.
    Kritisch und wohl auch provozierend, ist hier ketzerisch zu sagen, dass zuvor genannte Weisen wissenschaftlicher Arbeit vielmehr reine Ingenieurskunst als wissenschaftlich wertfreie Forschung nach einem verbindlich sein könnendem Realismus sind.
    Denn allein schon die breit gestreute Existenz der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen verschiedenster Bereiche beweist durch sich schon, dass die Welt eben nicht nur aus dem vermeintlichen Bestand materiell beschriebener Atome besteht, sondern aus sehr viel mehr. Und nicht zuguterletzt eben aus den menschlichen und somit vernünftig sein könnenden Gedanken, aus denen doch immer nur alles, also das wissenschaftlich wie auch das gemeine, zu stammen hat. Deshalb scheut ja auch die Physik das Lebendige wie der Teufel das Weihwasser.

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