Wundersame Geldvermehrung

Der „Sündenfall“: Zentralbanken kaufen Staatsanleihen

Der Tagesspiegel meldete am 11.05.2010 unter dem Titel „Eine Institution bröckelt“: „Die Europäischen Zentralbank (EZB) kauft erstmals Staatsanleihen… damit finanziert sie indirekt die Schulden, die Griechenland und andere in Bedrängnis geratene Länder aufgenommen haben.“

Zitiert wird der EZB-Rat und Bundesbank-Chef Axel Weber. Weber habe gesagt, dass der Ankauf „erhebliche stabilitätspolitische Risiken“ berge und dass es jetzt darauf ankomme, die Risiken so gering wie möglich zu halten. Die Ankäufe seien eng begrenzt und zielten allein darauf ab, „die Funktionsfähigkeit der Anleihemärkte und des geldpolitischen Transmissionsprozesses wiederherzustellen“.

Der Leser bleibt verunsichert zurück: Einerseits bröckelt eine Institution, aber andererseits ist es nicht so schlimm; die Funktionsfähigkeit der Anleihemärkte kann ja wieder hergestellt werden. Wer wissen will, wie schwerwiegend das Geschehen tatsächlich ist, muss sich ein paar grundlegende Elemente der Volkswirtschaftslehre vor Augen führen, insbesondere das Prinzip der Geldmengenkontrolle.

Hauptaufgabe der Zentralbanken ist die Sicherung der Preisniveaustabilität. Diese Aufgabe erfüllen sie vor allem durch die Festlegung von Mindestreserven für die Geschäftsbanken und durch die Festlegung der Leitzinsen.

Auf dem Geldmarkt hängt die Nachfrage nach Geld vom Zinsniveau einerseits und von der Wertschöpfung der gesamten Wirtschaft andererseits ab. Die Erhöhung von Mindestreserven und Leitzinsen wirkt sich gegenläufig auf die Geldmenge aus: Darlehen und Kredite werden teurer und die Geldmenge sinkt. Und das wiederum wirkt dämpfend auf das Preisniveau.

Bei – gemessen an der Wirtschaftsleistung – zu geringer Geldmenge und darbender Wirtschaft erniedrigt die Zentralbank die Leitzinsen. Das ermöglicht den Geschäftsbanken, Geld  zu niedrigeren Zinssätzen auszugeben – Geld, das die Unternehmen dann für Investitionen zur Verfügung haben. Ein unerwünschter Nebeneffekt der erhöhten Geldmenge ist, dass die Preise tendenziell steigen. Eine Erhöhung der Leitzinsen bewirkt das Gegenteil.

Wir haben es also mit einem Regelkreis zu tun, der durch die negative Rückkopplung über die Leitzinsen und Mindestreserven stabilisiert wird. Wesentlich dabei ist, dass die Zentralbank genau in dem besprochenen Sinnen funktioniert. Der folgende Wirkungsgraph zeigt den Regelkreis der Geldmengenkontrolle.

Regelkreis der Geldmengenkontrolle

Zu den Schuldenmachern gehören die Staaten: Sie können sich auf dem freien Markt Geld besorgen, indem sie Staatsanleihen auflegen. Staaten wie Griechenland, die dringend an Geld kommen müssen, besorgen es sich über Staatsanleihen mit weit über dem Durchschnitt liegenden Zinsangeboten; das wiederum führt zu einer nicht mehr tragbaren Staatsverschuldung.

Wenn nun die Zentralbank zur Abwendung des Staatsbankrotts die Staatsanleihen kauft, bricht sie den Regelkreis der Geldmengenkontrolle auf: Die Zentralbank gibt ihre Souveränität und Steuerungskompetenz teilweise auf und macht sich zum Opfer möglicher Umschuldungsmaßnahmen. Die Steuerungsparameter, also Leitzinsen und Mindestreserven, verlieren an Wirksamkeit. Wegen des überhöhten Zinses, den nun ja die Zentralbank erbringen muss, wird Geld geschaffen, das nicht mehr durch die Wertschöpfung gedeckt ist. Bei Fortsetzung dieses Prozesses droht Inflation.

In dem Tagesspiegel-Artikel kommen Experten zu Wort, die die Verpflichtung der Europäischen Zentralbank (EZB), Anleihen aus angeschlagenen Staaten aufzukaufen, als „Sündenfall“ bezeichnen. Man achte auf die verniedlichenden Anführungszeichen. Das klingt nach Schönfärberei: Tatsächlich schwächt die Zentralbank ihre Funktionsfähigkeit; sie macht sogar das Gegenteil dessen, was ihre Aufgabe ist. Axel Weber hat dieser Befürchtung inzwischen starken Ausdruck gegeben und ist zurückgetreten (Spiegel online, 14.02.2011).

Was sind die Folgen einer Inflation? Erspartes verliert an Wert. Es mag ja richtig sein, dass auf diese Weise diejenigen, die etwas haben, die Sparer, zu solidarischem Handeln mit den Notleidenden herangezogen werden. Allerdings irritiert, dass die Hilfeleistung um mehrere Ecken herum und für die Betroffenen ziemlich schwer erkennbar, im Halbdunkel sozusagen, geschieht.

Außerdem ist es möglich, dass die Auswirkungen des „Sündenfalls“ die Falschen treffen. Der Internationale Währungsfonds IWF meint, dass  die Inhaber solcher hoch verzinsten Staatsanleihen auf einen Teil ihrer Rendite verzichten sollten. (Der Spiegel, 14/2011, S. 60). So ließe sich eine übermäßige Geldschöpfung vermeiden. Allerdings wäre zur Zeit, wegen der bereits gekauften Staatsanleihen, auch die EZB ein Opfer dieser Maßnahme.

Unsere Probleme mit dem Unendlichen

Der oben geschilderte Prozess der Geldvermehrung bringt mich auf Ponzis Schema. Charles Ponzi hat in den Monaten Juni, Juli und August 1920 in Boston ein Schneeballsystem betrieben. Die Bezeichnung geht auf ihn selbst zurück: „I started a small snowball downhill. But it developed into an avalanche by itself.“ (Mitchell Zuckoff: Ponzi’s Scheme. 2005)

Ponzis Angebot: Man erhält auf seine Einlagen 50 % Zinsen in 45 Tagen, 100 % in 90 Tagen. Der mathematisch Geschulte wird bei einem solchen in sich widersprüchlichen Angebot stutzig: Nach doppelter Zeit sollte man deutlich mehr als das Doppelte erwarten dürfen. Aber Gier und Unmäßigkeit sind wohl Feind der gesunden Skepsis. Jedenfalls traf das Angebot auf reges Interesse, das nach den ersten Auszahlungen – getätigt aus den Einlagen der Neukunden – tatsächlich lawinenartig anschwoll. Diejenigen, die nicht rechtzeitig ausstiegen, mussten insgesamt Verluste in zweistelliger Millionenhöhe hinnehmen.

Bernie Madoff hat in New York ein Schneeballsystem sogar über vier Jahrzehnte lang bis Ende 2008 betrieben (Andrew Kirtzman: Betrayal. The life and lies of Bernie Madoff. 2009). Der Schaden belief sich schließlich auf viele Milliarden Dollar. Und das Tolle an diesem Coup: Zu den Betrogenen gehörten Adlige, Neureiche, Bankiers, Hedgefond- Manager, und selbst die Börsenaufsicht SEC (Securities and Exchange Commission) hatte versagt und mehrfach klare Hinweise auf das Betrugssystem missachtet.

Neben der Gier könnte auch eine Denkfalle daran beteiligt sein, dass wir auf Schneeballsysteme hereinfallen. Diese Denkfalle trägt den Namen Complacency und beinhaltet Sicherheitserfahrung („Es ist ja noch nichts passiert“), übersteigertes Selbstvertrauen, Überheblichkeit und Arglosigkeit.

Und dieselbe Denkfalle schnappt möglicherweise zu, wenn wir uns damit trösten, dass im Falle der Staatsanleihen alles wohl nicht so schlimm kommen werde.

Aber da ist noch ein zweiter Aspekt; er betrifft das Konzept des Unendlichen. Dieses mathematische Konzept ist äußerst nützlich, wenn wir beispielsweise Zusammenhänge in der Wirtschaft auf ihre langfristigen Auswirkungen hin untersuchen. Weil sich Systemgrößen in vielen Fällen „auf lange Sicht“ stabilisieren, werden aus komplizierten dynamischen Beziehungen schließlich einfache Gleichungen, die sich leicht untersuchen und interpretieren lassen. Die Lehrbücher der Volkswirtschaftslehre sind voll solcher Gleichungen für stationäre und stabile Fälle.

Aber schon John Maynard Keynes hat uns gewarnt: „In the long run we are all dead.“ Wenn etwas nicht mehr so recht stimmt, wie beim gestörten und aufgebrochenen Regelkreis der Geldmengenkontrolle oder beim Schneeballsystem, kann es zu einer explosionsartigen Dynamik mit verheerenden Folgen kommen. Gleichgewichtsbetrachtungen helfen dann nicht mehr weiter.

Das Umtauschparadoxon

Das Konzept des Unendlichen ist sowohl grandioser Vereinfacher als auch teuflische Falle. Es schadet nicht, sich etwas damit auseinanderzusetzen. Das Umtauschparadoxon bietet dazu Gelegenheit. Ich entnehme die Beschreibung des Paradoxons meiner Sammlung der Denkfallen und Paradoxa.

Zwei Briefumschläge enthalten Geld, einer doppelt so viel wie der andere. Ich darf einen Umschlag auswählen, und das Geld entnehmen. Danach darf ich entscheiden, ob ich das Geld behalten will oder zum anderen Kuvert wechsle. Angenommen, ich ziehe ein Kuvert und finde 100 € darin.  Eine kurze Überlegung zeigt mir, dass ich das Angebot zum Umtausch annehmen sollte: Da ich den Briefumschlag rein zufällig gewählt habe, ist die Wahrscheinlichkeit dafür, dass ich zunächst den kleineren Betrag gezogen habe genauso groß wie die Chance für den größeren Betrag, also jeweils gleich ½. Den 100 €, die ich jetzt habe, stehen im Falle des Umtauschs ½ ∙ 200 € plus ½ ∙ 50 € gegenüber. Das ist eine Gewinnerwartung von 125 €, und das sind 25 € mehr als ohne Umtausch.

Widerspruch: Da es auf den Betrag nicht ankommt, hätte ich mich – ohne den Umschlag zu öffnen – gleich für den anderen Briefumschlag entscheiden können. Aber damit bin ich wieder bei der Ausgangssituation: Ich habe ja einfach nur gewählt und kann dieselbe Überlegung wie oben anstellen. Der Wechsel würde auch jetzt Gewinn versprechen, obwohl ich dann wieder beim ersten Umschlag gelandet wäre.

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Eine Antwort zu Wundersame Geldvermehrung

  1. Prof. Dr. K. Hillebrand sagt:

    Es ist immer erfreulich, wenn sich auch Nicht-Ökonomen zu wirtschaftspolitischen Themen äußern. Ihnen scheint der „Sündenfall“ des Ankaufs von Staatsanleihen durch die EZB ein Problem zu sein. Gestatten Sie mir dazu einige Anmerkungen.

    Ich verstehe Ihre Ausführungen so, dass Sie in dem Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB eine bisher unbekannte geldpolitische Praxis sehen und daraus folgend unmittelbare stabilitätspolitische Probleme, sprich: Inflationsgefahren, befürchten. Ersteres ist richtig, letzteres zumindest gegenwärtig wenig wahrscheinlich.

    Mit welchen Instrumenten die EZB versucht, den gesamtwirtschaftlichen Prozeß zu beeinflussen, ist für die Stabilität des Preisniveaus nicht unmittelbar maßgeblich (Mindestreservepolitik wird übrigens bisher nicht praktiziert). Entscheidend ist das Ausmaß der Intervention und deren Dauerhaftigkeit. Gemessen an der quantitativen Bedeutung des Ankaufs von Staatsanleihen kann der inflationsrelevante Effekt bisher nahezu vernachlässigt werden.

    Maßgeblich ist in diesem Zusammenhang etwas anderes. Das europapolitische Regelwerk kennt die sog. „No-bail-out-Klausel“. Danach haften europäische Institutionen nicht für nationalstaatliches Fehlverhalten in finanzpolitischer Hinsicht. Hier liegt der „Sündenfall“. Die EZB finanziert nämlich mit dem Ankauf von Staatsanleihen unübersehbar indirekt die Staatsverschuldung Griechenlands. Das ist ein Tabubruch und dürfte Begehrlichkeiten anderer Länder wecken. Wenn das Schule macht, brechen Dämme und die EZB verliert ihre politische Unabhängigkeit. Es steht mithin das hohe Gut der geldpolitischen Glaubwürdigkeit auf dem Spiel.

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