Gesundheitswesen schafft Krankheitsbedarf

Nach einem Schiunfall mit starker Belastung der Halswirbelsäule kam es zu Taubheitsgefühlen in der Hand. Das Urteil des in unserem Städtchen inzwischen sehr geachteten Neurochirurgen lautete: So schnell wie möglich an der Wirbelsäule operieren, möglichst innerhalb der nächsten zwei Wochen. Der Neurochirurg der Universitätsklinik einer benachbarten Großstadt kam zu einem anderen Urteil. Er fand nichts Beängstigendes. Sein Rat an den Patienten: Leben Sie weiter wie bisher.

Es entstand der Eindruck, dass die vom hiesigen Chirurgen diagnostizierte Schwere der Krankheit nur virtuell bestand und vor allem ökonomische Ursachen hatte: Die Gerätschaften der Neurochirurgie sind teuer und sie sollten möglichst nicht ungenutzt herumstehen.

Neue Krankheiten: Burnout und Liebeskummer

Das Beispiel ist Ausdruck eines bekannten und weithin diskutierten Phänomens unseres Gesundheitswesens. Es gibt gute Bücher und Artikel darüber in großer Zahl. Da muss ich mich nicht auch noch hineinhängen, dachte ich. Da las ich einen kleinen Artikel in der Fuldaer Zeitung zum Thema „Neue, versteckte Volkskrankheit“ (27 .7.2011). Gemeint war der Burnout. Und letzte Woche erschien die Zeitschrift Stern 43/2011 mit der Titelgeschichte „Liebeskummer – Das unterschätzte Leiden“.

Nach der Lektüre konnte ich nicht mehr an mich halten.

Also: Zum Leben gehören Glücksgefühle – und deren unangenehme Kehrseite eben auch. Wir sind zuweilen erschöpft oder fühlen uns ausgebrannt. So sagt uns der Körper, dass wir es etwas langsamer angehen sollen. Aber es ist keine Krankheit, die sich da meldet, sondern ein im Grunde lebenserhaltendes Warnsignal. Und auch Liebeskummer ist zwar unangenehm, aber nicht wirklich lebensbedrohlich.

Nun ist es Mode geworden, unangenehme Gefühle, die eigentlich zum Leben dazugehören, zu Krankheiten zu erklären. Daran lässt sich dann trefflich Geld verdienen. Sollte es noch jemanden geben, der noch nicht weiß, dass er eigentlich schwer krank ist und behandelt werden muss, dann gehört ihm das gesagt, und zwar möglichst drastisch. „Eine Trennung ist wie eine Amputation“ oder – noch eins draufgelegt – Liebeskummer „ähnelt der Reaktion auf eine Krebsdiagnose“. Das sind Formulierungen aus der erwähnten Stern-Titelgeschichte. So lässt sich lukrative Panik erzeugen.

Krankheiten werden erfunden. Und das hat offenbar Methode. In seinem Buch „How Doctors Think“ (2007, S. 207 ff.) schreibt der Arzt Jerome Groopman von der Erfindung einer „männlichen Menopause“ durch die pharmazeutische Industrie und über die Empfehlung an die Ärzte, bei Leistungsabfall und Müdigkeit den älteren männlichen Patienten ein Testosteron-Ersatzmittel zu verschreiben. Einige Arzneimittelhersteller meinten wohl, so Groopman, den natürlichen Alterungsprozess in eine behandlungswürdige Störung umdefinieren zu sollen.

Aber es geht nicht nur um neue Krankheitsbilder sondern auch um Übertreibungen bei der Beschreibung und Behandlung bekannter Leiden. Dazu Groopman (S. 223): Manchmal scheine es so, als würden hohe Kostenerstattungen und die Freigiebigkeit der Apparatehersteller (damit meint er die finanziellen Aufmerksamkeiten gegenüber Ärzten) die Zahl unnötiger Operationen in die Höhe treiben. Die Operationen an der Wirbelsäule seien ein herausragendes Beispiel.

„Wundert es da, dass Orthopäden an die eigene Bandscheibe zwar Wärme und die Hände einer Krankengymnastin heranlassen würden, das Messer des Kollegen jedoch scheuen?“ fragt Jörg Blech in seinem Buch „Heillose Medizin. Fragwürdige Therapien und wie Sie sich davor schützen können“ (2005, S. 160). Und den Artikel „Vorsicht, Medizin!“ im Spiegel 33/2011 schließt er mit der Bemerkung ab: „Ärzte lassen sich im Schnitt seltener operieren als der Rest der Bevölkerung“.

Die Kausalitätsfalle

Wir suchen für alles, was uns betrifft, insbesondere für alles Unangenehme, eine Ursache. Dieser Drang ist nützlich: Mit dem Aufzeigen von Ursache-Wirkungs-Beziehungen erklären wir uns die Welt und so finden wir Ansatzpunkte zur Verbesserung unserer Lage. Kein Wunder, dass dieses Kausalitätsdenken zu unserer genetischen Ausstattung gehört. Es ist ein angeborener Lehrmeister, wie Konrad Lorenz es in seinem Buch „Die Rückseite des Spiegels“ ausdrückte.

Aber das Kausalitätsdenken macht uns auch anfällig für Fehlschlüsse und Manipulation. Denn: Haben wir eine mögliche Ursache gefunden, hört die Suche nach Ursachen gewöhnlich auf. In der Kognitionspsychologie heißt dieses Verhalten lineares (oder auch eindimensionales) Ursache-Wirkungsdenken.

Und die Meinungskneter werden uns die passende Ursache schon einreden, beispielsweise wenn sie suggerieren, dass die Hektik, die Reizüberflutung, die Anforderung der ständigen Erreichbarkeit und der Terror der modernen Kommunikationsmittel den Stress hervorrufen, der schließlich zum Burnout führt.

Es ist wohl so, dass die schlechten Lebensbedingungen eine Rolle spielen und den Krankenstand erhöhen können. Demzufolge erhöhen sich die Ausgaben für das Gesundheitswesen und das medizinische Angebot wächst. Die Gesundheitsangebote wirken auf den Krankenstand mindernd zurück – mit negativem Vorzeichen also. Denn dafür sind sie ja da: zum Heilen.

Aber es gibt noch einen Weg der Rückwirkung; der ist weniger erfreulich und er destabilisiert das System. Dieser Rückkopplungspfad wird gern übersehen, denn eigentlich haben wir die Ursache für den wachsenden Krankenstand bereits gefunden; und mehr als eine Ursache brauchen wir nicht.

Schauen wir uns diesen Rückkopplungspfad (im Wirkungsgraphen rot gezeichnet) dennoch etwas genauer an.

Im Spiegel-Artikel „Jetzt mal langsam!“ (30/2011) kommt ein Personalvorstand der Firma Merck zu Wort: „Die Zahl der psychischen Erkrankungen in seinem Werk nimmt kontinuierlich zu.“ Und woran merkt er das? An den zunehmenden Behandlungen derselben: „Im Jahr 2007 registrierten seine Werkärzte in den deutschen Stützpunkten noch 127 Beschäftigte, die wegen psychosomatischer Störungen in Behandlung waren. Binnen drei Jahren hat sich die Zahl mehr als verdoppelt.“

Der Spiegel fährt fort: „Insgesamt geben deutsche Unternehmen für die Gesundheitsvorsorge ihrer Mitarbeiter rund 4,7 Milliarden Euro aus – Tendenz steigend. So verwundert es kaum, dass rund ums Thema Burnout auch eine Art Wohlfühl-Industrie entstanden ist, mit Reha-Kliniken und Ratgeberliteratur, Coaching-Agenturen und Führungsseminaren.“

Womit dann wieder hinreichend Potential für die Werbung um Patienten und die Propagierung neuer Krankheitsbilder geschaffen wäre. Der Wellness-Zirkus definiert und sucht sich seine Burnout-Opfer.

Die Rückkopplung mit positivem Vorzeichen ist hergestellt: Das Gesundheitswesen erzeugt Krankheitsbedarf.

Das unvermeidliche Resultat: Der Psychomarkt wächst. Seit zwanzig Jahren hat sich die Zahl der in Krankenäusern behandelten Menschen mit psychischen Leiden mehr als verdoppelt (Der Spiegel, 30/2011). Die Frage drängt sich auf, ob der psychische Druck wirklich wächst und dadurch mehr Menschen krank werden, oder ob nur mehr Menschen behandelt werden.

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