Meinungsbildung im Internet – Kurioses wird Norm

Die Diskussion zum vorletzten Hoppla!-Artikel hat mich auf den Wikipedia-Artikel „Ziegenproblem“ gebracht. Den fand ich zunächst kurios. Nach genauerer Betrachtung sehe ich: Es ist schlimmer. Der Artikel wird dem Anspruch einer Enzyklopädie, also das derzeit allgemein akzeptierte Wissen der Allgemeinheit verfügbar zu machen, nicht gerecht: Er bewirkt nicht Wissensvermehrung, sondern Wissensverminderung. Dieses harsche Urteil verlangt nach einer Begründung. Die will ich geben.

Vom Ziegenproblem-Artikel kommen wir ganz schnell auf die Frage, ob das Internet, insbesondere das Web, die besten Ideen nach oben spült. Die Beantwortung dieser Frage hat Bedeutung auch für die Beurteilung der von der Piratenpartei beabsichtigten Verlagerung politischer Entscheidungsprozesse in das Internet. Wir fragen, ob eine Liquid Democracy funktionieren kann; und wenn ja, wie? Darauf wird es so schnell keine Antwort geben. Ich beginne mit einer Fallstudie zum Ziegenproblem-Artikel. Sie verspricht, einige Hinweise zu liefern.

Alle von mir benutzten Wikipedia-Informationen beziehen sich auf den Stand am 26. September (letzte Änderung des Ziegenproblem-Artikels am 24.9.2012, 17:11 Uhr). Wer sich schnell über die im Artikel behandelte Denksportaufgabe und die landläufigen Irrtümer bei der Lösungsfindung informieren will, findet das Nötige in meiner Ministudie „Das Drei-Türen-Problem (Ziegenproblem) bei undurchsichtigem Gastgeber“.

Was ist verkehrt am Wikipedia-Artikel zum „Ziegenproblem“?

Der Wikipedia-Artikel ist im Laufe der letzten zehn Jahre entstanden. Immerhin haben etwa 500 Autoren daran mitgewirkt und die Diskussionsseiten darüber würden ein Buch von 500 Seiten ergeben, also einen ziemlich dicken Wälzer. Die Autoren waren nicht gleichzeitig aktiv: Mancher kam und ging gleich wieder, nachdem er eine oder zwei Änderungen vorgenommen hatte, andere blieben über Monate bei der Sache und einige sogar über Jahre.

Bei der inhaltlichen Würdigung des Artikels sollten wir diesen Entstehungshintergrund im Auge behalten. Denn genau dort ist das Problem zu suchen.

Was ist faul an dem Artikel? Es beginnt damit, dass ein bereits seit 21 Jahren ausgeräumt geglaubter Irrtum, der Fifty-fifty-Irrtum, als Erstes vorgestellt und als akzeptable Lösung präsentiert wird: „Die Gewinnchancen für die Tore 1 und 2 sind gleich. Denn ich weiß ja nichts über die Motivation des Showmasters, das Tor 3 mit einer Ziege dahinter zu öffnen und einen Wechsel anzubieten.“

Es handelt sich um eine elaborierte Version des Irrtums. Aber es bleibt ein Irrtum, wie ich in meiner Ministudie gezeigt habe. Die Sache wird auch nicht dadurch besser, dass eine Interpretation nachgeschoben wird, die zwar mathematisch korrekt ist, die aber nichts mit der Aufgabenstellung zu tun hat: Die Kandidatin hat „keine bessere Möglichkeit, als sich nach dem Wurf einer fairen Münze zu entscheiden. Ihre Gewinnwahrscheinlichkeit ist somit 1/2“, steht in dem Artikel. Thema verfehlt. Und das in einem enzyklopädischen Artikel!

Der ganze Kuddelmuddel kommt daher, dass in dem Artikel immer wieder Nebenpfade beschritten werden. Der Artikel verschiebt ganz allgemein die Gewichte von der Hauptsache hin zum Unwesentlichen. Der elaborierte Fifty-fifty-Irrtum konnte ja nur zustande kommen, weil man die Willkür des Showmasters eingeführt hatte. Auf diesen Gedanken, dass die Motivation des Showmasters eine große Rolle spielen könnte, kommt der Rätselfreund, der dem Rätsel erstmals begegnet, wirklich nicht. Die Frage nach der Motivation des Showmasters taucht in den einschlägigen Nachrichten und Leserbriefen nur gelegentlich und am Rande auf.

Im Abschnitt „Antwort von Marilyn vos Savant“ sollte eigentlich das stehen, was vos Savant gesagt hat, klar und kurz. Das von ihr Gesagte reicht zum Verständnis des Rätsels und dessen Auflösung vollkommen aus. Hier wird die Sache durch die Problematisierung einer natürlichen Annahme, nämlich dass der Showmaster nicht willkürlich handelt, verdunkelt. So verdirbt man den Spaß an der Sache: Aus einer sehr schönen Denksportaufgabe wird etwas Hässliches. (Das ist übrigens der Hauptgrund für mein Engagement in dieser Sache: In der Lehre setze ich auf das Puzzle Based Learning. Damit kann man den jungen Leuten den Spaß am Denken und am Lösen schwerer Probleme vermitteln. Ein Artikel, der diesen Bestrebungen zuwider läuft, setzt mich in Bewegung.)

Im weiteren Verlauf verlieren die Autoren des Artikels den Sinn einer Denksportaufgabe ganz aus den Augen. Dazu kommt, dass der „Ziegenproblem“-Artikel ganz allgemein unter einer überzogenen Darstellungsweise leidet: Der Gebrauch nichtssagender Grafik ist ausufernd, ebenso die Nutzung bombastischer Mathematik. So lässt sich die Sache leicht der Aufmerksamkeit eines interessierten Rätselfreundes entziehen. Dabei geht es um einfache Sachverhalte, mit denen das Vorstellungsvermögen und die Kombinationskraft eines jeden allgemein Gebildeten auch ohne den Einsatz schwerer Geschütze zurechtkommen sollten.

Manche Überschrift hat so gar nichts mit dem darunter Abgehandelten zu tun. Das beginnt schon damit, dass die bevorzugte Lösung, die eigentlich falsch ist, unter dem Titel „Die erfahrungsbezogene Antwort“ erscheint. Die treffendere Titelvariante „Die intuitive Lösung“ ist im Laufe des Meinungsbildungsprozesses unter die Räder gekommen. Unter dem Titel „Strategische Lösung“ bekommen wir tatsächlich keine strategische Lösung geboten, sondern eine entschärfte Aufgabenstellung ohne jeglichen Witz und ohne Reiz. Unter dem Stichwort „Kontroversen“ wird keineswegs über die – tatsächlich vorhandenen – Kontroversen berichtet. Stattdessen werden „faule“ und „ausgeglichene“ Moderatoren eingeführt, ohne zu sagen wozu das gut sein soll.

Im Abschnitt über den „ausgeglichenen Moderator“ wird das eigentlich Selbstverständliche groß und breit ausgewalzt. Hinzu kommt Unverständliches: „Hat der Kandidat das Tor mit dem Auto gewählt, dann öffnet der Moderator zufällig ausgewählt mit der gleichen Wahrscheinlichkeit eines der beiden anderen Tore, hinter dem sich immer eine Ziege befindet und stellt damit sicher, dass seine Torwahl keinerlei zusätzlichen Hinweis zum aktuellen Standort des Autos liefern kann.“ Erst wenn er auf den Abschnitt über den „faulen Moderator“ stößt, merkt der aufmerksame Leser, dass hier die Autoren mit ausgiebigen Umschreibungen ein eigentlich selbstverschuldetes Malheur heilen wollen. Hätten Sie die Sache doch einfach gestrichen.

Und so muss es zustande gekommen sein: Im Laufe der Diskussion ging so mancher Knallfrosch hoch. Einer der Autoren kam auf die Idee, dass man besonders die Fälle betrachten solle, in denen der Kandidat Tür 1 wählt und der Showmaster Tür 3 mit einer Ziege dahinter öffnet (26.2.2009).  Was ist gerade an dieser Situation besonders? Nichts, außer dass der Autor des Leserbriefs, der die ganze Ziegenproblem-Manie ausgelöst hat, Craig F. Whitaker, zur Erläuterung der Aufgabenstellung meinte: „You pick a door, say #1, and the host, who knows what’s behind the doors, opens another door, say #3“. Die Autoren haben diese Chance ergriffen, sich auf einen Nebenpfad zu begeben und den Leser mit Zusatzannahmen und Zusatzaufgaben, die zur Lösung des ursprünglichen Problems nichts beitragen, zu verwirren. Daher werden in dem Artikel nun auch faule und unausgeglichene Moderatoren unter die Lupe genommen. Einen tieferen Sinn hat das nicht.

Die Diskussion: Mitwirkende und Dynamik

Die Autoren bilden eine divergierende Gruppe, denn jeder ist aufgerufen, mitzumachen. Sie folgen unterschiedlichen Motivationen und Antriebskräften. Da gibt es den Sachorientierten, den Selbstdarsteller, den Konsenssucher, den Schwätzer, den Streitsüchtigen, den Knallfrosch, der mal da mal dort Ideen hochgehen lässt, den Satzungskenner usw.

Die Qualifikationen und Kompetenzen sind ebenfalls sehr verschieden: Mit dabei sind der Experte in Wahrscheinlichkeitsrechnung, der interessierte und gut gebildete Laie und die Person mit Lücken im Bruchrechnen.

Ich wollte etwas über die Diskussionsdynamik erfahren und wissen, welche Ideen sich Geltung verschaffen und wie das geschieht. Die Diskussionsseiten zum Wikipedia-Artikel erwiesen sich als reiche Quelle. Sie stillten mein Informationsbedürfnis. Ich konnte unter anderem die folgenden Mechanismen ausmachen:

  1. Ideen haben dann eine Chance, wenn sie hartnäckig und ausdauernd vertreten werden. Mancher Diskussionsteilnehmer produziert riesige Mengen an Text. Ermüdungserscheinungen dünnen die Gegnerschaft aus und es kommt zu faulen Kompromissen. Beispielsweise gab es am 29. Oktober 2010 eine substantielle Verschlechterung des Artikels durch Einführung des faulen, des netten, des fiesen und des zufallsbestimmten Moderators mit daraus folgender Verlagerung des Textes auf Nebensächlichkeiten. Das Resultat wurde daraufhin mit Vehemenz verteidigt und lange aufrechterhalten. Das prägt den Artikel heute noch.
  2. Die Wiederholung des Immergleichen ist die auch in der Werbewirtschaft geschätzte Holzhammermethode zur Durchsetzung von Meinung.
  3. Die Fluktuation unter der Autorenschaft sorgt dafür, dass immer wieder dieselben Probleme hochkommen, so dass manchem Fortschritt wieder ein Rückschritt folgt.
  4. Die Qualität der Argumente spielt demgegenüber eine eher untergeordnete Rolle. Offensichtlich halten sich manche der Autoren nicht mit dem sorgfältigen Lesen von Gegenargumenten auf, sondern schreiben nach dem Erfassen von Reizwörtern lieber gleich ihre Antwort. So kommt es vor, dass Angriff und Verteidigung äußerlich verschieden aber inhaltlich identisch sind, beispielsweise in der Diskussion unter der Überschrift „Moderatorenunterscheidung bei Monty-Hall ist Quatsch“ vom 9. bis 10.9.2012.
  5. Es kommt darauf an, mit möglichst vielen Beiträgen zu allem Möglichen präsent zu sein, um Bedeutung anzuhäufen. Da im Internet die strukturellen Mittel zur Definition von Autorität weitgehend fehlen, schafft man sich auf diese Weise Pseudo-Autorität.
  6. Argumentiert wird vorzugsweise lokal und augenblicksbezogen: Nur das interessiert, was gerade in der Diskussion ist. Es wird nicht versucht, das Geschehen in ein konsistentes Gesamtbild einzufügen. Auch frühere Diskussionen sind nicht im Blick. Das passiert sogar ein und demselben Autor mit seinen eigenen Aussagen. Beispielsweise behauptet einer von ihnen am 20. Februar 2011: „Richtig, der Kandidat erhält eine Zusatzinformation durch das Öffnen eines Nietentors. Diese Zusatzinformation betrifft aber nicht das zuerst gewählte Tor, welches als einziges vor einer Öffnung geschützt ist, sondern nur die beiden anderen Tore, und zwar derart, dass die Gewinnchance vom geöffneten Nietentor auf das andere nicht gewählte Tor übergeht.“ Und am 10. Sep. 2012 kommt vom selben Autor die rhetorische Frage: „Welche Information liefert der Showmaster, und wieso folgt daraus, dass sich an der Wahrscheinlichkeit, dass sich der Hauptgewinn hinter der vom Kandidaten zuerst gewählten Tür befindet, nach dem Öffnen einer Ziegentür nichts ändert?“

So kann kein Wissen entstehen, so können keine Strukturen gebildet werden. Es bleibt bei Zufallsergebnissen. Komplexitätsreduktion findet nicht statt.

Wissen und Komplexitätsreduktion

Ja, darum geht es: Um Komplexitätsreduktion, ein Begriff, der zentrale Bedeutung hat im Lebenswerk von  Niklas Luhmann. Wie ist er zu verstehen? Unsere Welt stellt sich uns als überaus komplex dar. Wir können sie niemals durch unmittelbare Anschauung verstehen. Wir suchen nach Gesetzmäßigkeiten, beispielsweise nach Kausalzusammenhängen. Sie sind der Hebel, mit dem wir Einfluss auf das Weltengeschehen nehmen können. Entscheidungsfreiheit setzt voraus, dass wir eine Vorstellung davon haben, was Ursache und was Wirkung ist.

Dummerweise kennt die Natur keine Kausalität. Sie gibt es nur in unseren Modellen von der Welt. Wir brauchen also, bevor wir uns an die Theoriebildung und an die Anhäufung von Wissen machen, Modelle der Realität, im einfachsten Fall Klassifizierungssysteme. Der Übergang von der Realität zum Modell bedeutet Komplexitätsreduktion. Allgemeiner dient die Komplexitätsreduktion der Schaffung von Struktur und Ordnung.

Übertragen wir das auf unsere Situation: Was soll ich mit der riesigen Informationsmenge, die über das Internet verfügbar ist, anfangen? Ich brauche Selektionsmechanismen, mit denen ich die Spreu vom Weizen sondern kann. Ein solcher Selektionsmechanismus könnte in der Wikipedia umgesetzt werden. Sie wird dadurch zu einem Medium der Komplexitätsreduktion: Sie bildet die vom Menschen der Welt abgelauschten und simplifizierten Strukturen ab, die uns bei der Orientierung im Leben helfen. Sie macht das wesentliche Wissen zugänglich. Das ist der Wunsch. Nun zur Wirklichkeit.

Von der Realität zum Wissen braucht es Komplexitätsreduktion, klar. Aber wie kommt das Wissen zustande, in der Welt allgemein und speziell in der Wikipedia? Die Komplexitätsreduktion geschieht in Prozessen, die von Menschen gestaltet werden, beispielsweise von der Autorenschaft der Wikipedia. Und da alle mitmachen können und da diese Vielen von vielerlei Interessen getrieben sind, vielerlei Qualifikationen besitzen und selbst wieder in vielfältigen Abhängigkeiten und Wirkungszusammenhängen stehen, handelt es sich hier wieder um ein äußerst komplexes Gebilde, das selbst Komplexitätsreduktion dringend nötig hat.

Fragen von Kultur und Macht

Schon sind wir bei der Frage der Kultur. Grundprinzip eines jeden öffentlichen Wikis ist, dass der Zugang praktisch jedermann offensteht; jeder kann die Inhalte lesen und bearbeiten. Das sieht nach totaler Freiheit aus. Jeder darf alles, der Fachmann, der Schwätzer, der Saboteur.

Solange der Kreis der Autoren eines Themas klein ist und man sich kennengelernt hat, funktioniert die Sache. Da wird die Komplexitätsreduktion allein durch wachsendes Vertrauen erzeugt: Nicht jede Änderung und Verbesserung muss auf Herz und Nieren geprüft und hinterfragt werden, da die Autoren untereinander quasi ein System von Autoritäten aufbauen können. Die Arbeit flutscht.

Das  funktioniert in Kleingruppen. Bei größer werdender Autorenschaft stellt sich die Frage, wie Kompetenz und Einfluss (Macht, Autorität, Führung) miteinander gekoppelt werden? Wie wird die „Macht im System“ (Luhmann, 2012) verteilt?

Wir kennen Beispiele für solche Machtverteilung: Unsere Schulen- und Hochschulen verleihen Grade, Diplome und Titel; sie statten so die Absolventen mit Autorität aus. Für Wissenschaften gibt es renommierte Verlage, die dank ihrer Lektoren dem Leser einen Teil der Glaubwürdigkeitsprüfungen abnehmen. Fachtagungen mit ihren Reviewern, Sitzungs- und Tagungsleitern sind weitere Strukturierungselemente des Wissenschaftsbetriebs. Solcherart formalisierte Machtverteilung bewirkt Komplexitätsreduktion: Der Einzelne muss sich nicht um alles kümmern, er kann auf Institutionen bauen, die sein Vertrauen genießen, sich auf Zeugnisse verlassen.

Die Kultur der Wikipedia-Gemeinschaft: Anspruch und Wirklichkeit

Welcher Art könnten die Strukturen der Wikipedia-Community sein? Ich beziehe mich im Folgenden auf die  pluralistische Kulturtheorie von Michael Thompson, Richard Ellis und Aaron Wildavsky (Cultural Theory, 1990), siehe Grafik „Ways of Life“. Die von ihnen unterschiedenen vier Kultur-Grundtypen (Ways of Life) zeichnen sich durch verschiedene Mittel der Komplexitätsreduktion aus: Vorschriften, Gruppenloyalität und Marktmechanismen nehmen uns Entscheidungen ab oder erleichtern sie zumindest.

Ways of LifeVom Anspruch her ist die Wikipedia-Gemeinschaft auf Freiheit und Gleichheit gestimmt und gegen einschränkende Vorschriften (Grid) ziemlich allergisch. Es ist also keine fatalistische Runde, die im Wesentlichen irgendwelchen Zwängen gehorcht, die ihr von außen aufgezwungen sind. Sie neigt eher zum Individualismus, kennt kaum Gruppenbindungen und verzichtet gern auf Vorschriften. Beispiel für eine individualistischer Gruppe ist die freie Unternehmerschaft.

Aber auch in der freien Wirtschaft herrscht nicht das Chaos. Es gibt Gesetze; aber als wesentliches Strukturierungselement dienen hier Geld und Profitstreben. Sie sorgen, zumindest im Prinzip, für Stimmigkeit im Ganzen: „Wenn mein Betrieb floriert, dann ist das gut für die ganze Gesellschaft.“ So etwas fehlt unseren Autoren.

Egalitaristisch ist die wissensorientierte Internetgemeinde ebenfalls nicht. Die Gruppenabgrenzung beruht allein auf übereinstimmenden Interessen. Gleichheit der handelnden Personen ist kein Thema und braucht nicht, beispielsweise mittels Ausschlussandrohung, erzwungen zu werden. Das unterscheidet sie von den Bürgerinitiativen und den aus Bürgerbewegungen entstandenen Parteien (Güne, Piraten) beispielsweise.

Damit landen wir bei der Hierarchie als Mittel der Komplexitätsreduktion: Vertrauen auf der Grundlage verliehener Ämter und im Rahmen einer Bürokratie. Tatsächlich gibt es eine selbstauferlegte Hierarchie der Wikipedianer: Angemeldeter Benutzer, bestätigter Benutzer, Benutzer mit Stimmberechtigung, Benutzer mit Sichterstatus, Administrator und Bürokrat. Das Dumme ist nur, dass der Aufstieg in dieser Hierarchie kein Ausweis von Kompetenz und Qualifikation ist; allein auf das Sitzfleisch und den Umfang der Aktivitäten kommt es an. Bis hin zur Stimmberechtigung werden ausschließlich Ausdauer und Ehrgeiz belohnt. Es ist fraglich, ob man auf diese Weise den oben dargestellten Mängeln beikommen kann. Die Frage nach einer sinnvollen Verteilung der Macht ist offen.

Flüssiges Wissen

Zum Schluss noch ein spezielles Problem der Wikipedia. Die Wikipedia gewinnt dadurch an Wert, dass auch auf externe Web-Seiten verlinkt wird. Damit geraten die Wiki-Macher in ein Dilemma. Eine Verlinkung macht abhängig vom Autor der Zielseite. Ändert dieser den Inhalt, kann es zu Diskrepanzen mit dem Wikipedia-Artikel kommen und zur Konfusion führen. Auch mir ist das schon passiert: Einmal habe ich eine kleine atmosphärische Änderung an einem Text vorgenommen, der auf einer Wikipedia-Seite als Link angegeben war. Versehentlich fehlte der Änderungsvermerk. Es kam zu einer kurzen und eigentlich unnötigen Debatte unter den Autoren der Seite.

Als Gegenmaßnahme könnte man verlinkte Seiten archivieren. Damit wird das System aber eher zähflüssig: Die Aktualität leidet.

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2 Antworten zu Meinungsbildung im Internet – Kurioses wird Norm

  1. Timm Grams sagt:

    Die Diskussion zu diesem Artikel wird leider nicht in diesem Weblogbuch geführt, sondern in der Wikipedia unter dem Stichwort Hochschule Fulda. Ich gebe hier nur diejenigen Teile wieder, die mit der Absicht meines Artikels korrespondieren und begebe mich nicht in die Detaildiskussion. Es ist ja alles schon erschöpfend (!) behandelt worden. Die beste deutschsprachige Referenz ist immer noch das Buch von Gero von Randow („Das Ziegenproblem“, 1992/2004). Wen nach den Diskussionstexten in Gänze dürstet, der kann ja bei der Wikipedia nachsehen. Ich schiebe meine Kommentare zwischen die einzelnen (gekürzten) Diskussionsbeiträge der Wikipedia-Autoren.

    Geodel schreibt am 4. Okt. 2012 um 13:57: Ich denke, dass die Fallstudie von Grams zum Teil als Rache dafür gedacht ist, dass man ihn beim Mogeln erwischt hat. Er bringt im Zusammenhang mit dem Ziegenproblem immer wieder nur die altbekannte, aber falsche Argumentation, dass das bloße Öffnen einer Ziegentür bereits ausreiche, die 2/3-Lösung zu begründen und jede andere, am Wortlaut der Fragestellung orientierte Lösung ein Irrtum sei. Er schreckt bei seiner „Analyse“ der Wikipedia-Diskussion nicht davor zurück, Diskussionsbeiträge gegeneinanderzustellen, die aus dem jeweiligen Zusammenhang gerissen sind. Anstatt seine „Lösung“ ausführlich darzustellen, [… ] wirft er Nebelkerzen.

    Mein Kommentar: Da alles gut dokumentiert ist, kann sich jeder Leser selbst ein Bild davon machen, was „gemogelt“ ist und was nicht, ob „Rache“ eine hier angemessene Vokabel ist und ob meine Zitate den Sinn entstellen.

    HilberTraum schreibt am selben Tag um 15:34: Wo Grams [meiner Meinung nach] etwas zu extrem ist, ist seine Ansicht, dass eigentlich nur die Zusatzannahme, die zur 2/3-Lösung führt interessant und untersuchenswert ist. Was ich aber für eine wichtige und richtige Aussage halte, ist sein Satz „Auf die Frage, ob ein Wechsel von Vorteil ist, gibt es beim Verzicht auf die Annahme eines fairen Showmasters keine schlüssige Antwort.“ (man ergänze noch „im Sinne der Mathematik/Wahrscheinlichkeitstheorie“) […]

    Kmhkmh schreibt am selben Tag um 16:41: […] Man benötigt also zusätzliche explizite Annahmen, aber nicht unbedingt einen fairen Moderator, dieser ist eben nur eine von diversen Annahmen/Möglichkeiten, die Frage zu beantworten bzw. das MHP [Monty-Hall-Problem aka Ziegenproblem] zu modellieren und zu lösen. Man kann allerdings wohl sagen, dass es in der Literatur die am häufigsten vertretene Annahme ist, die sich bereits beim MHP-Erfinder Selvin findet und von vielen Leuten wohl als „natürlich“ oder „naheliegend“ angesehen wird (siehe dazu auch Krauss/Wang). Insofern mag man Grams Kritik als nicht ganz unberechtigt betrachten, es ist in diesem Sinne auch keine Frage von richtig oder falsch sondern der Verhältnismäßigkeit der Darstellung. Wenn man ein Konzept erläutern will, sollte man eben nicht [mit] den pathologischen Fällen und Ausnahmen beginnen oder sich auf diese konzentrieren („Kurioses“ bei Grams), sondern zunächst den Hauptfall abhandeln („Normales“ bei Grams) und sich danach Einschränkungen, Ausnahmen und Einwänden widmen.

    HilberTraum schreibt am selben Tag um 16:59: Ja, es sollte „beim Verzicht auf zusätzliche Annahmen keine schlüssige Antwort“ heißen. Da sieht man wieder, auch Grams streut diese kleinen Ungenauigkeiten ein, die auf den ersten Blick gar nicht gleich auffallen. Da muss man echt aufpassen :)

    Mein Kommentar: Oh ja, aufpassen muss man! Eigentlich immer. Das funktioniert leider nicht so gut, denn der Mensch ist endlich. Die Diskussion geht in der Wikipedia weiter. Unerschrockene mögen dort weiterlesen.

    Nachtrag (6.10.2012 20:00): Den Hinweis auf eine falsche Autorenangabe vedanke ich Kmhkmh. Der erste Diskussionsbeitrag kommt von Geodel und nicht von Albtal, wie ich ursprünglich schrieb.

  2. Pingback: Das Phänomen Schwarmintelligenz | presstige – Das Augsburger Hochschulmagazin

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