Viertes Intermezzo: Täuschung und Selbstbetrug

Glaube, Wissenschaft und Selbstbetrug

Der Gläubige hält an seinen Überzeugungen fest, auch wenn Widersprüche auftauchen: Da gibt es den Philosophen, der bei der Lösung seines Transzendenzproblems in Zirkelschlüsse und Selbstwidersprüche gerät und den Theologen, der sich mit der Theodizee konfrontiert sieht. Es kommt zu geistigen Spannungen und Dissonanzen. Der Glaube wird anstrengend. Selbstbetrug als Mittel der Stressvermeidung tritt auf den Plan. Das wiederum führt zu neuerlichem, weniger bewusstem Stress.

Der wissenschaftlich denkende Mensch strebt danach, Widersprüche zu vermeiden, anstatt sie zu verstecken. Er lässt – Karl Raimund Popper folgend – liebgewonnene aber widerlegte Theorien an seiner Stelle sterben. Im Idealfall kommt er ohne Selbstbetrug aus.

Beispiele für Selbstbetrug in diesem Weblogbuch

In diesem Weblogbuch habe ich gelegentlich versucht, irgendwelche mir absonderlich erscheinenden Glaubensbekenntnisse mit Selbstbetrug zu erklären. Beispiele:

In diesen Fällen werden „Wahrheiten“ verkauft, die wohl auch dem „Verkäufer“ nicht geheuer sind. Wahr ist, dass etwas Falsches behauptet wird. Sich dessen bewusst zu sein, dürfte dem „Verkäufer“ großes Unwohlsein bereiten. Im Sinne des seelischen Gleichgewichts muss dieser Gedanke verschwinden. Er wird verstaut und unsichtbar gemacht nach dem Motto: Wer sich selbst betrügt, kann andere besser hereinlegen.

„Fooling yourself the better to fool others“ ist der Untertitel eines Buches des Evolutionstheoretikers Robert Trivers. Ich komme darauf zurück.

Aura-Reading

Die Gesundheitsmesse ist eine Veranstaltung, zu der Klinikchef Dr. Jürgen Freiherr von Rosen jährlich nach Gersfeld einlädt. Im Artikel über Homöopathie war bereits von ihm die Rede. Die Messe ist ein Stelldichein für Alternativheiler. Im Jahr 2012 wollte ich mir die Sache einmal näher ansehen.

150819Aura-ReadingIch stieß auf einen würdigen älteren Herrn mit weißem Haupthaar und Vollbart. Neben ihm eine Dame mittleren Alters, offenbar seine Kundin, deren Hand auf einer Unterlage mit mehreren Kontaktpunkten lag, die mit einem Computer verbunden war. Auf dem Bildschirm vor den beiden waren schemenhaft ein menschlicher Körper und dessen „Energiezentren“ zu sehen.

Versprochen war ein Aura-Chakra-Clearing für 25 €.

Im Verlaufe des Gesprächs zwischen dem Heiler und der Kundin flackerten die Chakren eindrucksvoll. Ich weiß nicht, was die beiden besprochen haben.

Zuerst habe ich an Betrug gedacht: Die Dame wird hier mit irgendwelchem Hokuspokus abgezockt. Dann meldete sich der Skeptiker in mir. Liegt die Sache vielleicht ganz anders? Die Kontaktfläche sah verdächtig nach einem Aufnahmegerät für Hautspannungen aus. Der Computer arbeitete wohl wie eine Art Lügendetektor mittels Hautwiderstandsmessungen (Galvanic Skin Response, GSR).

Da dämmerte es mir: Nicht der Heiler betrügt, nein, er deckt möglicherweise geheime Wahrheiten auf, die die Dame in ihrem Unterbewusstsein verstaut hat. Vielleicht hilft der Heiler ihr gar, über ein geschicktes Frage-Antwort-Spiel unter Beachtung der Bildschirmsignale, mehr über sich selbst zu erfahren als sie selber weiß.

Denn das ist durch die Forschung zum Thema Selbstbetrug ziemlich gut belegt: Die Haut weiß mehr als das Gehirn. – Natürlich „weiß“ die Haut gar nichts. Aber über Erregungszustände teilt sie etwas mit. Und diese Erregungszustände werden auch durch das Unbewusste gesteuert.

Es gibt ein berühmtes Experiment zur unbewussten Stimmerkennung von Gur und Sackheim (1979). Ich habe davon aus dem Buch Buch Deceit and Self-Deception von Robert Trivers erfahren (2011, S. 59 ff.).

In diesem Experiment werden den Versuchspersonen Aufnahmen vorgespielt, in denen sie selbst oder ein anderer einen Abschnitt eines Buches vorlesen. In den Aufnahmen hören die Versuchspersonen manchmal ihre eigene und manchmal die Stimme einer anderen Person. Per Knopfdruck sollen sie zu erkennen geben, ob sie die eigene oder aber eine fremde Stimme wahrnehmen. Dabei sind sie an ein Messgerät zur Bestimmung des Hautwiderstands angeschlossen. Beim Hören der eigenen Stimme ist der Messwert gegenüber dem anderen Fall deutlich erhöht.

Das per Knopfdruck mitgeteilte Ergebnis ist zuweilen falsch. Falsch-positiv ist es, wenn die eigene Stimme erkannt wird, obwohl es eine andere ist, falsch-negativ, wenn die eigene Stimme einem nicht als solche erscheint.

Etwas Erstaunliches zeigte sich bei diesen Experimenten. Die Haut lag immer richtig: erhöhter Messwert bei der eigenen Stimme, niedriger bei der fremden. Und noch erstaunlicher ist, dass die falsch-negativen Antworten vornehmlich von jenen stammten, denen kurz zuvor – im Schein – eine demütigende Niederlage beigebracht wurde. Wurden Erfolgserlebnisse vorgespiegelt, kam es zu falsch-positiven Entscheidungen.

Ein Freund leidet

Mein Freund und ich, wir stehen in unserer Lieblingskneipe beim Bier. Er meint:

  • Du, seit einiger Zeit quälen mich öfter ganz grässliche Kreuzschmerzen. Neulich in der Frühe bin ich kaum aus dem Bett gekommen. Ich habe gefühlt mindestens eine halbe Stunde gebraucht, um ins Bad zu kommen.
  • Was sagt Dein Arzt dazu?
  • Ja, ganz entgegen meiner Gewohnheiten habe ich ihn zum Hausbesuch bestellt. Er hat nichts gefunden. Das Diagnoseergebnis war gleich null.
  • Hast Du Dein Liebesleben endlich in Ordnung gebracht?
  • Wieso denn das? Ich bin mit Barbara und Sandra vollkommen glücklich. Sie wissen auch voneinander. Sie sind vielleicht etwas weniger glücklich als ich. Aber ich habe die Schmerzen, nicht sie.

Viele Monate später berichtet mein Freund, dass Sandra nach drei Jahren von diesem Dreierverhältnis genug gehabt habe und abgesprungen sei. Nun gut.

  • Was machen Deine Kreuzschmerzen?
  • Jetzt, wo Du drauf zu sprechen kommst, hallo: Die sind seit einiger Zeit wie weggeblasen.

Da ich kürzlich das Buch „Deceit and Self-Deception“ von Robert Trivers gelesen habe, komme ich auf eine verrückte Idee zu sprechen:

  • Könnten Deine damaligen Nöte nicht damit zusammenhängen, dass Dein Gehirn die hässliche Wahrheit, nämlich Dein Unbehagen mit der Situation und mit den Notlügen, im Unterbewusstsein verstaut und Dir in Deinem Bewusstsein die Glückslüge vorgegaukelt hat? So etwas bedeutet Stress für den Körper und sein Immunsystem.

Dann erzähle ich ihm von dem Experiment zur unbewussten Stimmerkennung von Gur und Sackheim und auch von den Kosten des Selbstbetrugs: Unterdrückte Wahrheiten belasten Immunsystem und Gesundheit.

Nach ein paar weiteren Bier sehen wir klar: So muss es gewesen sein. Wir wollen einmal sehen, ob diese Wahrheit morgen, in aller Nüchternheit gesehen, immer noch Bestand hat.

Manch einer betrügt sich ganz bewusst selbst – und es funktioniert

Zwei junge Pharmazeuten und Apotheker berichten von ihren Erlebnissen.

A. Welker: Gestern erhielt ich eine telefonische Kundenanfrage in der Apotheke, die mich auf das Thema Selbstbetrug mit neuen Augen blicken ließ. Bisher ging ich davon aus, dass Selbsttäuschung, wie zum Beispiel der Glaube an die Heilkraft der Homöopathie, auch aus einem (berechtigten) Skeptizismus des Alternativlers gegenüber Big-Pharma resultiert und er deshalb nach Alternativen sucht. Einen bewussten Selbstbetrug hatte ich bisher jedoch nicht in Betracht gezogen! Nun dieses Erlebnis. Es war gestern.

  • Haben Sie noch Rescue-Kaugummis? Die werden nicht mehr produziert, ich weiß; aber haben Sie noch Restbestände?
  • Nein.
  • Ich brauch die gegen Flugangst. Haben Sie wirklich keine mehr?
  • Nein, es gibt da Alternativpräparate, Mittel gegen Reiseübelkeit, die auch beruhigen, sowie Verschreibungspflichtiges, das gut wirkt.
  • Können Sie mal schauen, ob sie nicht noch irgendwo eine leere Schachtel von den Rescue-Kaugummis haben? Da können Sie mir dann auch normale Kaugummis reintun, ganz egal, ich brauch das für die Beruhigung

Wenn wir als Skeptiker versuchen, Menschen durch Diskussion und Nachdenken zu überzeugen, sollte man vielleicht berücksichtigen, dass es manchen Menschen weder um Nachdenken, Erkenntnis oder Wahrheit geht, sondern dass sie irgendwie aus einer unangenehmen Situation (z.B. Krankheit) heraus möchten, und ein probates Mittel ist Selbstbetrug, selbst wenn dieser ganz bewusst geschieht.

Christian Lutsch antwortet: Trifft nicht folgendes Totschlagargument das von Dir beschriebene Szenario: „Wer heilt, hat Recht“, unabhängig davon, ob plausibel oder kausal. Hier lässt sich noch etwas weiter differenzieren: Zwischen denen, die sich bewusst selbst betrügen wollen (?) und jenen, die es nicht besser wissen und subjektive Erfahrung über alles andere stellen. Letztere sollten ja die Adressaten unserer Arbeit sein. Aber bei Ersteren wird einfach eine Unwahrheit bewusst akzeptiert. Was soll oder kann man dagegen tun?

In der Pharmazeutischen Zeitung gab es vor knapp einem Jahr einen Artikel über die Wirkung von Placebos, die selbst dann wirkten, wenn sie ausdrücklich als Placebos verabreicht wurden. Ich denke, dass der Kontext, das Ritual, sich etwas gegen etwas einzuwerfen, und vielleicht auch der Hauch einer Chance, dass vielleicht doch irgendwie etwas Wirksames enthalten sein könnte, durchaus hilfreich sein können. Dass man sich diesen Effekt auch bewusst zunutze machen kann, ist für mich nachvollziehbar. Dazu eine kleine Anekdote.

Ich leide hin und wieder an Lippen-Herpes, meist stressbedingt. Das übliche Kribbeln warnt mich und ich trage umgehend Aciclovir-Creme auf. So habe ich schon häufig einen Ausbruch komplett verhindert. Als ich die Creme noch nicht kannte, war das Kribbeln Vorbote für einen hundertprozentig sicheren Herpes-Ausbruch.

Nun war ich unterwegs und spürte das Kribbeln. Kein Aciclovir dabei und keine Apotheke in der Nähe. Ich musste schnell handeln. Was tun?

Ich erinnerte mich, dass in den Tiefen meines Rucksacks noch ein Fläschchen mit Globuli war, das mir eine Freundin einmal gutgemeint gegen Kniebeschwerden mitgegeben hatte und das seit vielen Monaten von mir ignoriert wurde.

Indikation?

Plausibilität?

Egal!

Ich habe mich an den PZ-Artikel erinnert, ein paar Globuli genommen und gehofft, dass es irgendwie mein Immunsystem stärkt. Der Herpes ist nicht ausgebrochen! Ob nun das Ritual oder die homöopathische Wirkung ausschlaggebend waren, sei dahingestellt :)

Für mich war es zumindest das erste Mal ohne Hilfe von Aciclovir.

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4 Antworten zu Viertes Intermezzo: Täuschung und Selbstbetrug

  1. Silvia sagt:

    Warum die Rechenaufgabe? Kontrolle darüber, ob die Schreiberin ihre Sinne beisammen hat?

    Nun gut, ich nehme Stellung zum Thema Placebo-Effekt: Meine Tochter A. litt als kleines Mädchen mächtig an Übelkeit beim Autofahren. Ich kaufte Tabletten. Sie verlangte immer öfter danach, selbst wenn wir nur eine kurze Strecke fuhren. Es half tatsächlich, sie erbrach sich kaum, nur noch bei langen Autofahrten.
    Da es mir zuwider war, das Kind mit Medikamenten zu stopfen, kaufte ich Vitamintabletten, ebenfalls Dragees. Ich glaubte an den Placebo-Effekt. A. konnte noch nicht lesen. Sie dachte, es sei nur ein neues Medikament. Ergebnis: Sie kotzte sich die Seele aus dem Leib.

    Fazit: Sie hatte eine ernst zu nehmende Übelkeit beim Autofahren; Placebos halfen nicht.

    • Timm Grams sagt:

      Die Rechenaufgabe verhindert, dass ich täglich von hunderten von Kommentaren überschwemmt werde, die von sogenannten Suchmaschinenoptimierern (SEO) maschinell generiert werden und die nur Werbezwecken dienen. Das Aussortieren hat mich anfänglich viel Zeit gekostet.

  2. A.Osipowicz sagt:

    Na ja, ich glaube diesen Placeboeffekt bauen wir alle – bewußt oder unbewußt – in unser Leben ein. Immerhin ist unsere naturwissenschaftliche Weltsicht lächerlich jung gegenüber der magischen.

    In unserer Familie hat sich das Mitführen eine Kastanie als wirksames Mittel gegen Rückenschmerzen herumgesprochen. Auch wenn ich nicht daran glaube, beim Stöbern in meinen Taschen finde ich immer eine.

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