In der Bibliothek der Formen
Die Idee
Wir sind in einer Bibliothek mit einer schier unendlichen Zahl von Bildern und Formen. Neun
dieser Bilder sind gerade sichtbar. Diese Bibliothek kann man durchwandern. Bei diesem
Spaziergang kann man sich in der Umgebung besonders interessanter Formen umsehen. Dazu muss
der Wanderer nur auf das ausgewählte Bild klicken. Schon erscheinen zusätzlich zum
angeklickten Bild acht seiner nahen Verwandten. Auf diese Weise kann man immer tiefer in
die Bibliothek eindringen und sich vom immer neuen Spiel der Formen überraschen lassen.
Das Spiel soll zeigen, welche Rolle Zufall und Selektion im Evolutionsprozess spielen.
Wolframs Welt
Wolframs Welt ist eine Pixelzeile eines Fensters. Im Spiel sieht man immer neun solcher Welten
und wie sie sich mit der Zeit entwickeln. Jede Pixelzeile eines Bildes entspricht einer
Generation. Nach einer einfachen Entwicklungsregel wird das Bild aus der ersten Zeile (erste
Generation) entwickelt. Für's erste genügt diese Erklärung. Weiter unten folgt mehr über
Wolframs Welt.
Die Rolle des Zufalls
Wenn Sie ein Bild auswählen, dann wird die erste Generation der darin dargestellten Welt
in die anderen acht Fenster übernommen. Ohne Änderungen würden sich aufgrund
der für alle Welten gleichen Entwicklungsregel identische Formen ergeben. Um nicht
identische, aber ähnliche Formen zu erzeugen, wird der Zustand eines zufällig
ausgewählten Bildpunkts der ersten Generation zufällig geändert.
Die Rolle der Selektion
Versuchen Sie, bestimmte Formen zu züchten: Sie können sich beispielsweise vornehmen,
- das Bild besonders "schön" zu machen.
- das Bild mit besonders vielfältigen Formen anzufüllen.
- möglichst viele überlebensfähige Formen (Bänder) zu erzeugen.
- das Bild mit möglichst vielen ähnlichen Formen anzufüllen.
- langstielige Pflanzen zu erzeugen.
Zellulären Automaten als Modellwelt
Die eindimensionalen zellulären Automaten, die Wolfram untersucht hat, dürften wohl die einfachsten
wohldefinierten Systeme sein, die zu einer komplexen Selbstorganisation fähig sind. Zelluläre Automaten
bestehen aus einer Ansammlung von einfachsten dynamischen Systemen, die untereinander nur in eng
begrenzter Umgebung und nur auf einfachste Weise in Wechselbeziehung treten können.
Zelluläre Automaten sind also möglichst einfache Modelle, deren Verhalten über die Zeit gesehen durchaus
kompliziert ist. Die Untersuchung solcher Systeme kehrt die Blickrichtung der empirischen
Wissenschaften um: Dort wird nach dem einfachen Gesetz gesucht, nach dem die komplizierte Wirklichkeit
funktioniert. Das Studium der zellulären Automaten zeigt, dass diese Suche nicht von vornherein
hoffnungslos ist!
Wolframs Automaten
Wolframs Welt ist eine Pixelzeile eines Bildes oder Fensters. Jedes Pixel repräsentiert eine Zelle des zellulären
Automaten. Jede Zelle besitzt einen Zustand, der sich von Generation zu Generation - also von Zeile
zu Zeile - ändern kann. Wir gehen von maximal fünf Zuständen aus und bezeichnen sie mit 0, 1, 2, 3 und 4.
Diese Zustände werden mit verschiedenen Farben dargestellt.
Eine Entwicklungsregel legt fest, wie sich der Zustand der Zelle von Generation zu Generation
ändert. Eine solche Entwicklungsregel besteht aus einer Folge von bis zu dreizehn Zuständen,
beispielsweise "0131123". Die Zustandsänderung möge ausschließlich von den Zuständen der Zellen
der 1-Umgebung abhängen. Zur 1-Umgebung zählen die Zelle selbst und ihre unmittelbaren Nachbaren.
Die Welt ist zyklisch geschlossen. Die erste und die letzte Zelle einer Zeile sind Nachbarn:
der linke Nachbar der ersten Zelle ist die letzte Zelle; umgekehrt ist der rechte Nachbar der
letzten Zelle die erste.
Und so werden die Zustände verändert: Die Zustände der 1-Umgebung werden aufaddiert. Es möge
sich der Wert s ergeben. Die Positionen der Entwicklungsregel sind, mit 0 beginnend, durchnumeriert.
Der Folgezustand ist gegeben durch den Zustand, der an Position s der Entwicklungsregel steht.
Ist beispielsweise s =5, dann ist bei obiger Entwicklungsregel der Folgezustand gleich 2.
Falls s die Länge der Entwicklungsregel überschreitet, dann ist der Folgezustand 0 zu nehmen.
Die obige Entwicklungsregel ist als Default-Parameter ins Programm eingebaut. Zur Erläuterung
der Parameterübergabe ist diese Regel zusätzlich im Aufruf des Java-Applets enthalten. Wenn
Sie die Regel ändern wollen, dann wählen Sie eine andere Zustandsfolge für den Parameter Rule.
Literaturhinweise
Kelly, K.: Das Ende der Kontrolle. Die biologische Wende in Wirtschaft, Technik und Gesellschaft.
Bollmann-Verlag 1997. Interessant ist vor allem das Kapitel 13: In der Bibliothek der Formen.
Wolfram, S.: Software für Mathematik und Naturwissenschaften. Spektrum der
Wissenschaft (1984) 11, 164-176. Hier erklärt Wolfram seine zellulären Automaten.
Dewdney, A. K.: Computer-Kurzweil. Auf den Spuren des großen Uhrmachers: Wie ein Programm
mit einfachsten Mitteln die Grundmechanismen der biologischen Evolution simuliert. Spektrum der
Wissenschaft (1988) 5, 8-11. Eine kurze Einführung in ein Programm, das Richard Dawkins schrieb,
um ein zentrales Anliegen seines Buches "Der blinde Uhrmacher" (Kindler-Verlag, München, 1987)
zu illustrieren.
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© Timm Grams, 7. März 1998