Umweltsimulation mit Tabellenkalkulation

Die Tabellenkalkulation als Modell der Welt

Vorbemerkung: Alle Zitate dieses Abschnitts sind, soweit nichts anderes vermerkt wird, aus dem Buch "Dialog mit der Natur" von Prigogine und Stengers (1973).

Die Tabellenkalkulation eröffnet uns Einsichten in das Wesen der Simulation. Darüberhinaus ist sie ein Modell für eine gewisse Weltsicht und für eine bestimmte Auffassung von Wissenschaft. Die folgenden Überlegungen machen gleichzeitig die Grenzen der Anwendung der Tabellenkalkulation und aller darauf aufbauenden Techniken deutlich.

Ein Tabellenkalkulationsblatt für die Simulation besteht aus dem Konstantendefinitionsteil und der Ablauftabelle. Sind die Werte einer Zeile der Ablauftabelle bekannt, ergeben sich die Werte der folgenden Zeilen mit Hilfe der Systemgleichungen (Übergangsfunktionen).

Die eigentliche Programmierung des Tabellenkalkulationsblattes besteht in der Eintragung der Eingabewerte (das sind die von außen auf das System einwirkenden Größen und deren Zeitverläufe), der Anfangsbedingungen, sowie der Formeln für die Übergangsfunktionen.

Der Programmierer braucht bei der Gestaltung des Arbeitsblattes keinerlei Rücksicht auf die Berechnungsreihenfolge zu nehmen. Der Algorithmus der Tabellenkalkulation sorgt dafür, dass die Formeln in der korrekten Reihenfolge ausgewertet werden. Die Organisation des Schemas in Verbindung mit der Algorithmus bilden also einen Rahmen für die Programmierung von Simulationsmodellen, die den Programmierer von der Notwendigkeit entlastet, die Berechnungen sequentiell zu ordnen.

Seltsam ist, dass die - in unserem Bewußtsein vorhandene - wesentliche Unterscheidung zwischen Raum- und Zeitdimension in der Simulation mittels Tabellenkalkulation keine Rolle spielt. Die "Welt" wird vollständig in Form einer Tabelle parallelisiert - und das hinsichtlich Raum und Zeit.

Wir nehmen einmal an, das System unterliege keinen externen Einflüssen. Wir sprechen in diesem Fall von einem geschlossenen System, da es keinerlei Eingriffsmöglichkeiten in das System gibt. Für ein solches geschlossenes System gilt: Die Zukunft liegt fest, sobald man den Anfangszustand (die Werte in der ersten Zeile der Tabelle) kennt. Dasselbe gilt übrigens für die Vergangenheit und man kommt schließlich zum Ergebnis: "Alles ist gegeben", sobald der Zustand in einem bestimmten Zeitpunkt bekannt ist.

Die Weltsicht der klassischen Wissenschaft

Die Tabellenkalkulation spiegelt die Parallelität der Welt wieder. Sogar die Zeit ist in die Parallelisierung einbezogen!

Diese Weltsicht wird am besten durch das Weltlinienkonzept charakterisiert: Im Weltlinienkonzept von Minkowski bilden Raum und Zeit die vierdimensionale Welt. Die Bewegungen in dieser Welt werden zu einem statischen Linienmuster in einem ruhenden Bild.

"Die großen physikalischen Theorien beschrieben eine Welt, in der die Zeit und das Werden keine Rolle spielen... In der klassischen Wissenschaft lag der Akzent auf den zeitunabhängigen Gesetzen. Sobald die Anfangsbedingungen gegeben sind, bestimmen diese ewigen Gesetze für alle Zeiten die Zukunft, so wie sie die Vergangenheit bestimmt haben."

Die Tabellenkalkulation ist ein Modell für diese Weltsicht der klassischen Wissenschaft. Die klassische Wissenschaft aber birgt einen inneren Widerspruch: Wenn die Gesetze Zukunft und Vergangenheit der Welt so eindeutig festlegen, wie kann es dann zum Entstehen und Vergehen des Lebens kommen? Dieser Widerspruch ließ in den Wissenschaftlern ein "Gefühl der Entfremdung" entstehen: "So schön und leistungsfähig diese Theorien auch sein mochten, sie machten die Menschen, selbst Geschöpfe der Zeit, zu einem Fremden in der von ihnen beschriebenen Welt."

Erst die Einführung des Zufalls löst diesen Widerspruch auf: "Wir finden uns in einer Welt des Zufalls wieder, einer Welt, in der Reversibilität und Determinismus nur für einfache Grenzfälle gelten, während Irreversibilität und Umbestimmtheit die Regel sind".

Auch bei der volkswirtschaftlichen Modellbildung spielt die Unterscheidung der verschiedenen Betrachtungsebenen eine entscheidende Rolle: Die mikroskopische Weltsicht befaßt sich mit den Aktivitäten der einzelnen Individuen der Wirtschaft. Die wirtschaftlichen Aktivitäten der Einzelpersonen und Unternehmen sind weitgehend vom Zufall bestimmt.

In der makroskopischen Weltsicht sind die Ergebnisse der Einzelaktivitäten zu aggregierten Größen zusammengefaßt. Mittelwertbildung macht den Zufall unsichtbar.

Die beiden Weltsichten finden wir auch in der physikalischen Theorie der Thermodynamik wieder: Der Druck ist eine aggregierte Größe, die sich zurückführen läßt auf die mittlere kinetische Energie der Moleküle. Die klassische Thermodynamik behandelt die Beziehungen zwischen den aggregierten Größen; sie entspricht der makroskopischen Weltsicht. Die kinetische Gastheorie hingegen ist typisch für die mikroskopische Weltsicht.

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© Timm Grams, 11.10.1999