Hochstapelei im Namen der Wissenschaft

Skepticism gone astray

Programmatisches zu einem neuen Skeptizismus entnehme ich dem Papier Skepticism Reloaded  von Amardeo Sarma (sinnerhaltend von mir übersetzt und gekürzt):

In seinem Buch „New Skepticism“ definierte Paul Kurtz eine Variante des Skeptizismus, die wir heute als „wissenschaftlichen Skeptizismus“ bezeichnen würden. Diese unterscheidet sich von der antiken Variante des Skeptizismus. Der griechische Skeptizismus leugnet, dass wir Wissen erwerben können und er rät davon ab, Urteile abzugeben und einen Standpunkt zu beziehen. Anders die heutigen Skeptiker: Sie beziehen Standpunkte und sie sind dem wissenschaftlichen Realismus verpflichtet.

Dass der heutige Skeptiker als Individuum auch Stellung bezieht, das kann ihm keiner nehmen. Um solche Selbstverständlichkeiten geht es nicht. Der Kern der Botschaft ist, dass die organisierten Skeptiker in ihrer Gesamtheit und übereinstimmend Stellung beziehen sollen. Der neue – oder: wissenschaftliche – Skeptizismus hat mit dem klassischen Skeptizismus offenbar und eingestandenermaßen nichts zu tun.

Die maßgebenden neuen Skeptiker beziehen Positionen auf Themenfeldern, die in der Gesellschaft noch umstritten sind. Amardeo Sarma beispielsweise schreibt im Artikel Glyphosat: Substanzlose Kritik und ‚gekaufte‘ Befürworter:

Zu Glyphosat ist der wissenschaftliche Konsens klar[…] Die überwältigende Mehrheit der wissenschaftlichen Einzelstudien, Übersichtsarbeiten und Behörden bestätigt, dass die zugelassenen Anwendungen von Glyphosat keine Gesundheitsrisiken bergen. Es sind lediglich Interessengruppen, wie der Naturschutzbund Deutschland, Greenpeace oder Friends of the Earth, die den Außenseiterstandpunkt vertreten, dass wir mit Glyphosat erhebliche Gesundheits- und Umweltrisiken eingehen. Hier zeigt sich auch, dass manche Verbände eben nicht vertrauenswürdig sind – sie vertreten ihre Interessen unabhängig von Tatsachen und den tatsächlichen Auswirkungen auf die Gesundheit oder auf die Umwelt.

Aus der Rede anlässlich des March for Science:

Die grüne Gentechnik eröffnet uns die Möglichkeit, auch die Ernährungssituation in Entwicklungsländern entscheidend zu verbessern. Doch einflussreiche Lobbygruppen in Europa und den USA stellen sich quer.

Nach dem March for Science:

Im Sinne der Verantwortung für eine Welt ohne Hunger gilt es, eine heilige Kuh in Deutschland und Europa zu schlachten: die antiwissenschaftliche und pseudofaktische Propaganda der GMO-Gegner. […]

Dass der Miterfinder von Golden Rice aus Deutschland, Peter Beyer, nicht öffentlich von Wissenschaft und Politik gefeiert wird, ist ein Skandal.

Von der Politik verlangen wir [Amardeo Sarma? Die Skeptiker?] eine Kehrtwende in Sachen Gentechnik. Die derzeitige deutsche und europäische Politik ist mit verantwortlich für die Erblindung von Kindern und dafür, dass der Hunger auf der Welt nicht effektiver bekämpft wird.

[…]

Wir [Amardeo Sarma? Die Skeptiker?] fordern eine europaweite Gleichstellung der Zulassungskriterien von gentechnisch veränderten Produkten mit denen der konventionellen und der Bio-Landwirtschaft. Die Kennzeichnung von gentechnisch veränderten Lebensmitteln muss abgeschafft werden, um Lebensmittel aus Afrika, Asien und Lateinamerika nicht zu diskriminieren.

Hoppla! Hier verlässt der neue Skeptiker das Feld der Wissenschaft. Bewertungen machen sich breit. Aus der Wissenschaft lassen sich keine Wertmaßstäbe herleiten. Eine Skeptikerbewegung, die sich in ihrer momentanen Verfasstheit allein auf Wissenschaftlichkeit beruft, kann derartige Positionsbestimmungen in gesellschaftlich relevanten und anhaltend debattierten Fragen nicht leisten. Tut sie es doch, dann arbeitet sie mit verborgenen Annahmen und betreibt letztlich Hochstapelei im Namen der Wissenschaft. Ich komme darauf zurück.

Zunächst will ich aber einen eher nebensächlichen Stolperstein aus dem Wege räumen und frage:

Ist der wissenschaftliche Realismus unabdingbar?

Warum sollte sich ein Skeptiker dem wissenschaftlichen Realismus verpflichtet fühlen? Der Hinweis auf den wissenschaftlichen Realismus hat wohl nur den Zweck, dass sich gewisse Philosophen der Skeptikerbewegung in dem Text wiederfinden. Aber die Moden wechseln. Vielleicht ist in zehn Jahren ein neuer philosophischer Trend gegeben; oder Gott wird wieder Mode.

Ein entsprechendes Bekenntnis würde an der praktischen Arbeit des Skeptikers nichts ändern. Das Etikett würde wechseln – ohne praktische Folgen. Ob jemand an Gott glaubt oder an die komplette Erkennbarkeit der Realität, ob er die Übernatur leugnet oder was auch immer: Wissenschaft bleibt Wissenschaft, Pseudowissenschaft bleibt Pseudowissenschaft.

Die Philosophie erfüllt nur einen Zweck: Der neue Skeptiker kann sich als Wahrheitsbesitzer fühlen. Und diese Gewissheit rechtfertigt Missionierung und Bekehrung der Ungläubigen. Und genau das lässt sich nicht vereinbaren mit einer Forderung des Skepticism-Reloaded-Papiers: Sei nicht herablassend!

Für mich ist das ein Selbstwiderspruch.

Nun zurück zum zentralen Punkt meiner Kritik.

Wertvorstellungen

Wer meint, die Wissenschaft liefere haltbare Standpunkte in strittigen Fragen, der verfällt der Anmaßung, das Sollen aus dem Sein herleiten zu können. Dass das nicht funktioniert, sagt uns Immanuel Kant mit all seiner denkerischen Kraft. Den Fragen „Was kann ich wissen?“ und „Was soll ich tun?“ hat er zwei seiner Hauptwerke gewidmet, nämlich erstens die „Kritik der reinen Vernunft“ und zweitens die „Kritik der praktischen Vernunft“. In seiner Einleitung zum zweiten schreibt Kant:

Der theoretische Gebrauch der Vernunft beschäftigt sich mit Gegenständen des bloßen Erkenntnisvermögens und eine Kritik derselben in Absicht auf diesen Gebrauch betraf eigentlich nur das reine Erkenntnisvermögen, weil dieses Verdacht erregte, der sich auch hernach bestätigte, dass es sich leichtlich über seine Grenzen unter unerreichbare Gegenstände oder gar einander widerstreitende Begriffe verlöre. Mit dem praktischen Gebrauche der Vernunft verhält es sich schon anders. In diesem beschäftigt sich die Vernunft mit Bestimmungsgründen des Willens. […] Die Kritik der praktischen Vernunft überhaupt hat also die Obliegenheit, die empirisch bedingte Vernunft von der Anmaßung abzuhalten, ausschließungsweise den Bestimmungsgrund des Willens allein abgeben zu wollen.

Es ist in meinen Augen Hochstapelei im Namen der Wissenschaft, wenn führende „wissenschaftliche Skeptiker“ Standpunkte beziehen, diese als allein wissenschaftlich begründet ausgeben, und sie so für die Gemeinde der Skeptiker als verbindlich erklären.

Wie können sich die neuen Skeptiker diesen Vorwurf der Hochstapelei ersparen? Es könnte folgendermaßen gehen.

Standpunkte setzen  Wertungen voraus. Die Bewertung derselben wissenschaftlichen Fakten kann durchaus zu einander entgegengesetzten Standpunkten führen. Die Bewertung  von GMOs beispielsweise hängt davon ab, ob man eher dem Vorsorgeprinzip (wie in Europa) oder dem Nachsorgeprinzip (wie in den USA) zuneigt. Die persönliche Entscheidung hängt auch davon ab, ob man die Globalisierung als vorrangig ansieht, oder ob einem die Stärkung der Autonomie der Regionen wichtiger ist. Manch einer ist eher fortschrittlich gestimmt, ein anderer konservativ.

Wertesysteme sind in den Satzungen der Skeptikerbewegung aus prinzipiellen Gründen nicht verankert. Es geht nur um Wissenschaft. Will die Skeptikerbewegung in ihren Reihen den Pluralismus der Weltanschauungen und Wertvorstellungen pflegen, bleibt eigentlich nur der demokratische Weg – das Abstimmungsverfahren, hin zu einem „skeptischen Standpunkt“.

Soweit ich sehen kann, gibt es keine Beschlüsse zu den in letzter Zeit veröffentlichten „skeptischen Standpunkten“. Die momentan gültige Satzung der GWUP beispielsweise ist viel zu dürftig, als dass es zu einer gruppeninternen Abstimmung kommen könnte. Der Skeptikerorganisation fehlt alles, was sie für die Bildung eines „skeptischen Standpunkts“ benötigt: demokratische Institutionen und praktikable Abstimmungsverfahren.

Wer die Skeptikerorganisation im Sinne das Skepticism-Reloaded-Papiers umstrukturieren will, der muss mit der Reform der Institutionen anfangen und die Satzungen entsprechend ändern.

Was will der neue Skeptizismus eigentlich?

Was ich zurzeit sehe, ist Propaganda mit viel moralischem Wumms: „Die derzeitige deutsche und europäische Politik ist mit verantwortlich für die Erblindung von Kindern und dafür, dass der Hunger auf der Welt nicht effektiver bekämpft wird.“

So wird die Skeptikerbewegung zur Propagandamaschine. Es kommt die Frage auf: in wessen Sinne eigentlich? Geht es hier um die Interessen des Bauernverbandes? Dann sollte aber auch Geld fließen.

Das ließe sich ausbauen: für die Energieversorgungsunternehmen, für die Autoindustrie,  für die pharmazeutische Industrie, und so weiter.

In dem Skepticism-Reloaded-Papier wird betont, dass zu den vorrangigen Zielen der Skeptikerorganisationen die Generierung von Einkommensströmen gehört, und zwar: möglichst große und möglichst dauerhafte. Der Weg dorthin zeichnet sich jetzt ab: Reorganisation der Skeptikerbewegung. Jedenfalls würde das der Klarheit dienen und ein jedes Skeptiker-Mitglied könnte sich überlegen, ob es den Weg mitgehen will.

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6 Antworten zu Hochstapelei im Namen der Wissenschaft

  1. Frage sagt:

    Haben Sie gefestigte Standpunkte im Sinne Ihres Artikels?

    • Timm Grams sagt:

      Ich beziehe Standpunkte; einige sind mehr, andere weniger gefestigt. Mich hat beispielsweise der Bericht über die „Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome von 1972 stark geprägt. Trotz all seiner Schwächen hat dieser Bericht einiges bewirkt. Auch Peter Kriegs Film „Der Mensch stirbt nicht am Brot allein“ von 1981 – zugegeben: ein kämpferisches Werk – hat auf mich großen Eindruck gemacht. Durch solche Erlebnisse angeregt habe ich seinerzeit den vhs-Kurs „Umweltdynamik“ entwickelt. Er war Grundlage für das Lehrmaterial Umweltsimulation mit Tabellenkalkulation, das auch an anderen Hochschulen verwendet wird. Vor Jahren, nach der Rückkehr aus dem Urlaub, öffnete ich das Wohnzimmerfenster und erschrak darüber, dass sich – anders als in den Jahren zuvor – kein einziges Insekt einfand. Das ist keine Wissenschaft, aber das Erlebnis machte mich nachdenklich und trug zur Festigung meines Standpunkts bei. Meine Vorbehalte gegenüber den „Wunderwaffen“ der Landwirtschaft gegen Schädlinge und Unkräuter werden durch den aktuellen Spektrum-Artikel „Wettrüsten mit einem Käfer“ bestätigt (Spektrum der Wissenschaft 2/2018. S. 42-48). Manch einer wird das anders sehen: Ich bin Innenstadtbewohner mit entsprechend eingeschränktem Gesichtsfeld. Aber zum Glück leben wir ja in einer pluralistischen Gesellschaft, so dass meine Irrtümer korrigierbar sind. Das als Antwort auf Ihre Nachfrage.

      Meine Meinungen stehen nicht im Fokus des Hoppla!-Blogs. Hier geht es mir vor allem um die skeptische Methode. Und die darf ich mit gutem Gewissen auch anderen „einreden“.

  2. Krista Federspiel sagt:

    Hochmut und Überheblichkeit gegenüber naturwissenschftlichen Erkenntnissen orte ich eher bei Ihren Argumentationen, Herr Gramms. Sowohl der Gentechnik als auch den GWUP-Statuten gegenüber. Es ist fraglich ob andere sich „Ihre“ skeptische Methode „einreden“ lassen wollen.

  3. Mubert Lehbass sagt:

    Ich finde Sie haben da einen wunden Punkt bei den „Skeptikern“ gefunden!

  4. Timm Grams sagt:

    Der Lobbyismus pro Kernkraft und pro Glyphosat hat in der Skeptikerbewegung nicht so recht seinen Platz gefunden. Der Humanismus angelsächsischer Ausprägung bietet wohl den passenderen Rahmen.

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