Zerstört Donald Trump die Demokratie?

Nein, Donald Trump zerstört die Demokratie nicht, denn die US-Demokratie hat nie als die Demokratie funktioniert, als die sie uns weisgemacht wurde. Demokratie ist ja auch ein selbstwidersprüchliches Unterfangen und in Reinform nicht existenzfähig. Ich erinnere mich an ein paar Gedanken, die mir und den Kommentatoren dieses Hoppla!-Blogs bereits in den Jahren der Präsidentschaft von Trump und Biden gekommen sind.

2017: March for Science: zu spät!

Donald Trump ist momentan wegen seiner Post-Truth-Masche ein gern genommenes Angriffsziel.

2019: Dornröschen und die subjektiven Wahrscheinlichkeiten

Mag sein, dass wir, Donald Trump folgend, lernen müssen, mit subjektiven Wahrheiten und Wahrscheinlichkeiten umzugehen.

2019: Joker Trump

Trump zielt meines Erachtens darauf ab, dass seine Gegner zu unüberlegten und niederträchtigen Gegenangriffen übergehen. Dann kann er sagen, dass seine Gegner auch nicht besser seien als er selbst. Das immunisiert ihn und er kann ungestraft Lügengespinste als Wahrheiten ausgeben. Bei seinen Anhängern verfangen diese offenbar. Seine Gegner haben, falls Trumps Rechnung aufgeht, keine wirksame Handhabe dagegen. Es läuft wie bei der Tu-quoque-Strategie des Jokers.

Es gibt auch eine Analogie zwischen den USA und Gotham City: Die desolaten Zustände der öffentlichen Versorgung, unter denen viele zu leiden haben, das Auseinanderdriften von Arm und Reich bilden das Milieu, das den Joker ermöglicht. Diese Lage hat der Joker nicht zu verantworten.

2020: Darf „Rasse“ im Grundgesetz stehen?

Das Aufbegehren der amerikanischen Mittelklasse gegen die „politische Korrektheit“ hat zum Aufstieg des Donald Trump beigetragen.

2023: Oberflächenkompetenz

Die aufsehenerregenden Aktionen haben kaum etwas mit den eigentlichen Zielen zu tun. Bekanntheit ist alles, was für den Erfolg nötig ist. Großmeister in diesem Spiel ist Donald Trump. Ein Amerikaner eben.

Als mustergültiger Amerikaner gilt mir Phineas Taylor Barnum, The World’s Greatest Showman („All we need to insure success is notoriety“).

2023: Aiwanger, Trump und die Demokratie

Sowohl Trump als auch Aiwanger erzählen die Geschichte einer Hexenjagd, deren Opfer sie seien. Belege dafür bleiben sie schuldig. Solche Erzählungen können die Demokratie zerstören, denn offenbar finden sie viele Anhänger unter den Bürgern, die mit dem Staat nicht zufrieden sind. Diese zerstörerische Gewalt wurde sichtbar bei der Erstürmung des Capitols am 6.1.2021 und bei der versuchten Stürmung des Bundestags am 29.8.2020.

2023: Demokratie oder Plutokratie?

Überall auf der Welt regiert das Geld. Wenn es anderswo ist, nennen wir es Oligarchie. Ich habe immer wieder den Verdacht geäußert, dass auch unsere Form der Demokratie im wesentlichen eine Geldherrschaft ist, und zwar von Anfang an. Wenn unsere feministische Außenpolitikerin der ganzen Welt etwas von den westlichen Werten erzählt, meint sie im Grunde die Werte einer Plutokratie.

2024: Das Relative

Auch wenn ich an den Leitspruch MAGA, Make America Great Again, von Donald Trump anknüpfe, um Trump geht es mir nicht. Die wirklichen Probleme sitzen viel tiefer. Diese werden in jüngerer Zeit auch verkörpert durch Clinton (Bill und Hillary), Bush junior, Obama und Biden, vor allem aber durch Ronald Reagan.

Ergänzender Kommentar:

Donald Trump sieht Amerika im Abstieg und will den Krieg in Europa beenden. Er könnte das Verschwinden des amerikanischen Imperialismus einleiten. Damit verbunden ist das Erstarken der US-Mittelklasse – Trumps Hauptziel, soweit ich sehen kann. Aber welch ein Tyrann und Lügner!

Andererseits haben wir Kamala Harris‘ Versprechen/Drohung, die hegemoniale Politik fortzuführen:

Als Oberbefehlshaber werde ich dafür sorgen, dass Amerika stets über die stärkste und tödlichste Kampftruppe der Welt verfügt.

Heute, mit der Wahl Donald Trumps zum 47. Präsidenten der USA, werden die Paradoxien des Westens deutlich sichtbar.

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Glaubenskampf im Namen der Aufklärung

In der Skeptikerbewegung habe ich schon manche Peinlichkeit erlebt. In der Auseinandersetzung mit dem seinerzeitigen Leiter des Zentrums für Wissenschaft und kritisches Denken hatte ich es mit jemandem zu tun, der Linientreue mit intellektueller Schärfe verband. Ich fand den Disput nervig,  manchmal peinlich, aber auch bereichernd.

Dann kam ein Putsch, von dem sich diese Gesellschaft offenbar nicht erholt hat. Das zeigt jetzt ein Artikel des Nikil Mukerji, nun Leiter des Zentrums für Wissenschaft und kritisches Denken, dessen Tonfall aber alles abgeht, was man von einem Skeptiker erwarten kann – eine weitere Peinlichkeit. Ich begnüge mich damit, ein paar Kostproben aus dem Text zu geben.

Scientific skepticism functions as part of society’s adaptive epistemic immune system.

Der Autor ist offenbar in dem Teil des gesellschaftlichen Organismus zuhause, der für die geistige Gesundheit des Ganzen sorgt; und da ist volle Wachsamkeit geboten, denn der angreifende Krankheitskeim ist besonders bösartig:

Recently, pseudoscience sympathizers, disguising themselves as skeptics. […] They infiltrated a skeptical organization—GWUP—through a metaphorical Trojan Horse and seized control.

Und darum geht es:

The Trojan Horse Strategy is not just theoretical. In 2023, pseudo-skeptics used it to gain temporary control of the German skeptical organization GWUP. […] They adopted skeptical views on topics like astrology and homeopathy, participated in debunking pseudoscientific claims, expressed support for scientific inquiry, and made friends in the community, thus avoiding detection. […] Pseudo-skeptics at GWUP sought to shut down all skeptical activities regarding woke ideology. They declared gender studies, postcolonial studies, queer studies, and similar fields “off-topic,” aiming to shut down GWUP’s epistemic vigilance regarding these areas. […] Death is always an unintended consequence of a pathogen’s interference with vital processes. In the case of woke pseudo-skepticism, death would have been the inevitable outcome for GWUP.

Diese Kriegsrhetorik ist abstoßend. Sie ist ein eklatanter Verstoß gegen die Seid-nett-zueinander-Regeln am Ende des Aufsatzes.

Dabei ist es so einfach: Mit dem Skeptiker-Instrumentarium, Kritischer Rationalismus genannt, lässt sich Wissenschaft bearbeiten, also all das, wofür man eine denkunabhängige und unveränderlich regelhafte Realität straflos voraussetzen darf. Das ist wohl das, was man unter „The organization’s mission“ verstehen muss.

Wer bei diesem einmal gewählten engen Denkrahmen bleiben will, was ich für zulässig halte, sollte keine Urteile über Dinge abgeben, die über den Denkrahmen hinausreichen; dazu gehören nun einmal gesellschaftliche Fragen, die Gegenstand der Wokeness-Bewegung sind.

Die Skeptikergesellschaft scheint noch nicht von allen guten Geistern verlassen zu sein, wie ein interner Kommentar zu dem genannten Artikel zeigt:

Ich frage mich allerdings, ob Nikil da nicht selber eine handfeste Verschwörungstheorie fabriziert.

Mancher Kommentar zum Aufsatz selbst, erschienen im Blog von Michael Shermer, geht in dieselbe Richtung:

This kind of language implies that those who disagree are irrational or mentally unwell, while positioning oneself as enlightened and immune to such thinking.

Auch Positives zum Artikel lässt sich dort finden.

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Links blinken, rechts abbiegen

Das Thema Propaganda lässt mich nicht los. Die europäischen Kriege, in denen eine nicht dem Territorium Europas zugehörige Macht Hauptakteur ist, zeigen, wie wichtig das Thema ist. In der Diskussion zum letzten Artikel kam zur Sprache, wie eng Kriege und Klimakrise miteinander verwoben sind. Fangen wir mit dem Klima an.

Der gute Wille ist da

Aus dem Freundeskreis erhalte ich die gut gemeinte Aufforderung, ich möge mich gegen den Klimawandel zusammen mit anderen mächtig ins Zeug legen. Die Anregung dazu gab ein TED-Vortrag von Johan Rockström

Der erste und größte Teil dieses Vortrages bringt Variationen über einen allgemein bekannten Sachverhalt, den Friedrich Engels in diese prägnanten Worte gefasst hat:

Schmeicheln wir uns indes nicht zu sehr mit unseren menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solcher Siege rächt sie sich an uns.

Rockström meint, dass das Erdsystem immer größere Rechnungen an die Gesellschaften auf der ganzen Welt schicke: in Form von Dürren, Überschwemmungen, Hitzewellen. Das fange an, weh zu tun, sowohl in Bezug auf die sozialen Kosten für die Menschen als auch die wirtschaftlichen Kosten.

Das macht uns betroffen und wir wissen auch, was zu tun ist: Wir müssen den Gürtel enger schnallen. Aber keiner nimmt das so richtig ernst und ein „jeder fummelt am Gürtel des Nachbarn herum“ (Norbert Blüm, 1935-2020).

Das Fazit ist, dass sich kaum jemand gegen den Klimawandel ins Zeug legt. Ernst Friedrich Schumachers Parole von 1973 „Small is beautiful“ hat in unserer Gesellschaft keine Chance. Die Fortschrittsapologeten treten ans Mikrofon und erklären uns, dass auch weiterhin wirtschaftliches Wachstum wie gewohnt möglich sei, dank der zu erwartenden Innovationen.

Overshoot

So scheint auch Johan Rockström zu denken. Er verweist auf das Unvermeidliche, nämlich, dass wir die auf der UN-Klimakonferenz in Paris 2015 vereinbarte Schranke für den Temperaturanstieg nicht einhalten können. Aber er macht Hoffnung: Nach einem vorübergehenden leichten Überschießen des globalen Temperaturanstiegs könnten wir das 1,5 Grad Ziel doch noch erreichen.

Overshoot

Dem aufmerksamen Konsumenten des TED-Videos wird nicht entgehen, dass der „optimistische Realist“ Rockström, was die Rettung der Erde angeht, einen ungedeckten Wechsel präsentiert. Er spricht von CO2-Absorption und meint damit vermutlich eine Technik, die unter Carbon-Capture firmiert. Rockström demonstriert das anhand einer Grafik, die ab Minute 13:10 unter dem Titel „Overshoot“ erscheint.

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Militarismus ist gut für dich!

The easiest way to inject a propaganda idea into most people’s minds is to let it go through the medium of an entertainment picture when they do not realize that they are being propagandized.

Elmer Davis

Seit dem 24.2.2022 vergeht kaum ein Abend, ohne dass uns das deutsche Fernsehen mit Bildern von Panzern in voller Fahrt und feuerspeienden Raketenwerfern bombardiert – alles mit dem Unterton von Effizienz und Wirksamkeit für die Sache der „Guten“. Für mich ist das Gehirnwäsche. In meiner Kindheit in der DDR habe ich gegen so etwas eine Übelkeit entwickelt („Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!“).

Kampfpanzer Leopard 2 A5 bei einer Lehr- und Gefechtsvorführung.

Für das, was hier passiert, hat J. William Fulbright im Kalten Krieg passende Worte gefunden. Damals ging es um ein Abwehrsystem gegen ballistische Raketen (ABM), die Worte scheinen aber zeitlos zu sein, ich übertrage sie auf deutsche aktuelle Verhältnisse (Fulbright, 1970, S.11)1:

Es ist eine Sache, wenn das Militär Regierung und Parlament in Fragen der nationalen Verteidigung berät; das ist ein Teil seiner Aufgabe. Eine ganz andere Sache ist es, eine konzertierte landesweite Propaganda- und PR-Kampagne zu starten, um die Unterstützung der Öffentlichkeit und des Parlaments für ein Programm zu gewinnen, dessen Wirksamkeit und Gültigkeit fraglich ist… Und das alles, um die öffentliche Meinung zu formen und den Eindruck zu erwecken, dass der Militarismus gut für sie ist.

Manch 68er erinnert sich an Senator James William Fulbright (1905-1995) als Namensgeber der Fulbright-Stipendien und Studenten-Austauschprogramme.

Fulbright sieht die Notwendigkeit von Regierungspropaganda, aber er zieht enge Grenzen. Er nennt das, was die Regierung liefern sollte, Information und nicht Propaganda. Und er sieht Grenzüberschreitungen (S.20)2:

Die Macht der Regierenden beruht auf dem Volk, das wissen muss, was die Regierenden tun, was sie zu tun gedenken und mit welchen Problemen sie konfrontiert sind. […] Um dieses Bedürfnis der Öffentlichkeit und der Exekutive zu befriedigen, haben die aufeinanderfolgenden Verwaltungen einen Public-Relations-Apparat aufgebaut, der inzwischen ein atemberaubendes Ausmaß angenommen hat.

Bereits in der Frühzeit des Films wurde dieses Medium für Militärpropaganda genutzt. Daniel Dancis (2018) berichtet von einem Meilenstein der Filmgeschichte, einem gewaltigen Werk aus der Zeit des Stummfilms3:

1915 erhielt der Filmpionier D.W. Griffith technische Beratung und alte Artilleriegeschütze von der US-Militärakademie für die Dreharbeiten zu The Birth of a Nation, dem ersten abendfüllenden Film mit einer Länge von 186 Minuten. Es war der erste Blockbuster, der lange Schlangen vor den Kinokassen auslöste. Der Film löste auch Kontroversen aus. Basierend auf dem Buch The Clansman von Thomas Dixon Jr. stellt The Birth of a Nation den Ku-Klux-Klan als Helden des Südens während des Bürgerkriegs und des Wiederaufbaus dar, was viele dazu veranlasste, den Film zu boykottieren und gegen seine Veröffentlichung in den Kinos zu protestieren. Neun Jahre später, für die Dreharbeiten zu America im Jahr 1924, wandte sich Griffith erneut an das Militär und erhielt mit Genehmigung des Kriegsministers John Weeks die Leihgabe von mehr als tausend Kavalleristen, um eine Schlachtszene aus dem Revolutionskrieg nachzustellen.

Ein aktuelleres Beispiel für Pentagon-Propaganda ist der Film Top Gun mit Tom Cruise aus dem Jahre 1986 (Wikipedia, 6.10.2024):

Die US-Marine profitierte stark von ihrer Unterstützung des Films: Neben einer Aufpolierung des Images konnte man nach dem Kinostart die meisten neuen Rekruten seit Jahren verzeichnen. Dabei waren Rekrutierungskabinen behilflich, die extra in zahlreichen Kinos in den Staaten aufgebaut wurden, weil man so Zuschauer, die noch vom Film aufgeregt waren, direkt nach der Sichtung fürs Militär gewinnen konnte.

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Paradoxien des Westens

Dieser Artikel hätte eigentlich gestern erscheinen sollen, wegen der Symbolik. Aber es war zu viel Arbeit. Eigentlich ist der 9. November das wichtigere Datum. Es war 1989 und ich war glücklich.

–– Gedankensprung ––

Die Paradoxien des Westens sind eine ziemlich angelsächsische Angelegenheit. Sie haben ihren Ursprung in der Aufklärung (John Locke) und sie wurden mit der Gründung der USA zugespitzt. Ich nenne die Paradoxien beim Namen:

1 Demokratie
2 Sendungsbewusstsein

Über Begriffe

Sendungsbewusstsein ist laut Brockhaus Leipzig 2005

die in einer Person, einem sozialen, religiösen oder polit. Verband ausgebildete Überzeugung, dass die eigenen Wertvorstellungen, Lehren oder politisch-sozialen Ordnungen auch für andere Menschen, Gruppen oder Völker verbindlich sein sollten. Sendungsbewusstsein ist oft ein konstitutiver Bestandteil einer Ideologie und dient vielfach als Rechtfertigungsgrund für Expansionsbestrebungen politischer, religiöser, kultureller, wirtschaftlicher und militärischer Art.

Wenn man

unter Ideologie jedes System von Ideen, Meinungen und Werten versteht, das Gruppen zur Legitimation ihrer eigenen Handlungen und zur Beurteilung der Handlungen Fremder benutzen,

dann ist die durch 1 und 2 beschriebene Denkwelt, nämlich unsere westliche, eine Ideologie. Eine solche Zuschreibung ist folglich nicht den illiberalen, totalitären Systemen vorbehalten. Damit ist eine Symmetrie hergestellt, die zu einem unverstellten Blick auf unsere eigene Lebenswirklichkeit verhelfen kann.

Paradoxien (Watzlawick, 1969/2000) sind die Essenz des modernen Lebens. Als Popperianer mag ich sie nicht, aber Hegel lehrt uns, dass wir Widersprüche akzeptieren und produktiv umsetzen müssen. Anders als bei Kant habe ich mich an Hegel noch nicht so richtig herangetraut. Deshalb nehme ich die Abkürzung über Popper (1958/1980, S. 51):

Aber was wir unsere eigene Vernunft zu nennen belieben, das ist nichts anderes als das Produkt dieser sozialen Erbschaft, das Produkt der historischen Entwicklung der sozialen Gruppe, in der wir leben, der Nation. Diese Entwicklung schreitet dialektisch, das heißt in einem Dreitaktrhythmus fort. Zuerst wird eine Thesis vorgeführt; aber sie produziert Kritik; Opponenten, die ihr widersprechen, behaupten ihr Gegenteil, eine Antithesis; und aus dem Konflikt dieser Ansichten entsteht eine Synthesis, das heißt eine Art Einheit der Gegensätze, ein Kompromiss oder eine Versöhnung auf einer höheren Ebene. Diese Synthese absorbiert gleichsam die beiden ursprünglich entgegengesetzten Positionen, indem sie sie überwindet.

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Liberal, illiberal, ganz egal?

Selbstverständlich ist es nicht egal: Liberales Wirtschaften fördert andere Ergebnisse zutage als illiberales; darum wird es mir jetzt gehen. Welches Wirtschaften vorzuziehen ist, bewerte ich nicht. Insofern ist es doch egal.

Das Smartphone ist eine süße Verlockung, der auch ich erliege. Dabei vergessen wir gerne, dass wir damit einen Großteil unserer Autonomie aufgeben. Die heutige allgegenwärtige Internetnutzung verbunden mit der überbordenden Werbung konnte nur in einer weitgehend unregulierten Gesellschaft entstehen. Die informationelle Selbstbestimmung ist zu einer hohlen Phrase geworden. Wir begeben uns weitgehend in die Verfügungsgewalt von ein paar wenigen Superreichen, die in ausdrücklicher Gegnerschaft zu jeglicher Regulierung stehen; Neoliberalismus nennt sich das.

Dabei ist der Autonomieverlust durch Propaganda keine Erscheinung, die erst durch das Internet aufgetreten ist. Im letzten Artikel war vom Propagandamodell die Rede, das sich seit dem Zweiten Weltkrieg zur vollen Reife entwickelt hat.

Wenn wir unter Moral ein Regelwerk verstehen, das dauerhaftes Wohlergehen aller sichern soll, hat sich der Liberalismus an diese Stelle ein paar Minuspunkte verdient. Diktaturen als Beispiele illiberaler Gesellschaftsordnungen sind nicht besser, wie jeder von uns aus der Presse weiß. Ich werde mir Bewertungen verkneifen und auch nicht den kategorischen Imperativ Kants zitieren.

An ein paar Beispielen, teils eigenes Erleben, will ich zeigen, dass die Zuordnung, liberal ist gut und illiberal ist böse, dem eigenen Glaubenssystem entspringt und ansonsten nichts taugt.

1. Das Königreich Preußen war ein illiberales, System. Ihm haben wir die Industrialisierung unseres Landes zu verdanken – auch mittels Industriespionage im liberalen England. Es folgte der Siegeszug des Verbrennermotors und des Automobils. Auf der Lastenseite steht die Klimakrise. Hier Moralpunkte zu vergeben, fällt schwer.
2. Die Kerntechnik ist weltweit sehr stark reguliert. Wie auch im Flugverkehr sind die Sicherheitsstandards hochentwickelt. Ein Triumph der Bürokratie, jedenfalls nicht des Liberalismus.
3. Anders in der Autoindustrie. Vor vielen Jahren habe ich für eine Fachtagung zum Thema Sicherheitstechnik in der Automobilindustrie einen Festvortrag gehalten. Ich war erstaunt über die dort offenbare Rückständigkeit, gemessen am Stand der kerntechnischen Sicherheit. Als Begründung wurde mir gesagt, dass die Automobilfirmen in Konkurrenz zueinander stünden und folglich Standardisierungen und sicherheitstechnische Normen keine große Aufmerksamkeit genössen.
4. Meine Arbeitgeber in den 70er Jahren haben nicht nur Großanlagen, wie die Gepäckbeförderungsanlage des Frankfurter Flughafens, Schnellboote und Kernkraftwerke gebaut, sondern auch Produkte für den allgemeinen Markt, wo Konkurrenz wirksam wird. Damals war ich auch im Vorfeld der Normung tätig. In solchen Gremien waren alle großen ET-Firmen vertreten: Siemens, SEL, AEG, BBC. Die Begeisterung für die Verabschiedung der Arbeitsergebnisse in Form von Normen war äußerst gering. Den Grund verriet mir ein Kollege, die unterschwellige Firmenmaxime nämlich: Einmal bei BBC gekauft, immer bei BBC gekauft. Anstelle von BBC könnte auch jeder andere Firmenname stehen.
5. Später als Professor habe ich dann geholfen, zwei Standardisierungsvorhaben zuende zu bringen. Eines der Standardisierungsvorhaben betrifft die Begriffsbildung in der Zuverlässigkeits- und Sicherheitstechnik und ist meines Erachtens erfolgreich. Das andere betrifft die Kommunikation in der Automatisierungstechnik und ist wohl ein Flop. Der Wettbewerb zwischen den Firmen spielt im ersten Fall eine geringe, im zweiten eine große Rolle. [tg: Diesen 5. Punkt geändert am 11.9.2024]

Wegbereiter der Industrialisierung Preußens war Christian Peter Wilhelm Beuth (1781 bis 1853). Der Verlag, in dem das deutsche Normungswerk (DIN) erscheint, trägt auch heute noch seinen Namen. Normung ist ein illiberales Element in unserer Gesellschaft, aber es nützt dem Verbraucher.

Mit Interesse verfolge ich die Entwicklung der Ladeinfrastruktur für Elektroautos. Der Abstand der Ladestationen und die Ladedauer sind kritische Parameter. Vor Jahren fragte ich mich, ob man mit Einheitsbatterien, die man einfach austauscht, einen Teil der Probleme loswerden könnte. Die Ladedauer spielt dann keine Rolle mehr.

Eine andere Lösung ist eine Zwischenspeicherung nach dem Klospülungsprinzip: An der Tankstelle gibt es einen Zwischenspeicher, der langsam geladen werden kann und der bei Bedarf seine Ladung schnell an das Automobil abgibt.

Der Regulierungsbedarf ist bei der ersten Lösung höher als bei der zweiten. China hat seit einiger Zeit Wechselbatterien im Angebot. Bei Mercedes quält man sich mit der zweiten Variante herum, wobei klar ist, dass durch die Zwischenspeicherung zusätzliche Energieverluste entstehen, der Wirkungsgrad des Gesamtsystems also geringer ausfällt. Das ist der Preis des Liberalismus.

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Orientierungshilfe – in eigener Sache

Von wohlmeinenden Kommentatoren bekomme ich viele Hinweise und Links auf Webseiten von Debunkern und Influencern, die zu meinem Hoppla!-Blog passen könnten. Mein Anspruch ist, dem Leser einen halbwegs verlässlichen Anlegeplatz für Meinungen zu bieten, der von gezielten Fehlinformationen möglichst freigehalten wird, denn ich möchte nicht zur Bildung von Echokammern beitragen.

Damit wird die Flut von Internetlinks tatsächlich zu einem Problem. Eine durchgängige Prüfung auf Angemessenheit ist mir nicht möglich; ich bin ja keine Nachrichtenagentur. Das Blog soll nur einen Teil meine freien Zeit in Anspruch nehmen. Deshalb verfolge ich von Anfang an diese Strategie:

  1. Ich bringe nur Sachen, die mich interessieren.
  2. Ich identifiziere ein paar Ankerplätze, wo ich mich sicher mit Nachrichten und Meinungen versorgen kann.
  3. Die Zahl der Ankerplätze wird vorsichtig erweitert.
  4. Unerlässlich ist die Zurückführbarkeit aller übernommenen Aussagen auf ihre originalen Quellen.
  5. Der Leser bekommt jede Hilfestellung, so dass er diese Quellen auch tatsächlich auffinden kann.

Ich schau mir erst einmal die Ergüsse der Leute an, zu denen ich bereits Vertrauen gefasst habe. Unter anderem orientiere ich mich an Büchern von Julian Nida-Rümelin und Bernhard Pörksen. Viele Hinweise auf Unverfälschtes kann man auch in den Mainstream-Medien finden. Warum das so ist, hat Noam Chomsky in seinem Buch Manufacturing Consent unter dem Stichwort Propagandamodell erklärt (1988/1994, S. 303):

Ein Propagandamodell hat eine gewisse anfängliche Plausibilität auf der Grundlage von Prämissen der freien Marktwirtschaft, die nicht besonders umstritten sind. Im Wesentlichen sind die privaten Medien große Unternehmen, die ein Produkt (Leser und Zuschauer) an andere Unternehmen (Werbekunden) verkaufen. Die nationalen Medien richten sich in der Regel an eine Meinungselite, die einerseits ein optimales „Profil“ für Werbezwecke liefert und andererseits eine Rolle bei der Entscheidungsfindung im privaten und öffentlichen Bereich spielt. Die nationalen Medien würden den Bedürfnissen ihres elitären Publikums nicht gerecht werden, wenn sie nicht ein einigermaßen realistisches Bild der Welt zeichnen würden. Ihr „gesellschaftlicher Zweck“ erfordert aber auch, dass die Interpretation der Welt durch die Medien die Interessen und Anliegen der Verkäufer, der Käufer und der von diesen Gruppen beherrschten staatlichen und privaten Institutionen widerspiegelt.

(A propaganda model has a certain initial plausibility on guided free-market assumptions that are not particularly controversial… Übersetzt mithilfe von DeepL)

Das Entlarven von Manipulanten, auch von staatstragenden, ist meine Leidenschaft. Dazu genügt ein wenig Logik zur Aufklärung von inneren Widersprüchen und der Zugang zu maßgebenden Dokumenten. Solche Zugänge hat uns das Internet in den letzten Jahrzehnten enorm erleichtert. Ich muss mich nicht auf zufällig entdeckte Influenzer und Debunker verlassen. Zufallsfunde enthalten oft interessante Hinweise; die nehme ich gern zur Prüfung an.

Diese Vorsichtsmaßnahmen sind ein wirksamer Schutz auch gegen
Astrotufing-Kampagnen im Internet.

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Das Relative

Auch wenn ich an den Leitspruch MAGA, Make America Great Again, von Donald Trump anknüpfe, um Trump geht es mir nicht. Die wirklichen Probleme sitzen viel tiefer. Diese werden in jüngerer Zeit auch verkörpert durch Clinton (Bill und Hillary), Bush junior, Obama und Biden, vor allem aber durch Ronald Reagan.

Die Verheißung

Ich werde jetzt persönlich und erzähle, warum ich die amerikanische Lebensweise einmal ganz toll fand, und später dann nicht mehr. Der Denkrahmen änderte sich allmählich und damit auch der Blick auf die Welt. Das Absolute verblasste und machte dem Relativen Platz.

Fangen wir mit meinen ersten zehn Jahren an, die ich in der DDR zugebracht habe: Ich war etwa acht und hatte alte Versicherungsformulare im Keller gefunden. Da waren Hakenkreuze drauf. Ein interessantes Muster, fand ich. Damit habe ich viele Seiten eines Heftes bemalt. Eine Lehrerin hat das entdeckt und gemeldet. Mir war nicht klar, worum es in der daraufhin tätig werdenden Kommission genau ging. Man unterzog mich einer eingehenden Befragung. Ich musste etwas Verabscheuenswürdiges gemacht haben. Bestraft aber hat man mich nicht, sondern mit einer mir unangenehmen Zudringlichkeit ermahnt. Das war die »Entnazifizierung eines Achtjährigen« – ein bedrückendes und unauslöschliches Erlebnis.

Als wir auf dem Bahnhof einer oberfränkischen Kleinstadt standen, es war 1955, sagte Mutter, eine wirklich mutige Frau, zu uns Kindern: Wir bleiben jetzt im Westen. Drei Gedanken durchfuhren mich: Verflixt, dein Akkordeon kannst du vergessen, den neu gewonnenen Freund auch. Aber jetzt bist du frei. Ja: Ein Zehnjähriger kann offenbar so etwas Abgehobe­nes wie die Freiheit fühlen und schätzen.

Ich war glücklich, angekommen zu sein. Hier gab es die freundlichen Amerikaner mit ihren riesigen Straßenkreuzern. Die USA erschienen uns als das verheißene Land.

Ernüchterung

Dem gerade erst zum Teenager gewordenen Jungen fiel Das Beste aus Readers Digest in die Hände. Der DDR entronnen, waren die Geschichten willkommenes Lesefutter. Ich erinnere mich an den Tipp meines Lebens: Unter der kalten Dusche konzentriert ausatmen. Auch die Geschichte von dem Mann, der zweimal den Eiffelturm verkaufte, ist haften geblieben. Aber da war auch diese überspannte Agitation gegen den Kommunismus, dem mit der Domino Theorie ungebremster Imperialismus unterstellt wurde. Ein Blick auf die Weltkarte und die Einflusssphären von NATO und Warschauer Pakt zeigten, dass die Rollenverteilung nicht so eindeutig war, wie von Readers Digest beschrieben. Ich begann, an den Verheißungen zu zweifeln.

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Das Absolute

Es gibt keinen rationalen Zweck, keine noch so richtige Norm, kein noch so vorbildliches Programm, kein noch so schönes soziales Ideal, keine Legitimität oder Legalität, die es rechtfertigen könnte, dass Menschen sich gegenseitig dafür töten.

Carl Schmitt (S. 46)

Wer verabsolutiert, will seinem Bekenntnis absolute Gültigkeit zumessen, es zum allein gültigen Maßstab erheben. Das Verabsolutieren findet nur im Kopf statt und ist die Ursache für manches Elend auf dieser Welt, denn echte Feindseligkeiten sind leichter zu befrieden als erdachte.

Der Einzug der Juden in das gelobte Land begann wohl als regional begrenzte Eroberung. Richtig übel wurde es, als Gott sich einmischte, das Geistige, das Wort (2. Mose 23, 20-33). Inzwischen wurde das Wort Gottes abgelöst durch die Aufklärung, mit derselben imperialistischen Stoßrichtung.

Alles unter dem Himmel

Die Auflösung aller internationalen Streitigkeiten in weltweite Wohlfahrt westlicher Machart, das Ende der Geschichte, hat es nicht gegeben, anders als von Francis Fukuyama 1989 prophezeit. Unsere Wirklichkeit ist ein Kampf der Kulturen.

Ein Beispiel dafür, wo sich reale Interessen mit Ideologie paaren und sich die ideologischen Differenzen als die wesentlich haltbareren erwiesen haben, ist der 30-jährige Krieg. Das Materielle wurde mit dem Westfälischen Frieden erledigt. Aber noch heute führt die Frage, ob beim Abendmahl der Wein tatsächlich zum Blut Christi wird, oder ob Christus nur anwesend ist (Transsubstantiation vs Konsubstantiation), zu tiefen Zerwürfnissen. Den Unterschied habe ich nicht richtig verstanden, bei Glaubensinhalten scheint es aber auch nicht nötig zu sein, Hauptsache, sie definieren eine Gemeinde, deren Innen und deren Außen.

In den USA wird die Ideologisierung der Schwangerschaftsabbrüche zum wohl entscheidenden Wahlkampfthema, in erster Linie ein Glaubenskampf: Roe vs Wade. (Der Spiegel Nr 32/3.8.2024, S. 58-60).

In meinen 15 Jahren bei der GWUP habe ich erfahren, wie rein praktische Fragen wie die, ob Homöopathie wirkt oder nicht, durch Ideologie zu Glaubensfragen erhoben werden, was die giftigsten Angriffe und Gegenangriffe rechtfertigt und sogar zu persönlichen Feindschaften führt.

Da die meisten Menschen den Frieden dem Krieg vorziehen, liegt es nahe, nach Alternativen zur westlichen Denkweise Ausschau zu halten. Schon die Hippies der 60er Jahre suchten den Frieden im Osten. Könnte das östliche Denken uns heute einen Weg in eine friedliche Weltordnung zeigen? Ich greife den Vorschlag von Rainer Gebauer auf und werde jetzt versuchen, meine Gedanken entlang der Linien des Buches von ZHAO Tingyang zu ordnen: Alles unter dem Himmel.

Die Menschenrechtsideologie auf dem Prüfstand

Dem westlichen Denken eigen ist die Trennung, die Dichotomie: Innen und außen, Subjekt und Objekt, Freund und Feind, Krieg und Frieden, Gut und Böse; bei Descartes sind es Körper und Geist.

Fortschrittsmotor ist der Konkurrenzkampf, ganz im Sinne der Evolutionslehre von Charles Darwin. Er ist ohne die Trennung von Innen und Außen undenkbar. Selektionseinheiten sind Individuen, Sippen, Gruppen und Staaten.

Der Staat benötigt für den inneren Zusammenhalt das Außen, den Feind. Carl Schmitt schreibt (S. 11): Das Klassische am Modell einer nach innen geschlossen befriedeten, nach außen geschlossen als Souverän gegenüber Souveränen auftretenden politischen Einheit sei

die Möglichkeit eindeutiger, klarer Unterscheidungen. Innen und außen, Krieg und Frieden, während des Krieges Militär und Zivil, Neutralität oder nicht Neutralität, alles das ist erkennbar getrennt und wird nicht absichtlich verwischt.

ZHAO schreibt auf Seite 19:

In ihrer Gier sehnen sich die Menschen nach einer Welt, in der sämtliche guten Dinge verwirklicht sind, wie zum Beispiel Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Gerechtigkeit, Güte, Frieden, größtmöglicher materieller Reichtum, Fehlen von Ausbeutung und Unterdrückung, Klassenlosigkeit, Selbstverwirklichung, Abwesenheit von Entfremdung und das Glück eines jeden.

So gesehen (Schmitt und ZHAO zusammen) gibt es Menschen, für die die Verheißungen der Menschenrechte gelten, und solche, für die das eben nicht gilt.

Ähnlich klingen die Versprechungen der Unabhängigkeitserklärung der USA. Fortschrittsapologeten machen uns weis, sie seien für jeden erreichbar. Tatsächlich gilt das aber nur für wenige. Genau die sind es, die uns, die Masse, mit den Fortschrittserzählungen beruhigen. Ein Blick auf die Faktenlage ist ernüchternd:

  1. Die Ungleichheit in der Einkommensverteilung wird immer größer.
  2. Die Wirtschaft wächst, der Wohlstand nicht.

Es geht nicht um die reichsten 10% oder 1% der Bevölkerung. Interessant ist, dass die reichsten 0,1% der Bevölkerung über 20% des Gesamtvermögens besitzen.

Auf die Spitze getrieben wird die westliche Weltsicht mit dem Erstarken des Neoliberalismus in der Ära von Ronald Reagan und Margaret Thatcher, also seit etwa 1980. Propagiert wird diese Haltung durch eine Reihe von Think Tanks, die im Atlas Network zusammengeschlossen sind. Besonders hervorstechend ist die Heritage Foundation, die unter anderem das Project 2025 formuliert hat,

einen Plan, der so radikal ist, dass sich vor einigen Tagen sogar Trump davon distanziert hat.

(Der Spiegel 33/10.8.2024, S. 72)

Die Stoßrichtung des Atlas-Netzwerks offenbart sich in der Namensgebung: Namenspatin ist Ayn Rand mit ihrem Buch Atlas Shrugged, das ich im Artikel Toleranz besprochen habe.

Die Kostenseite dieser Weltsicht ist unübersehbar, aktuell in der Ukraine. Für die Massen bringt sie wenig, für viele sogar Krieg, Elend und Unterdrückung; sie führt ohne Umweg in den Imperialismus, der vor allem den Eliten nützt. Die quasi religiöse Verehrung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) durch die selbsternannten Humanisten ist so gesehen entweder naiv oder geheuchelt.

Um es noch einmal zu betonen: Mein Ziel ist nicht die Verunglimpfung der Menschenrechte, allein die universalistische Begründung der Menschenrechte steht auf dem Prüfstand.

Die Illusion einer Einen Welt

Das Scheitern des Westens am Projekt eines Humanismus für die ganze Welt, wird im Osten nicht ungern gesehen und man weiß auch, woran das Scheitern liegt. Im Buch Alles unter dem Himmel von ZHAO Tingyang finden sich Variationen der eben vorgebrachten Argumente gegen den Universalitätsanspruch der Menschenrechte und auch neue Aspekte.

ZHAO bietet uns zwar eine treffliche Analyse des westlichen Denkens, aber er scheitert an der Demonstration, dass diesem Denken das östliche, das kaiserlich-chinesische, vorzuziehen sei.

In diesem Denken gibt es kein Innen und Außen, sondern nur ein Innen, nämlich „Alles unter dem Himmel“. In dieser Einen Welt wirkt das Gen der Kooperation (S. 18), die Voraussetzung für allgemeine Wohlfahrt. Diese Internalisierung (S. 213)

gibt Hoffnung auf die Errichtung einer Weltordnung allgemeiner Teilhabe.

Die Menschenrechte werden, Kant folgend, mit Vernunft begründet. Sie haben demzufolge universelle Gültigkeit. ZHAO begründet seine Sicht der Einen Welt so:

Offensichtlich kann Konflikt sich nicht automatisch in Kooperation verkehren, es sei denn, es existiert von Beginn an irgendein Grundelement, ein Gen der Kooperation.

Das klingt nach absoluter Wahrheit und den Anspruch auf universelle Gültigkeit. In meinem Buch zeige ich, dass in einer Welt aus lauter Egoisten Kooperation entstehen kann, und zwar allein durch Evolution und allein nach den Prinzipien von Zufall und Notwendigkeit. Ein Kooperationsgen von Anfang an ist also nicht vonnöten.

Damals flog mein Pfeil in Richtung Intelligent Design, jetzt geht’s gegen eine andere Weltanschauung mit Absolutheitsanspruch.

Die Evolutionsbiologie lehrt uns, dass alles Leben das Ergebnis von Konkurrenzkämpfen ist. Diese bringen alle möglichen Lebensformen und Verhaltensweisen hervor und eben auch die Kooperation.

Meines Erachtens völlig daneben liegt ZHAO mit seiner Definition des konfuzianischen Optimums, das er mit dem „westlichen“ Pareto-Optimum vergleicht. Das Pareto-Optimum verlangt, dass sich die Nutzensteigerung x+ für irgendeine erson in einer Nutzenminderung y- für eine anderer Personen niederschlägt. Demgegenüber besagt das konfuzianische Optimum,

dass an einer Nutzenverbesserung stets alle an der Angelegenheit beteiligten Personen partizipieren müssen:

also x+ und y+ (S. 41). Das ist natürlich kein Optimum, denn alles kann ja für alle
noch besser werden. Das geht so lange, bis die Grenze erreicht ist. Und dann geht der Streit los, die Gier erwacht.

ZHAOs Ansatz der Einen Welt ist genauso Metaphysik wie die Universalisierung der Menschenrechte, ein reines Konstrukt der Gedanken, nicht beweisbar, nicht widerlegbar und nach allen Erfahrungen realitätsfern. Auch in China scheint das Streben nach einem Ideal Unmenschliches hervorzubringen.

Fazit

Sowohl diese Universalisierung des Gemeinsinns als auch die Universalisierung der Menschenrechte sind Ideologien, Glaubensangelegenheiten also; sie dienen der Propaganda. Es sind die Erzählungen, mit denen die Eliten uns, die Massen, gefügig halten.

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Verschaukelt

Im Hoppla!-Artikel Federalist 10 schreibe ich davon, wie bereits die Gründerväter der westlichen Demokratie bemüht waren, die Masse der Bevölkerung von der Macht fernzuhalten. Tatsächlich aber lassen wir uns gerne einlullen mit einer Propaganda, die das westliche Wertesystem lobpreist und dessen Kosten verschweigt. Alfred Grosser sagte bei einem Auftritt hier in Fulda vor vielen Jahren: „Ich will schon wissen, mit welcher Soße ich verspeist werde.“ Und in diesem Punkt ist unsere offene Gesellschaft großzügig, denn sie muss ja den Schein wahren. Wenn wir die Augen offen halten, können wir sehen, wie wir verschaukelt werden. Das Einzige, was uns abverlangt wird, ist, Bequemlichkeit und Denkfaulheit zu überwinden.

Der Verein Bund der Steuerzahler berichtet über das Vorhaben der Stadt Fulda, dem Schlossturm eine Krone aus Stahl aufzusetzen – für insgesamt 600.000 €. Von Verschwendung von Steuergeldern ist die Rede. Da wird der Bürger hellhörig und fühlt sich gut vertreten. Die Fuldaer Zeitung berichtet am 27.07.2024 von einer Reaktion der Stadt:

Stadtbaurat Daniel Schreiner scherte sich jedoch eher wenig um diese Einschätzung: Schließlich sei der Verein weder eine stattliche [gemeint ist wohl „staatliche“] noch eine neutrale Organisation, erklärte er damals.

Mein Kommentar dazu:

Die Demokratie lebt von der Illusion, das Volk habe etwas zu sagen. Wir danken dem Politiker, der uns die Augen öffnet, indem er uns zeigt, dass ihn Volkes Meinung nicht schert. Stadtbaurat Daniel Schreiner ist da vorbildlich: Er verteidigt die Krone für den Schlossturm, indem er die Kritiker, nämlich den Bund der Steuerzahler, herabwürdigt und nicht etwa, indem er sachliche Argumente für das Stahlding vorbringt.

Das ist das Schöne an unserer offenen Gesellschaft: Wir können sehen, wie wir verladen werden, wenn wir das überhaupt sehen wollen.

In den 60er Jahren hat man ziemlich klar gesehen, wohin die Reise geht:

Johannes Agnoli: Die Transformation der Demokratie. 1967

Mit dem extrem rechten Populismus in den USA und in Europa geht die Rückbildung der Demokratie in ein tiefes Tal:

Noam Chomsky, C. J. Polychroniou: Illegitimate Authority. 2023

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