Es gibt keinen rationalen Zweck, keine noch so richtige Norm, kein noch so vorbildliches Programm, kein noch so schönes soziales Ideal, keine Legitimität oder Legalität, die es rechtfertigen könnte, dass Menschen sich gegenseitig dafür töten.
Carl Schmitt (S. 46)
Wer verabsolutiert, will seinem Bekenntnis absolute Gültigkeit zumessen, es zum allein gültigen Maßstab erheben. Das Verabsolutieren findet nur im Kopf statt und ist die Ursache für manches Elend auf dieser Welt, denn echte Feindseligkeiten sind leichter zu befrieden als erdachte.
Der Einzug der Juden in das gelobte Land begann wohl als regional begrenzte Eroberung. Richtig übel wurde es, als Gott sich einmischte, das Geistige, das Wort (2. Mose 23, 20-33). Inzwischen wurde das Wort Gottes abgelöst durch die Aufklärung, mit derselben imperialistischen Stoßrichtung.
Alles unter dem Himmel
Die Auflösung aller internationalen Streitigkeiten in weltweite Wohlfahrt westlicher Machart, das Ende der Geschichte, hat es nicht gegeben, anders als von Francis Fukuyama 1989 prophezeit. Unsere Wirklichkeit ist ein Kampf der Kulturen.
Ein Beispiel dafür, wo sich reale Interessen mit Ideologie paaren und sich die ideologischen Differenzen als die wesentlich haltbareren erwiesen haben, ist der 30-jährige Krieg. Das Materielle wurde mit dem Westfälischen Frieden erledigt. Aber noch heute führt die Frage, ob beim Abendmahl der Wein tatsächlich zum Blut Christi wird, oder ob Christus nur anwesend ist (Transsubstantiation vs Konsubstantiation), zu tiefen Zerwürfnissen. Den Unterschied habe ich nicht richtig verstanden, bei Glaubensinhalten scheint es aber auch nicht nötig zu sein, Hauptsache, sie definieren eine Gemeinde, deren Innen und deren Außen.
In den USA wird die Ideologisierung der Schwangerschaftsabbrüche zum wohl entscheidenden Wahlkampfthema, in erster Linie ein Glaubenskampf: Roe vs Wade. (Der Spiegel Nr 32/3.8.2024, S. 58-60).
In meinen 15 Jahren bei der GWUP habe ich erfahren, wie rein praktische Fragen wie die, ob Homöopathie wirkt oder nicht, durch Ideologie zu Glaubensfragen erhoben werden, was die giftigsten Angriffe und Gegenangriffe rechtfertigt und sogar zu persönlichen Feindschaften führt.
Da die meisten Menschen den Frieden dem Krieg vorziehen, liegt es nahe, nach Alternativen zur westlichen Denkweise Ausschau zu halten. Schon die Hippies der 60er Jahre suchten den Frieden im Osten. Könnte das östliche Denken uns heute einen Weg in eine friedliche Weltordnung zeigen? Ich greife den Vorschlag von Rainer Gebauer auf und werde jetzt versuchen, meine Gedanken entlang der Linien des Buches von ZHAO Tingyang zu ordnen: Alles unter dem Himmel.
Die Menschenrechtsideologie auf dem Prüfstand
Dem westlichen Denken eigen ist die Trennung, die Dichotomie: Innen und außen, Subjekt und Objekt, Freund und Feind, Krieg und Frieden, Gut und Böse; bei Descartes sind es Körper und Geist.
Fortschrittsmotor ist der Konkurrenzkampf, ganz im Sinne der Evolutionslehre von Charles Darwin. Er ist ohne die Trennung von Innen und Außen undenkbar. Selektionseinheiten sind Individuen, Sippen, Gruppen und Staaten.
Der Staat benötigt für den inneren Zusammenhalt das Außen, den Feind. Carl Schmitt schreibt (S. 11): Das Klassische am Modell einer nach innen geschlossen befriedeten, nach außen geschlossen als Souverän gegenüber Souveränen auftretenden politischen Einheit sei
die Möglichkeit eindeutiger, klarer Unterscheidungen. Innen und außen, Krieg und Frieden, während des Krieges Militär und Zivil, Neutralität oder nicht Neutralität, alles das ist erkennbar getrennt und wird nicht absichtlich verwischt.
ZHAO schreibt auf Seite 19:
In ihrer Gier sehnen sich die Menschen nach einer Welt, in der sämtliche guten Dinge verwirklicht sind, wie zum Beispiel Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Gerechtigkeit, Güte, Frieden, größtmöglicher materieller Reichtum, Fehlen von Ausbeutung und Unterdrückung, Klassenlosigkeit, Selbstverwirklichung, Abwesenheit von Entfremdung und das Glück eines jeden.
So gesehen (Schmitt und ZHAO zusammen) gibt es Menschen, für die die Verheißungen der Menschenrechte gelten, und solche, für die das eben nicht gilt.
Ähnlich klingen die Versprechungen der Unabhängigkeitserklärung der USA. Fortschrittsapologeten machen uns weis, sie seien für jeden erreichbar. Tatsächlich gilt das aber nur für wenige. Genau die sind es, die uns, die Masse, mit den Fortschrittserzählungen beruhigen. Ein Blick auf die Faktenlage ist ernüchternd:
- Die Ungleichheit in der Einkommensverteilung wird immer größer.
- Die Wirtschaft wächst, der Wohlstand nicht.
Es geht nicht um die reichsten 10% oder 1% der Bevölkerung. Interessant ist, dass die reichsten 0,1% der Bevölkerung über 20% des Gesamtvermögens besitzen.
Auf die Spitze getrieben wird die westliche Weltsicht mit dem Erstarken des Neoliberalismus in der Ära von Ronald Reagan und Margaret Thatcher, also seit etwa 1980. Propagiert wird diese Haltung durch eine Reihe von Think Tanks, die im Atlas Network zusammengeschlossen sind. Besonders hervorstechend ist die Heritage Foundation, die unter anderem das Project 2025 formuliert hat,
einen Plan, der so radikal ist, dass sich vor einigen Tagen sogar Trump davon distanziert hat.
(Der Spiegel 33/10.8.2024, S. 72)
Die Stoßrichtung des Atlas-Netzwerks offenbart sich in der Namensgebung: Namenspatin ist Ayn Rand mit ihrem Buch Atlas Shrugged, das ich im Artikel Toleranz besprochen habe.
Die Kostenseite dieser Weltsicht ist unübersehbar, aktuell in der Ukraine. Für die Massen bringt sie wenig, für viele sogar Krieg, Elend und Unterdrückung; sie führt ohne Umweg in den Imperialismus, der vor allem den Eliten nützt. Die quasi religiöse Verehrung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) durch die selbsternannten Humanisten ist so gesehen entweder naiv oder geheuchelt.
Um es noch einmal zu betonen: Mein Ziel ist nicht die Verunglimpfung der Menschenrechte, allein die universalistische Begründung der Menschenrechte steht auf dem Prüfstand.
Die Illusion einer Einen Welt
Das Scheitern des Westens am Projekt eines Humanismus für die ganze Welt, wird im Osten nicht ungern gesehen und man weiß auch, woran das Scheitern liegt. Im Buch Alles unter dem Himmel von ZHAO Tingyang finden sich Variationen der eben vorgebrachten Argumente gegen den Universalitätsanspruch der Menschenrechte und auch neue Aspekte.
ZHAO bietet uns zwar eine treffliche Analyse des westlichen Denkens, aber er scheitert an der Demonstration, dass diesem Denken das östliche, das kaiserlich-chinesische, vorzuziehen sei.
In diesem Denken gibt es kein Innen und Außen, sondern nur ein Innen, nämlich „Alles unter dem Himmel“. In dieser Einen Welt wirkt das Gen der Kooperation (S. 18), die Voraussetzung für allgemeine Wohlfahrt. Diese Internalisierung (S. 213)
gibt Hoffnung auf die Errichtung einer Weltordnung allgemeiner Teilhabe.
Die Menschenrechte werden, Kant folgend, mit Vernunft begründet. Sie haben demzufolge universelle Gültigkeit. ZHAO begründet seine Sicht der Einen Welt so:
Offensichtlich kann Konflikt sich nicht automatisch in Kooperation verkehren, es sei denn, es existiert von Beginn an irgendein Grundelement, ein Gen der Kooperation.
Das klingt nach absoluter Wahrheit und den Anspruch auf universelle Gültigkeit. In meinem Buch zeige ich, dass in einer Welt aus lauter Egoisten Kooperation entstehen kann, und zwar allein durch Evolution und allein nach den Prinzipien von Zufall und Notwendigkeit. Ein Kooperationsgen von Anfang an ist also nicht vonnöten.
Damals flog mein Pfeil in Richtung Intelligent Design, jetzt geht’s gegen eine andere Weltanschauung mit Absolutheitsanspruch.
Die Evolutionsbiologie lehrt uns, dass alles Leben das Ergebnis von Konkurrenzkämpfen ist. Diese bringen alle möglichen Lebensformen und Verhaltensweisen hervor und eben auch die Kooperation.
Meines Erachtens völlig daneben liegt ZHAO mit seiner Definition des konfuzianischen Optimums, das er mit dem „westlichen“ Pareto-Optimum vergleicht. Das Pareto-Optimum verlangt, dass sich die Nutzensteigerung x+ für irgendeine erson in einer Nutzenminderung y- für eine anderer Personen niederschlägt. Demgegenüber besagt das konfuzianische Optimum,
dass an einer Nutzenverbesserung stets alle an der Angelegenheit beteiligten Personen partizipieren müssen:
also x+ und y+ (S. 41). Das ist natürlich kein Optimum, denn alles kann ja für alle
noch besser werden. Das geht so lange, bis die Grenze erreicht ist. Und dann geht der Streit los, die Gier erwacht.
ZHAOs Ansatz der Einen Welt ist genauso Metaphysik wie die Universalisierung der Menschenrechte, ein reines Konstrukt der Gedanken, nicht beweisbar, nicht widerlegbar und nach allen Erfahrungen realitätsfern. Auch in China scheint das Streben nach einem Ideal Unmenschliches hervorzubringen.
Fazit
Sowohl diese Universalisierung des Gemeinsinns als auch die Universalisierung der Menschenrechte sind Ideologien, Glaubensangelegenheiten also; sie dienen der Propaganda. Es sind die Erzählungen, mit denen die Eliten uns, die Massen, gefügig halten.
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