Seit Tagen erhalte ich über Google Newsfeed ostentativ die Meldung: »Uni Hamburg prüft Doktorarbeit von Brosius-Gersdorf.« Das scheint mir ein Fall von Meinungsmache zu sein, ein Beispiel für den Artikel Mit der Moderne kam die Gier
In dem Artikel geht es nur um die technischen Möglichkeiten solcher Meinungsmache. Der Fall Brosius-Gerdorf zeigt, wie man damit die Axt an die Wurzeln unserer Demokratie legen kann. Diese Bestrebungen gibt es von rechts und von links.
Was steht auf dem Spiel?
Im Artikel Quantenmystik schreibe ich:
Wir erinnern uns an die Gesellschaftsentwürfe des letzten Jahrhunderts mit ihren katastrophalen Konsequenzen. Auch diese beriefen sich jeweils auf ein neues Denken und auf absolute Ideen. Was dem einen System das »innerste Wollen der Natur« war, boten dem anderen die »Bewegungsgesetze der modernen Gesellschaft«.
Dass das Zusammenleben der Juden, Christen, Moslems, Atheisten, Esoteriker und der vielen anderen Menschen bei uns heute halbwegs störungsarm funktioniert, liegt an der durch Gewaltenteilung und durch Checks and Balances doch ziemlich oberflächlich strukturierten pluralistischen Gesellschaft. Jedwede Metaphysik, die alle bewegen und vereinnahmen will, ist aus der Mode gekommen und zunehmend ins Private abgedrängt worden.
Das Paradoxon der Demokratie
Gewaltenteilung steht in direktem Widerspruch zum Grundsatz der Demokratie, (Art 20 GG): »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.«
Nach unserem Verständnis gehört aber die Gewaltenteilung genauso wie die allgemeine geheime Wahl der Repräsetanten und die Freiheitsrechte zu den unabdingbaren Grundsätzen der Demokratie. Das ist paradox und gut so. Hegel freut’s.
Die Richterwahl muss weitgehend aus den tages- und parteipolitischen Zusammenhängen herausgelöst werden. Allein juristischer Sachverstand und die Bindung ans Grundgesetz sind gefragt. Das klingt vertrackt, aber es gibt Lösungen; diese sind in den USA und in Deutschland verschieden.
Nach welchen Regeln wird gespielt?
Christian Rieck nähert sich der Sache über die Spieltheorie. Bei der Wahl im Richterwahlausschuss gelten andere Regeln als für die Bundestagswahl. Rieck erklärt es am Ultimatumspiel. Die Parteien sind abwechselnd am Zug und können Vorschläge machen. Da der Vorschlag zur Annahme einer Zweidrittelmehrheit des Gesamtausschusses bedarf, ist die Partei bemüht, einen für die anderen Partein zustimmungsfähigen Vorschlag zu machen. Findet ein Vorschlag keine allgemeine Zustimmung, verstreicht das Ultimatum, was für alle hohe Kosten zur Folge hat. Man sieht, dass bei einem solchen Vorgehen für die Parteipolitik nicht viel zu holen ist. Was für den Ausschuss gilt, setzt sich im Bundestag fort. Dort ist ebenfalls eine Zweidrittelmehrheit erforderlich.
Anders läuft die Sache in den USA. Dort werden die Richter des obersten Gerichtshofs vom Präsidenten berufen – und zwar auf Lebenszeit. Auch dadurch wird eine gewisse Unabhängigkeit von der Tagespolitik hergestellt: Richter erleben aufgrund ihrer Amtsdauer im Normalfall mehrere Präsidenten und auch verschiedene politische Strömungen.
Was ist schief gelaufen
CDU und CSU haben die Richterwahl in die parteipolitische Diskussion gezerrt. Nicht die juristische Qualifikation der Kandidatin wird diskutiert. Es geht auch nicht um schwerste Verfehlungen. Ihre Auffassung zum Abtreibungsrecht wird zur Debatte gestellt, also etwas, das in die parteipolitische Diskussion gehört und nichts mit der Qualifikation als Richterin zu tun hat.
Wie in anderen Fällen wird auch mit Plagiatsvorwürfen öffentlich Jagd gemacht. Dass das schlimme Konsequenzen haben kann, haben wir im Fall des Karl-Theodor zu Guttenberg gesehen.
Dass bei Richtern des Bundesverfassungsgericht nur die juristische Qualifikation maßgeblich sein sollte, halte ich für ein Fehlurteil. Die Juristerei ist keine exakte Wissenschaft. Urteile sind geprägt von werturteilsgeleiteten Interpretationen. Das Bundesverfassungsgericht macht mit seinen Urteilen selbst Politik, und je aktivistischer die Richter eingestellt sind, desto schlimmer.
@ Pablo
Dass bei Richtern des Bundesverfassungsgericht nur die juristische Qualifikation maßgeblich sein sollte, ist gar kein Urteil, sondern nur eine gut begründete Meinung.
Als Verfassung wird „nur“ der grundlegende Teil des Rechtsbestandes eines Staates bezeichnet, an dem sich alle Gesetze zu orientieren haben. Das bedeutet auch, dass eine Verfassung die Auffassungen der großen Mehrheit dieses Staates widerspiegeln und gleichzeitig überschaubar sein muss. Schon alleine deshalb kann sie nicht exakt sein, sondern bedarf immer wieder der Interpretation. Das kommt auch Forderung nach einer gewissen Beständigkeit entgegen. Es führt nämlich dazu, dass es bei einem geänderten gesellschaftlichen Konsens regelmäßig reicht, neu zu interpretieren, anstatt die Verfassung zu ändern, wofür die Hürden mit Absicht hoch sind.
Das heißt, dass die Interpretationsbedürftigkeit der Verfassung kein Manko sondern eine Grundvoraussetzung für Ihre Beständigkeit in einer lebendigen, sich entwickelnden Gesellschaft ist. Genau diese immer wieder neue Interpretation gehört zu den Aufgaben des Verfassungsgerichts, wenn es die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes überprüft. So hat die Gleichberechtigung der Geschlechter, die für den ehemaligen Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann in seiner Dissertation noch endete, wenn es Meinungsverschiedenheiten in einer Ehe gab, da hatte dann nach seiner Meinung die Stimme des Mannes den Ausschlag zu geben, heute eine andere Bedeutung als ihr die „Väter der Verfassung“ gegeben hatten.
Das kann aber nur funktionieren, wenn die Verfassungsrichter auch wirklich die Bandbreite des jeweiligen Wertekonsenses einer Gesellschaft widerspiegeln. Was man von ihnen verlangen kann, ist Redlichkeit und eine große Fähigkeit im Umgang mit Gesetzen, letztlich damit auch im Umgang mit Sprache. Diese Richter auf bestimmte Werte festzulegen, wäre der Tod der lebendigen Verfassung.
Die Bundestagsabgeordneten, die meinen, eine mögliche Verfassungsrichterin ablehnen zu müssen, weil sie ihnen nicht katholisch genug ist, demonstrieren eigentlich nur ihre fehlende intellektuelle Eignung für ihre Aufgabe.
Nein Frank, Richter sollten so wenig wie möglich interpretieren, sondern nach dem Verfassungstext entscheiden. Wenn dieser nicht hergibt, was die ach so gute Gesellschaft will, dann soll diese eben die Verfassung ändern. Das ist der Grundgedanke. Und nicht, dass Richter irgendwelchen „Konsens“ irgendwo hineininterpretieren.
@ Pablo
Das ist so ziemlich das Gegenteil Deines 1. Posts. Nur zur Erinnerung:
Um nur zu zeigen, was es bedeutet, „nach dem Verfassungstext zu entscheiden“ sehen wir uns nur mal kurz Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes an:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Dieser Artikel steht nicht umsonst auf Platz 1, er gilt als der wichtigste.
Da Du die Haltung vertrittst, dass direkt nach dem Text zu urteilen sei, bist Du bestimmt in der Lage, uns zu sagen, was sich denn genau hinter dem Begriff der Menschenwürde verbirgt. Es scheint ja etwas zu sein, was wir alle besitzen. Ab wann eigentlich: Direkt nach der Befruchtung? Nach 2 Wochen, nach 3 Monaten oder nach der Geburt? Aber was es ist, ist damit noch nicht gesagt, geschweige denn, was diese Würde verletzt und was nicht.
Ich bin gespannt auf Deine Antworten.
Dazu noch ein kleiner Hinweis: Es gehört zum Wesen eines Rechtsstaates, dass das Recht prinzipiell für alle verständlich ist. Das heißt nicht, dass Normen grundsätzlich ohne Fachbegriffe auskommen müssen, aber für die Verfassung als den grundlegenden Rechtstext gilt das weitgehend, besonders für die allgemeinen Menschenrechte, also den ersten Teil der Verfassung. Du wirst also keine eindeutige Definition der Menschenwürde finden.
btw. Es ist nicht die Aufgabe des Verfassungsgerichts, in die Verfassung einen (wessen eigentlich) Konsens hineininterpretieren, es ist seine Aufgabe diesen Konsens selbst zu finden. Und wenn wir ein Rechtsstaat bleiben wollen, der auch vom Bekenntnis der Menschen zu ihm lebt, ist es wichtig, dass sich die Mehrheit in diesem Konsens wiederfindet.
@ Pablo 7. August 2025 um 16:11 Uhr
Zitat: „Wenn dieser nicht hergibt, was die ach so gute Gesellschaft will, dann soll diese eben die Verfassung ändern.“
Ich fürchte Ihre Sicht, dass sich Richter einfach weigern eine Entscheidung zu treffen, abwarten wollen bis die Gesetze geändert sind, ist nicht realistisch.
Sie müssen mindestens die Entscheidung treffen, ein Verfahren abzuweisen, weil sie keine ausreichende rechtliche Grundlage sehen. Dafür müssen sie Aussagen bzw. Texte penibel und objektiv interpretieren.
@Frank: Du hast mich nicht ganz verstehen.
Ich verdeutliche meinen Standpunkt.
1. Richter sollten nur nach dem Gesetzestext urteilen. Die juristische Qualifikation ist dabei bedeutend.
2. Da Verfassungstexte abstrakt sind, muss oft interpretiert werden. Genau dieser Umstand ist extrem missbrauchsanfällig und die Parteien wählen die Richter aus, von denen sie ausgehen, dass sie die Texte nicht missbrauchen oder nur in ihrem Sinne missbrauchen. Aus diesem Grund ist eben nicht nur die juristische Qualifikation bei der Auswahl von Richtern wichtig.
3. Trotz der Notwendigkeit von Interpretationen sollten Richter so wenig wie möglich interpretieren und keine neuen Prinzipien und Rechte erfinden, nur weil die politische Klasse oder ein angenehmener gesellschaftliche Konsens es so will. Wenn sich etwas nicht aus dem Verfassungstext ergibt, dann soll da auch nicht etwas neu interpretiert oder erfunden werden. Wenn neue Prinzipien und Rechte haben will, dann soll der Bundestag mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit dies in der Verfassung verankern.
Zum Rest deines Beitrages. Der erste Verfassungsartikel ist der schlimmste und sehr missbrauchsanfällig, weil je nach politischer Lage herbeihalluziniert wird, was die Menschenwürde antastet und was nicht. Wenn Richter beschließen auf Basis des vagen Konzeptes der Menschenwürde urteilen, dass bestimmte Sozialleistungen eine Mindesthöhe haben müssen, dann ist das Missbrauch. So etwas war nicht die Absicht der Verfassungsväter. Trotzdem wird das getan. So lässt sich beliebig linke Politik versteinern.
Wenn es nach mir ginge, sollte man den Begriff streichen oder ein einer nicht so wichtig Stelle setzen und die Richter so beschränken, dass der Begriff nicht missbraucht werden kann. Die Idee, diesem Konzept einen hohen Stellenwert beizumessen war, dass man keine Leute als minderwertig ansieht und sie in Lagern vernichtet und nicht, um Versorgungsansprüche zu begründen. Die wenigstens Verfassungen liberaler Staaten haben diesen Konzept an erster Stelle und übertreiben es wie Deutschland.
@Realo: Nein, das ist nicht die Konsequenz. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet über Verstöße gegen die Verfassung, z. B. Grundrechtseinschränkungen. Wenn es keinen Verfassungstext gibt, gegen den Verstoßen wird, dann ist das das Urteil und es muss überhaupt nicht gewartet werden.
@ Pablo
Ich empfehle ‚Menschenwürde“ von Dietmar von der Pfordten.
Aus Artikel 1 GG folgt weiter die Soziale Marktwirtschaft und nicht Liberatismus, wie Sie ihn vertreten.
Im übrigen ist Rechtsphilosophie eine durchaus wünschenswerte Disziplin. Sie sorgt für Freiheit innerhalb der Goldenen Regel und dort wird Interpretation diskutiert.
Ihre reaktionäre Grundhaltung ist da schon längst durch. Ich persönlich habe nie verstanden, warum individuelle machtorientierte Überzeugungen Vorrecht vor dezenter gelebte Leben haben sollten.
Die Menschenwürde ist ein herausragendes Konzept.
Es nicht zu leben ist das Übel gerade wieder dieser rückwärtsgewandten Zeit.