„Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber nicht auf eigene Fakten.“ Dieser Spruch hat sich aus seinem Entstehungszusammenhang gelöst und ist zur Kampfparole verkommen. Er ist heute vor allem bei Leuten beliebt, die an Verständigung nicht interessiert sind und die vor allem eine Herabwürdigung des Gegenübers im Sinn haben.
Viel wirksamer lässt sich die Basis der Kommunikation nicht zerstören. Der Sprecher sonnt sich im Gefühl, Recht zu haben. Dem Anderen wird unterstellt, sich Fakten zurechtgebastelt zu haben: Er ist also entweder dumm oder ein Betrüger.
Ende der Verständigung
Dieser Argumentationsstil hat im Zeitalter der internetgenerierten Echokammern und Filterblasen Hochkonjunktur und er wird heute sogar von Staatsoberhäuptern gepflegt. Es geht um den Klimawandel, um grüne Gentechnik, Zuwanderung („Lügenpresse“) und um einiges mehr. Glyphosat ist das gerade marktgängige Stichwort der öffentlichen Debatte.
Rechthaber gibt es auf beiden Seiten einer Debatte. Faktenverdreher und Produzenten von Fake News sind immer die anderen. Bataillone von Glaubenskriegern treten gegeneinander an: Auf meiner Seite sind die Wahrheitsbesitzer und auf der anderen die Wahrheitsbedürftigen.
In der Beschwörung von Fakten kommt ein Sicherheitsbedürfnis zum Ausdruck. Sie dient der Selbstvergewisserung: Es tut gut, sich als anerkannter Mitstreiter in höherer Mission zu sehen. Unerlässlich ist ein fester Grund für die eigenen Argumente. Sie werden erst durch ein solches Fundament zu Fakten. Und da wird man auf dem Markt der Religionen schnell fündig. Auch der Atheist muss nicht darben; auch er kann sich mit felsenfesten Fundierungen versorgen.
Die Begründung klingt bei Gottgläubigen und bei Atheisten erstaunlich ähnlich: Fakten sind wahre Aussagen über reale Sachverhalte. Der „reale Sachverhalt“ wird dabei als etwas von unserer Kenntnis Unabhängiges aufgefasst, also als etwas Jenseitiges, quasi Göttliches.
Nun leugne ich nicht, dass etwas Derartiges existiert. Nur mit der Erkenntnis des Jenseitigen hapert es gewaltig. Das Fundament ist nicht felsenfest, sondern bröckelig.
Klarheit schaffen
Nachdem es mit dem Faktum so nichts wird, frage ich mich, was wir unter dem Begriff verstehen wollen. Um Licht ins Dunkel zu bringen, ziehe ich mich auf die Logik der Forschung (LdF) von Karl Raimund Popper zurück (Siebente Auflage von 1982).
Über Tatsachenaussagen haben sich die Epistemologen in den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts den Kopf zerbrochen. Ich bringe ein Beispiel.
- Der Rauch über dem Schornstein des Nachbargebäudes ist verwirbelt (Fulda, Florengasse, 20.9.2017, 9:30 Uhr).
- Daraus schließe ich, dass keine Inversionswetterlage herrscht und die Luft draußen ziemlich sauber ist.
Der erste Satz ist für mich eine unstrittige Tatsachenaussage – wenn man so will: ein Faktum. Meine Nachbarn werden gleichzeitig zu demselben Ergebnis kommen wie ich. Der zweite Satz ist meine Schlussfolgerung aus einer bewährten Wettertheorie und dem Faktum.
Die Fakten des Normalbürgers nennt der um die Epistemologie bemühte Philosoph Basissätze: „Basissätze sind […] Sätze, die behaupten, dass sich in einem individuellen Raum-Zeit-Gebiet ein beobachtbarer Vorgang abspielt. […] Jede Nachprüfung einer Theorie, gleichgültig, ob sie als deren Bewährung oder als Falsifikation ausfällt, muss bei irgendwelchen Basissätzen haltmachen, die anerkannt werden. […] Es ist verständlich, dass sich auf diese Weise ein Verfahren ausbildet, bei solchen Sätzen stehenzubleiben, deren Nachprüfung ‚leicht‘ ist, d. h. über deren Anerkennung oder Verwerfung unter den verschiedenen Prüfern eine Einigung erzielt werden kann.“ (LdF, Abschnitte 28 und 29)
Karl Raimund Popper lässt keinen Zweifel daran, dass für ihn auch Fakten theoriebasiert und ausschließlich dem Diesseits zuzuordnen sind. Es handelt sich eben um besonders einfache und gut bestätigte Theorien. Letztere sind nicht zwingend. „Im Vergleich zu logischen Tautologien haben Naturgesetze einen kontingenten, zufälligen Charakter.“ (LdF, Anhang *X (9))
Weiter schreibt Popper: „ Singuläre Sätze sind stets Interpretationen der ‚Tatsachen‘ im Licht von Theorien.“ (LdF, Anhang *X (2)) Auf mein Beispiel übertragen, heißt das: Man muss wissen, was unter „Rauch“ zu verstehen ist und was unter „verwirbelt“ und was unter „Schornstein“.
Fakten sind Verhandlungssache
Wem Poppers Betrachtung zu kompliziert ist, dem kann ich mit einer Würdigung von Klassifikationsschemata dienen: „Verwirbelt“ ist ein ähnlich vager Begriff wie der des Haufens. Wie undeutlich der Haufenbegriff ist, hat uns Zenon von Elea in seiner berühmten Paradoxie verdeutlicht.
Im Büchlein Klüger irren – Denkfallen vermeiden mit System sage ich es so: „Das Klassifizieren (Haufen/kein Haufen) verlangt das Zusammenfassen ähnlicher Dinge und Situationen zu einer Klasse. […] Bereits in unseren Wahrnehmungsapparat ist das Trennen und Klassifizieren eingebaut, wie der Mechanismus der Kontrastbetonung.
Erst die Klassifizierung der Gegenstände und Situationen ermöglicht die Debatte. Wenn wir wissen wollen, ob wir zwei Dinge oder Situationen derselben Klasse zuordnen können, greifen wir auf Ähnlichkeiten und Analogien zurück. Und dabei ist keineswegs ausgemacht, welche Wesenszüge und Merkmale Gegenstand der Analogiebetrachtung sind. Klassifizierungen sind in diesem Sinne kontingent, wie der Philosoph zu sagen pflegt: Sie können sich so wie vorgefunden ausprägen, aber auch anders.“
Aus alldem lässt sich der Schluss ziehen, dass selbst die simpelsten Fakten wie auch die Klassifikationsschemata Verhandlungssache sind. Einen festen Grund für Überzeugungen gibt es nicht.
Ja, darüber muss man sich mit seinen Meinungsgegnern auseinander setzen! Die dogmatische Begriffsbestimmung, dass ein „Faktum […] eine wahre Aussage über einen realen Sachverhalt“ sei, steht im allgemeinen Diskurs nicht zur Verfügung. Es bleibt kompliziert.
Selbst Echokammern sind nicht restlos gegen solche Zweifel immun. Erst kürzlich habe ich von einem Aufruf zur Selbstkritik aus einem einschlägig bekannten Kreis gelesen. Im Laufe der Recherchen bin ich auf den Artikel Doch, jeder hat seine eigenen Fakten von Andreas Rosenfelder (
Hier geht es ja wohl um die Problematik des „Messprozesses“. Es wird eine „irgendwie definierte“ physikalische Größe gemessen (verwirbelter Rauch aus dem Schornstein). Die Definition aber entstammt einer Theorie (Aerosoltransport, kleinvolumige Meteorologie). Für das Messen gibt es heute sehr ausgefeilte Instrumente. Und die einschlägigen Theorien sind über die Jahrzehnte enorm weit entwickelt worden. Wer sich mal anschauen will, wie kritisch diese Theorien ( z. B. Wettermodelle) behandelt werde, sollte beim nächsten Hurrikan im Golf von Mexiko mal den Wetterbericht von CNN anschauen. Es wird nur von Wahrscheinlichkeiten gesprochen und die Vorhersagen der verschiedenen Wettermodelle (amerikanisch, europäisch) werden miteinander verglichen. Da kann man etwas für den allgemeinen Diskurs lernen: Es ist anstrengend und zeitraubend, Fakten zu sammeln und zu interpretieren. Und eines gilt auf alle Fälle: Je besser das Training, umso wahrscheinlicher ein besseres Ergebnis.
Selbst bei heute umgehend zusammengestellten Faktenchecks zu brennenden Fragen praktischer Politik ist, wie schon zu allen Zeiten, Skepsis angebracht, besonders wenn es an Informationen mangelt wie „nach dem heutigen Stand der Wissenschaft“ oder „mit an Sicherheit grenzender Wahlscheinlichkeit“.
Da denke ich an die Bekämpfung der Varroatose der Honigbienen mit synthetischen Medikamenten. Diese Behandlungen forderten die Varroamilben geradezu zur Resistenz heraus und entlasteten die Bienen kaum. Glücklicherweise besann man sich darauf, dass man Bienenvölker stärken muss, damit sie mit ihrem Putzverhalten den Milbenbefall unterhalb der kritischen Grenze halten können. Worin lag der Irrtum?
Varroamilben wurden in den 80-er Jahren durch globale Mobilität der Bienenforscher und Imker mit Bienenköniginnen aus Asien nach Europa verbracht. Während die indische Apis cerana sich den Blutsaugern im Laufe ihrer Evolution angepasst hatte, war unsere Apis mellifera auf solcherlei Angriffe überhaupt nicht vorbereitet, ebenso wenig wie die Bienenforscher und Imker. Die Schlussfolgerung, wenn Varroamilben landesweit Bienenbestände gefährden, helfe nur die Totalvernichtung dieser Krankheitserreger durch Verbrennen ganzer Bienenbestände oder man müsse die Milben in den Bienenstöcken mit synthetischen Medikamente bekämpfen.
Das war dem damals akuten Notstand in der Existenz der Honigbienen als Bestäuber geschuldet. Diese Vorgehensweise nutzte aber mehr den Tätern als den mit Insektiziden geplagten Opfern, den Honigbienen. Die neue Faktenlage hatte Bienenforscher und Imker zur Erkenntnis verholfen, dass man die Honigbienen stärken müsse, selbst mit der Varroaplage fertig zu werden.
Faktenlagen sind also dynamisch hinsichtlich der Sachgegenstände und der sich mit ihnen beschäftigenden Experten. Die Problematik von Validität, Reliabilität und Objektivität zur Gewinnung von Fakten alleine am Beispiel „Varroa destructor vs. Apis mellifera“ zu erläutern, stellt natürlich nicht zufrieden. Die Übertragbarkeit von Fakten scheitert ja so oft an der Ausdehnung von Raum und Zeit, an der Vergleichbarkeit von Untersuchungsgegenständen, an den angewandten Untersuchungsmethoden und an den Schlussfolgerungen ihrer jeweiligen Versuchsleiter und den Interpretatoren wissenschaftlicher Ergebnisse.
Bald jeder neue Fall birgt Plausibilitätsfallen in sich. Diese können mit Wissen, welches nach wissenschaftlichen Kriterien überprüfbar ist, vorübergehend bis nachhaltig gelöst werden. Wozu das Übersehen solcher Kriterien führt, konnte man in der Sendung „Hart aber fair“ erleben, welche sich mit der Zulassung von Glyphosat beschäftigte. Die Behauptung, Dreiviertel der Insekten Deutschlands seien bereits verschwunden, versuchte man mit einer Versuchsanordnung ehrenamtlicher Krefelder Forscher zu belegen. Sie hatten Insektenfallen mal da mal dort aufgestellt, um die Anzahl der unterschiedlichen Insekten über einen längeren Zeitraum zu zählen. Leider wiederholten sie die Untersuchung niemals an denselben Stellen in Folge, so dass die gewonnenen Zahlen wenig Aussagekraft besitzen. Die Summe der untersuchten Teile ergab wohl ein imponierendes Zahlengebilde, erfüllte aber nicht den Anspruch an saubere und überzeugende Methodik.
Der Zweifler an diesem Zahlenwerk, der Geschäftsführer des Deutschen Bauernverbandes, hatte dadurch leichtes Spiel, den Ernst der Lage herunterzuspielen und mahnte weitere Untersuchungen an, während alles beim Alten bleiben solle.
Das neueste Beispiel von Stillstand auf der Grundlage vager Annahmen statt wissenschaftlicher Belege bieten derzeit Kritiker des Papstes, wie Gerd Häfner, Professor für Biblische Einleitungswissenschaft. Sie stoßen sich an der Neuinterpretation des „Vater unser“ Gebetes durch den Pontifex Maximus mit der lapidaren Feststellung, dass auch er irren könne, wenn es darum ginge, ob uns Gott, der Satan oder gar der Mensch sich selbst und seine Mitmenschen in Versuchung führe. Der Bibelwissenschaftler unterlässt tunlichst das Eingeständnis, dass auch er sich irren könne mit der Behauptung, die bisherige Übersetzung, unser Vater möge uns nicht in Versuchung führen, sei nach wie vor richtig übersetzt. Man merkt, wie unerquicklich diese Debatte für Außenstehende angesichts der bisherigen Menschheitsgeschichte ist.
Solcherlei Debatten mag sich die Demokratie auf dem freien Markt des Glaubens leisten, in der Politikberatung, in der es beispielsweise um das Leben bewahrende Entscheidungen bezüglich der Anwendung von Neonicotinoiden in der Landwirtschaft geht, ist das eher nicht angebracht. In diesem Bereich hilft uns nämlich auf Dauer nicht der Glaube und auch nicht die Trickserei mit Halbwahrheiten.
Drum seien wir auf der Hut mit eigenen und auch „fremden“ Fakten. Denn tarnen, täuschen und lügen in der Erzeugung von Fakten ist ebenso menschliche Überlebenstechnik wie wissenschaftlich gründliches Überprüfen eben dieser und jener Fakten. Insofern sind und bleiben Fakten auch nach meiner Ansicht Verhandlungssache. In diesbezüglichen Trainingseinheiten sind auch Fähigkeiten zu entwickeln im Erkennen- bzw. Aufdeckenkönnen von Lug und Trug, was allerdings auch nicht leichter gelingt als „die Wahrheit“ herauszufinden.
Als philosophischer Realist glaube ich eine vom Denken unabhängige Welt (die Wirklichkeit). Dass innerhalb der Realität bestimmte Zustände herrschen (z. B. Rauch über dem Schornstein) bestimmt die Menge aller realen Fakten. Der Menschen versucht diese Zustände in seiner Sprache zu fassen und zu kommunizieren. Dabei entstehen Unklarheiten und Interpretationsspielräume. Fakten sind in dieser nicht verhandelbar, sondern nur die durch den Mensch formulierten Aussagen, die nicht immer eindeutig genug sind, um die Zustände in der Realität zu beschreiben.
Und was tun, wenn das Gegenüber – ob Realist oder nicht – sagt: „Ich sehe das anders.“? Verhandeln oder auf der eigenen Sicht der Dinge beharren?
Für Ihr Gegenüber ist ein Faktum das, was es sagt. Ihnen bleibt im Grunde auch nichts anderes übrig. Sie beide werden sich immer auf die Erscheinungen beziehen – Realismus hin oder her.
So wie Sie die „Fakten“ definieren, gehören sie für mich zur Metaphysik, genauso wie die Naturgesetze und das Psi.
Ich denke, dass ich (Agnostiker) mich mit Ihnen (Realist) in Sachfragen gut verständigen könnte. Darauf kommt es an.