Vor einer Woche, am 19. Februar 2020, starben in Hanau elf Menschen durch einen Anschlag. Wie bei den jüngsten Attentaten in Neuseeland (15.3.2019), Wolfshagen (2.6.2019) und Halle (9.10.2019) waren Verschwörungstheorien Teil der Motivationslage des Täters.
Erste Analysen brachten DIE ZEIT und die Süddeutsche. Eine Presseübersicht bietet die GWUP an.
Etwas Ungeheuerliches hat sich allmählich aber unaufhaltsam in unseren Alltag hineingeschlichen. Inzwischen ist es kaum mehr zu vermeiden, dass wir im persönlichen Umfeld mit krausen Verschwörungstheorien konfrontiert werden. Ich habe mich entschlossen, das nicht mehr auf die leichte Schulter zu nehmen.
In meinem Bekanntenkreis im Ernst zum Besten gegeben wurden die Verschwörungstheorien zu 9/11 („Die US-Geheimdienste waren es.“), Bilderberger, Chemtrails und flacher Erde.
Letzterer zufolge ist die Erde eigentlich flach; sie wird uns von interessierter Seite als kugelig vorgegaukelt und die Mondlandung gibt es nur in einem gut inszenierten Film. Da Eratosthenes den Erdumfang vor über 2200 Jahren gemessen haben will, muss die Mär von der Kugelgestalt der Erde schon sehr alt sein. Bereits Columbus ist seinerzeit wohl darauf reingefallen.
Die Flacherdler haben mir die Grenzen meiner Aufklärungsbemühungen vor Augen geführt. Die Hinweise, dass bei einem Flug nach Amerika der Tag um wenigstens fünf Stunden länger wird und dass der optische Eindruck, den ein Schiff hinterlässt, wenn es hinter dem Horizont verschwindet, nicht mit der Annahme einer flachen Erde vereinbar sind, verfangen nicht. Das müssen Täuschungen sein, heißt es. Wenigstens werden solche absurden Theorien als gleichrangig mit den geltenden Auffassungen angesehen, da letztere ja auch nur prinzipiell widerlegbare Wissenschaft seien.
Wie Mythen gehören die Verschwörungstheorien zu den identitätsstiftenden Erzählungen. Bestätigung findet der Verschwörungstheoretiker zuhauf im Netz. Das garantiert das Wohlbefinden. Wer nicht zustimmt, gehört zu den anderen. Diese Haltung vermeidet Unwohlsein und kognitive Dissonanz. Das Freund-Feind-Denken stabilisiert sich selbst und immunisiert den Verschwörungstheoretiker gegen jedwede Aufklärungsarbeit.
Was also kann man da tun? Drei Antworten fallen mir ein:
- Dem ausgemachten und missionierenden Verschwörungstheoretiker knapp und fundiert widersprechen und sich dann zurückziehen. Keinesfalls interessiertes Publikum spielen und das Ganze durch Diskussion aufwerten.
- Dem Adressaten des Verschwörungstheoretikers zur skeptischen Methode raten: Weitere Erklärungen suchen, vor allem in der normalen Wissenschaft; Alternativen ausgiebig und kritisch gegeneinander abwägen.
- An Lehrer und Schulen appellieren und mehr und bessere mathematisch-naturwissenschaftliche Bildung einfordern.
Hallo,
Zunächst: auch die Frage nach der Wichtigkeit und wirklichen Bedeutung einer als pseudowissenschaftlich unterstellt seienden Theorie und einer verhältnismäßigen Reaktion darauf ist wichtig und sollte kein pseudoakademischer Selbstzweck sein, der den eigenen Wissensstand zu edeln hat. Zu fragen ist also vor allem: welcher Schaden entsteht, wenn überhaupt, der Gesellschaft und ihren normativen Interessen durch derlei Unsinn!?
Jeder weiß: Religionen und die Liebe sind zweifelsfrei sehr wichtige und zentrale Dimensionen menschlichen Seins; aber wohl in ihrem fundamentalen Wesen kaum im strengen naturwissenschaftlichen Beweisschema zu erklären oder als wirklich existent zu bestätigen, gleichwohl sich doch auch die wissenschaftlich fundierte Psychologie darum zu kümmern weiß und hat.
Mehr Toleranz kann also helfen, wenn es denn nur um wenn auch groteske Laberei geht, die eigentlich keinem wirklich weh tut.
Zu den drei Vorschlägen zur „Bekämpfung“ der verwilderten Theorien endlich fällt so dann mir zum ersten Punkt ein: entspannt sein, zuhören und lächeln. Zum zweiten: sich die Mühe sparen und ökonomisch effizient daran denken, wie schwierig bis fast unmöglich es ist, eine eingefleischte Meinung verändern zu können; und zum dritten Punkt möchte ich besserwisserisch anmerken, dass zwar Lehrer als Personen durchaus durch Appelle erreicht werden können, aber Schulen als Körperschaften wohl kaum. Zudem bezweifle ich nachdrücklichst, dass gerade die Lehren der MINT-Fächer nachhaltig geeignet sind, gesellschaftskritisches Denken zu fördern und zu gestalten.