Im Alter von gerade einmal acht Jahren machte ich erstmals Bekanntschaft mit den Wahrheiten des Krieges – des Kalten Krieges. Die Lehrerin fragte uns, wie wir uns die innerdeutsche Grenze erklären. Ich antwortete ganz naiv, vom „antifaschistischen Schutzwall“ wusste ich ja nichts: Die Amerikaner und die Russen waren mit uns im Krieg. Sie haben gesiegt und das Land unter sich aufgeteilt. Darauf antwortete die Lehrerin: Wenn du erwachsen wärst, würdest du dafür ins Gefängnis kommen. Diese Episode hat sich dem kleinen Timm unauslöschlich ins Gedächtnis gebrannt. Das war anfangs der 50er Jahr in der DDR.
Seit 1955 lebe ich nun im Westen. Meine Eltern hatten mich „verschleppt“, so hieß das im DDR-Jargon, für mich war es eine Freude. Die Ereignisse von 1989 und 1990 haben mich sehr bewegt. Für die Wiedervereinigung bin ich dankbar. Heute besonders interessant sind die Gründe der damals Handelnden, gerade im Hinblick auf die immerfort anstehende NATO-Osterweiterung. Ich zitiere aus dem Artikel „Eiserne Garantien“ (DER SPIEGEL 7/2022, S. 28f.): „Clinton beschloss, das Bündnis zu erweitern. Der Westen brach damit keinen Vertrag, doch unwohl war manchem Beteiligten schon. Jahre später sagte Genscher, formal sei das alles in Ordnung, aber man solle sich nichts vormachen. Gegen den Geist der Absprachen von 1990 verstoße man sehr wohl.“ Immerhin hatte die Bundesregierung damals sogar einen Sonderstatus der neuen Länder hingenommen: „Streitkräfte der NATO-Partner oder anderer Staaten dürfen dort grundsätzlich nicht stationiert werden.“
Wir sind die Adressaten von wahren Verschwörungen und von falschen Verschwörungstheorien. Nicht immer fällt es ist leicht, die einen vom den anderen richtig zu trennen. Angesichts der Bilder und Erzählungen zum Ukraine-Krieg ist es praktisch zwingend, sich für eine Seite zu entscheiden. Zwischen den Stühlen sitzt es sich nicht gut. Ist die Entscheidung getroffen, droht die Gefahr, blind für die andere Seite zu werden. Beide Seiten wähnen sich im Besitz der Wahrheit. Eine objektive Entscheidung erscheint momentan unmöglich. Ein sachliche Bewertung der Beweggründe des Gegners ist jedoch überlebensnotwendig.
In unseren Hauptmedien wird Putins Anspruch der Entnazifizierung der Ukraine als absurd hingestellt. Verwiesen wird auf die Shoa-Opfer in Selenskyjs jüdischer Familie. Bei diesem starken Argument verbietet sich eigentlich jeglicher Widerspruch. Dennoch: Es gibt rechtsextremistische Freiwilligenbataillone, beispielsweise eins mit dem Namen „Asow“, das im Ukraine-Konflikt gegen prorussische Separatisten kämpft. „Das ukrainische Regiment Asow wirbt mit Flyern auf Neonazi-Veranstaltungen um neue Mitglieder – offenbar erfolgreich: Immer mehr Söldner schließen sich an, um ‚Europa vor dem Aussterben‘ zu bewahren.“ (SPIEGEL Panorama, 11.11.2017) Putin übertreibt maßlos, aber ganz grundlos ist sein Ansinnen der Entnazifizierung der Ukraine nicht.
Dass es der NATO und der EU weniger um die edle freiheitliche Gesinnung geht, sondern eher um die Ausweitung des Einflussbereichs, sieht man am Beispiel Bulgarien. Dieses EU- und NATO-Mitglied liegt in puncto Pressefreiheit auf einem der hinteren Plätze, nämlich auf Platz 112 von insgesamt 180 Ländern. Auch das Ausmaß der Korruption in diesem Land macht das Land nicht gerade zu einem Vorzeigestaat der Union. Da ist Russland hinsichtlich Pressefreiheit auf Platz 150 etwa gleichauf mit dem NATO-Staat Türkei (Platz 153) nicht abgrundtief schlechter und die Ukraine auf Rang 97 auch nicht deutlich besser (https://www.reporter-ohne-grenzen.de/nahaufnahme/2021).
Aber auch das ist falsch: In einem Buch über Denkfallen, überwiegend verfasst von Autoren der Querdenker-Szene, ist zu lesen, dass sich Russland, im Gegensatz zu den USA, „durchgängig an alle internationalen Verträge und Vereinbarungen hält“. Acht Jahre nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Putins Russland ist das eine Ungeheuerlichkeit. (Bedauerlicherweise tauche auch ich in der Liste der Autoren dieses Werkes auf. Aber es ist eine bewährte Taktik der Manipulanten: Greife die Argumente deines Kritikers auf und wende sie gegen ihn.)
„Nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Jan Rathje ist es durchaus erklärbar, dass ausgerechnet einige Impfgegner und Querdenker den Krieg Russlands gegen die Ukraine rechtfertigen. Verschwörungsideologische Gruppierungen würden sich in ihren Bestrebungen gegen die ‚offizielle Darstellung‘ richten, so der Experte für Verschwörungstheorien. Da sich der Westen nun global gesehen eher auf die Seite der Ukraine schlage, würden nun auf einmal russische Informationen als diejenigen erscheinen, die gegen diese offizielle Darstellung stehen.“ (Deutschlandfunk, 05.03.2022)
Nachtrag am 25.3.2022: Überschwängliche Heldenverehrung trübt den Blick. Der Komikertrupp um Selenskyj verdient eine nüchterne Einschätzung. Dazu dieser Kommentar von Simon Shuster (TIME, 21.3.2022, S. 32-38):
„During the presidential race [2019], the city’s biggest concert hall was filled to capacity, despite ticket prices that ran about as high as the average Ukrainian monthly pension. Members of the [comedy] troupe partied backstage, wondering what Cabinet positions they might get if Zelensky won. ‚I think I’d make a pretty good Defense Minister‘, said one comedian, Alexander Pikalov, after pouring me a shot of whiskey in a plastic cup. In his dressing room after the show, Zelenski had little interest in discussing politics or foreign affairs.“
DER SPIEGEL schreibt (12/2022, S. 10): „Der Herausforderer [Poroschenkos] hatte kein politisches Programm, statt auf Wahlkampfveranstaltungen aufzutreten, zog er es vor, weiter mit seiner Comedy-Truppe durchs Land zu tingeln und Sketche aufzuführen.“
Für alles, was irgendein Mensch tut, lassen sich Gründe, Anlässe, Anreize usw. finden, die Rückschlüsse auf die jeweilige Motivation bereit stellen. Das gilt für Albert Schweitzer, Adolf Hitler, die Sozialarbeiterin und den Selbstmordterroristen. Die Unterschiede ergeben sich einzig aus den Konsequenzen, die das jeweilige Handeln nach sich zieht.
Ich halte es deshalb für müßig, Putins Kriegsmotive immer und immer wieder unter die Lupe zu nehmen. Er tut das, was aus seiner Sicht das Richtige ist, aber für die Welt, die er damit in die Nähe des Abgrunds rückt, ist seine Begründung im Falle des Absturzes völlig belanglos.
Die Ukraine wird gerade plattgemacht, das ist für die Welt von Belang. Warum das geschieht, ist dagegen bedeutungslos.
Okay. Nehmen wir die Tatsachen hin und blicken wir nach vorn. Der Westen ist gezwungen zu reagieren. Dass er reagiert, mit Konsequenzen für uns alle, sehen wir an den Waffenlieferungen, an den Benzinpreisen und an der Tatsache, dass die erste Stufe des Notfallplans Gas ausgerufen worden ist. Beim Blick nach vorn müssen wir uns schon fragen, ob wir Gefahr laufen, Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Also bleibt uns gar nichts anderes übrig, als den Blick auch zurückzuwenden. Natürlich setzt das die Fähigkeit voraus, aus den Fehlern zu lernen. Wem diese Fähigkeit abgeht, dem nützt der Blick nach hinten nichts.
Nur wenige trauen sich, ein paar unbequeme Fakten anzusprechen. Zu ihnen gehört Gregor Gysi, der in seiner Bundestagsrede vom 20.04.2018 sagte: „Wer nicht aufhören kann zu siegen, bezahlt eines Tages dafür“ (https://youtu.be/3betUnyVzlU). Er meinte die Wiedervereinigung und die folgenden Aktionen im Zuge der NATO-Osterweiterung.
Im Stern vom 17.3.2022 schreibt Richard David Precht: „Das Völkerrecht wurde zweimal gebrochen, von den NATO-Staaten unter der Führung der USA in Jugoslawien und von Russland in Georgien. Beide Kriege dienten weder der Selbstverteidigung, noch waren sie durch ein UN-Mandat legitimiert.“ Precht schreibt, dass Männer wie Helmut Schmidt und Peter Scholl-Latour wussten, wovon sich sprachen: „Sie kannten die russischen Befindlichkeiten im Hinblick auf die fragile Westgrenze und ahnten die Katastrophe, die kommen würde, wenn man sie ignorierte.“