Nach all dem Gedöns über Realismus und Skeptizismus ist jetzt wieder ein Thema dran, das näher am Zweck dieses Weblogbuchs liegt: Aufzeigen von Denkfallen und von Möglichkeiten, diese zu vermeiden. Heute habe ich mir die unnatürliche Zahlen vorgenommen. Anlass ist ein Stolperstein aus dem Spiegel der letzten Woche (37/2017). Meine Lektüre des Spiegel startet gewöhnlich ganz hinten, beim Hohlspiegel. Besagter Hohlspiegel beginnt mit diesem Bild:
Da fragt man sich schon, wer hier falsch liegt: Der für den Aufkleber verantwortliche Werber oder der Spiegel-Redakteur, der dieses Bild als geeignet für den Hohlspiegel und irgendwie lustig fand. Ich fand das Bild nicht lustig und fragte mich, worin der Witz liegen soll.
Mein Gedanke: Wenn ich von etwas Schlechtem 80% wegnehme, dann ist das doch irgendwie gut, oder? Liegt der Werber falsch, wenn er beim Leser ein Verständnis für negative Zahlen voraussetzt?
Das erinnert mich an eine Begebenheit aus meiner Wehrdienstzeit. Fahrschule. Der Stabsunteroffizier fragt mich nach dem Bremsvorgang und will unter anderem die Schrecksekunde und die vorbereitenden Handlungen berücksichtigt wissen. Das mit der Schrecksekunde und den Handlungen fällt mir gleich ein, aber die militärisch korrekte Bezeichnung des Vorgangs bis zum Stillstand habe ich nicht parat und nenne ihn „negative Beschleunigung“.
In der Pause lässt sich der Stabsunteroffizier den Sinn meiner vorlauten Bemerkung erläutern. So weit, so gut.
Gegen Ende meiner Dienstzeit ergab sich für mich die Notwendigkeit einer dienstlichen Beschwerde. Diese wurde abgeschmettert unter Hinweis auf meine Neigung zum Widerspruch und unter Aufzählung aller möglichen Nichtigkeiten, unter anderem dieser: „Darüber hinaus haben Sie während der Fahrschule im Mai 1965 geäußert, daß der Bremsvorgang eine negative Beschleunigung sei, obwohl Sie wußten, daß dem Fahrlehrer die Kenntnisse fehlten, das zu verstehen.“ (25. Februar 1966) – Innumeracy weiter Teile der Bevölkerung ist also nicht erst seit der Zeit der Smartphones und Tablets ein großes Problem. Sie muss schon vor über einem halben Jahrhundert in der Gesellschaft verbreitet gewesen sein.
Aber langsam. Überheblichkeit ist nicht angebracht. Die negativen Zahlen spielen auch heute dem Programmierer den einen oder anderen Streich. In meinem Buch Denkfallen und Programmierfehler (1990) habe ich notiert: „Warum versäumen wir, die negativen Zahlen in unsere Überlegungen einzubeziehen? Die Antwort ist recht einfach: Weil sie „unnatürlich“ sind. In unserer alltäglichen Erfahrungswelt tauchen die negativen Zahlen nicht auf. Es gibt keine negativen Entfernungen. Negative Guthaben gibt es nur als Schulden; diese werden ebenfalls mit positiven Zahlen angegeben.“ Und weiter: „Die negativen Zahlen sind nur zur Vereinfachung des Kalküls eingeführt worden. Ihnen fehlt die Anschaulichkeit. Es ist also kein Wunder, daß wir sie zuweilen unterschlagen.“
Als Beispiel bringe ich einen Fehler, der wohl jedem Programmierer in dieser oder einer ähnlichen Form schon einmal passiert ist. Um festzustellen, ob eine Zahl z klein ist, wird sie mit einem Grenzwert g verglichen: z < g. Die negativen Zahlen sind hier offensichtlich vergessen worden. Im Programm hätte die Ungleichung abs(z) < g stehen sollen.
Der Shampoo-Aufkleber scheint mir eine Nebenwirkung des Mathematikunterrichts mit seiner Liebe zu absurden Textaufgaben zu sein. Der klassische Spruch lautet doch:
Bis zu 80% weniger Haarausfall. Der Text des Aufklebers entsteht daraus nicht durch Nachdenken oder einen Begriff von negativen Zahlen, sondern durch Stringmanipulation.
@HF
Interessanter Gedanke. Ein Beispiel aus der schulischen Praxis würde mir und meinen Lesern helfen. Denken Sie daran, die Mathematik von ablenkenden pseudopraktischen Beispielen zu reinigen? Befürworten Sie eine stärkere Hinwendung zum Hardyismus?
Vor Jahren schrieb ich: „Es gibt unter den Lehrern an Schule und Hochschule die Auffassung, dass von Anfang an praxisnah zu lehren sei. Für alles, was man lehrt, soll nach deren Auffassung die Anwendung in Sichtweite sein. Sie meinen, dass nur auf diese Weise praxisrelevantes Wissen vermittelt werden könne. Außerdem könne man so die Lernenden besser bei Laune halten. Sie könnten ja stets unmittelbar sehen, wofür die ganze Plackerei gut ist. Dem halte ich entgegen: Eine strikte Praxisbindung führt zu einer lückenhaften und trivialisierten Lehre. Praxiserprobung findet normalerweise in einem hoch komplexen Weltausschnitt statt. Ein Nachbau solcher Weltausschnitte für jeden Lehrzweck ist ineffizient.“ (Kreative Mathematik)
Ist es falsch, wenn ich Textaufgaben in diesen Zusammenhang stelle? Ist mein Verdacht gerechtfertigt, dass ein Übermaß pseudopraktischer Textaufgaben zu sehr vom Wesentlichen ablenkt?