Naturgesetze: metaphysisch oder wissenschaftlich?

 

War es ein Gott, der diese Zeichen schrieb?
Goethe, Faust I, Nacht

In Kreisen der Skeptikerbewegung ist ψ (Psi) etwas, das gegen die Naturgesetze verstößt. Es soll hinter Wahrsagerei, Telepathie, Wünschelrutengängerei und weiteren prüfungsresistenten Phänomenen stecken. Diese Phänomene erhalten damit das Etikett unwissenschaftlich oder pseudowissenschaftlich. Sie werden von maßgebenden Mitgliedern der Skeptikerbewegung als nicht existent angesehen.

Ich bin in eine Denkfalle hineingeraten und habe den Begriff des Naturgesetzes, wie in der Skeptikerbewegung üblich, bislang ebenfalls ziemlich unvorsichtig verwendet. Ich hatte zwar eine Ahnung von seiner Doppelgesichtigkeit, konnte diese Ahnung aber nicht klar genug ausdrücken.

Das liegt daran, dass im Laufe meines naturwissenschaftlich orientierten Studiums ständig von Naturgesetzen die Rede war und dass darunter eigentlich immer nur die Formeln verstanden wurden, die in den Lehrbüchern stehen.

Erst viel später begann ich zu fragen: Sind Naturgesetze das, was wir von der Natur wissen oder sind sie das, wovon wir nur fehlbares Wissen haben? Im ersten Fall bilden sie die vollkommen diesseitige Erfahrungswissenschaft. Im zweiten sind es der Natur eigene Gesetze, deren Existenz wir vermuten und die wir zu erkennen suchen; als solche sind sie jenseitig und gehören ins Reich der Metaphysik.

Es scheint mir ein Wesensmerkmal der Philosophie des Naturalismus zu sein, dass er die  erdachten und konstruierten Gesetze nicht sorgfältig genug von den vermeintlich vorgefundenen unterscheidet.

Ich muss bekennen, dass ich im Hoppla!-Artikel Über Wunder die beiden Auffassungen von Naturgesetzlichkeit ebenfalls nicht sauber genug auseinander gehalten habe. Da hat die Begriffsverwirrung aus Studienzeiten Spätfolgen gezeigt. Im Laufe einer Diskussion über den Artikel Skeptizismus und Skeptikerbewegung hat sich der Schleier allmählich gelüftet.

Ich will nun den Kern dieser Diskussion als teilweise fiktiven Dialog wiedergeben und hoffe, dass der von mir durchlebte Lerneffekt sich auf den einen oder anderen Leser überträgt.

Ralph: Das Paranormale bzw. Anomale nennen wir kurz Ψ. Dieses Ψ ist etwas, das zu naturgesetzinkompatiblen Ereignissen führt. Die Standardhypothese der Normalwissenschaft lautet: „Es gibt kein Ψ.“

Till: Die normale Wissenschaft unterliegt dem Wandel; das lesen wir bei Thomas Kuhn. Das Anomale gibt es sehr wohl; es steht definitionsgemäß im Widerspruch zur Normalwissenschaft. Folglich unterliegt auch die Auffassung vom Anomalen dem Wandel. Genau die Anomalien sind es, die den Fortschritt der Wissenschaft bewirken. So jedenfalls sieht es Thomas Kuhn in seinem bedeutenden Werk „The Structure of Scientific Revolutions“ von 1962. Denke nur an die Entdeckung der Venusphasen durch Galileo Galilei; das war eine Anomalie im Rahmen des ptolemäischen Weltsystems. Diese und andere Anomalien haben zu einer wissenschaftlichen Revolution und zum Siegeszug des kopernikanischen Weltsystems geführt.

Ralph: Ich habe von der „normalen Wissenschaft“ gesprochen. Aber das hat nichts mit der Auffassung des Thomas Kuhn zu tun. Mir dient der Begriff lediglich als Abgrenzung zur Anomalistik. Bei der Anomalistik geht es primär um ungewöhnliche Ereignisse oder Fähigkeiten wie Spuk, Geister, Hellsehen, Psychokinese, Telepathie usw., also um Effekte, die bislang nicht belegt werden konnten.

Till: Für Dich ist ψ – das Anomale – etwas Naturgesetzinkompatibles. Aber was sollen wir unter „Naturgesetzen“ verstehen? Sind die Naturgesetze das, was in den Lehrbüchern steht, also unser Wissen von der Natur; oder sind es unwandelbare Gesetze, die der Natur eigen sind? Im ersten Fall sind sie wandelbar und im zweiten Fall sind sie „Gottes Zeichen“, die uns weitgehend verborgen bleiben, sofern es sie überhaupt gibt.

Im ersten Fall treiben Anomalien den wissenschaftlichen Fortschritt und damit den Wandel an. Im zweiten Fall, also im Zusammenhang mit den „unwandelbaren Naturgesetzen“, ist der Begriff der Anomalie sinnlos. Keinesfalls also taugen Naturgesetze und Anomalien zur Charakterisierung von Umtrieben wie Gedankenübertragung, Wahrsagerei, Wünschelrutengängerei, Homöopathie und Quantenmystik.

ψ  gehört bestenfalls ins Reich der Metaphysik; und das ist kein guter Aufenthaltsort für den Skeptiker.

Ralph: Es gibt einen Unterschied zwischen der Anomalistik, früher Parapsychologie genannt, und der Mainstream-Wissenschaft. Das Attribut „normal“ möchte ich nicht stehen lassen, da es zu einer Verwechslung mit der Kuhnschen Normalwissenschaft führen kann. Die Mainstream-Wissenschaften mit naturwissenschaftlichem Bezug suchen nach Naturgesetzen und naturgesetzlichen Erklärungen, die Anomalistik sucht jedoch nach außergewöhnlichen Ereignissen.

Wenn in den Naturwissenschaften nach Abweichungen vom naturgesetzlich Vorhergesagten gesucht wird, dann dient dies der Prüfung von Naturgesetzen. Standardvoraussetzung ist dort: ψ  ist etwas Naturgesetzinkompatibles, oder auch: Es gibt kein ψ . Diese Voraussetzung ist methodisch notwendig.

Till: Das was Du Standardvoraussetzung nennst, ist doch aus der Luft gegriffen. Ich bezweifle, dass der „Normalwissenschaftler“ sich darüber überhaupt Gedanken macht. Außerdem sind wir wieder bei undefinierten Begriffen gelandet: naturgesetzlich und naturgesetzinkompatibel. Wir beginnen, uns im Kreis zu drehen.

Ralph: Bei Kuhn geht es nicht um Hellsehen, Telepathie oder Ähnliches; es geht um den Prozess des Theorienwandels in der Wissenschaftsgeschichte – etwa von Galilei über Newton zu Einstein. Insoweit ist die Annahme „Kein  ψ“ tatsächlich nicht wesentlicher Teil des wissenschaftlichen Skeptizismus. Für diesen ist der Fallibilismus das zentrale Element.

Till: Damit habe ich jetzt nicht gerechnet. Du räumst die naturalistische Bastion und ziehst Dich auf Poppers kritischen Rationalismus zurück. Wir sind uns also einig.

Ralph:  Langsam! ψ -Effekte werden in der Naturwissenschaft lediglich hypothetisch ausgeschlossen.

Till: Das ist wieder so ein Satz, mit dem ich nicht viel anfangen kann. Für Dich haben Anomalien bzw. ψ -Effekte die hypothetische Eigenschaft, nicht existent zu sein. Das möge verstehen, wer dazu in der Lage ist.

Ralph: Da kann ich auch nichts machen. Besser Du sprichst mit einem Parapsychologen darüber.

Till: Für Kuhn sind Anomalien sehr wohl wahrnehmbar; sie treiben die Wissenschaft voran. Das verstehe sogar ich. ψ -Effekte wie Gedankenübertragung und Wünschelrutengängerei hingegen sind keine Anomalien. Diese Effekte verschwinden beim näheren Hinsehen. Und wo kein Effekt, da keine Anomalie. Für derartige effektfreie Bemühungen haben wir eine gut definierte Sammelbezeichnung: Pseudowissenschaft (oder Anwartschaft darauf).

Aus diesem Disput ziehe ich folgende Konsequenzen: Das Wort „Naturgesetz“ versehe ich mit den Attributen „unwandelbar“ und „naturgegeben“ und verstaue es im Kästchen mit der Aufschrift „Metaphysik“. Ebenso verfahre ich mit seinem Gegenstück „Psi“. Für den Erkenntnisprozess reicht es aus, sich über den Stand des Wissens im Rahmen der Normalwissenschaft zu verständigen und über Anomalien, die für den Wissensfortschritt sorgen.

Am 16.7.2018 zur Erinnerung eingefügt: Metaphysisches ist nicht prüfbar und definitionsgemäß nicht falsifizierbar (Karl Raimund Popper). Hypothesen sind fundierte und prinzipiell falsifizierbare Annahmen. Metaphysische Hypothesen kann es demnach nicht geben. Daraus folgt beispielsweise, dass der Begriff „hypothetischer Realismus“ (Gerhard Vollmer) in sich widersprüchlich ist. Zu dieser Ansicht habe ich mich erst vor etwas über vier Jahren durchgerungen.

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