Kürzlich entspann sich unter Mitgliedern der Skeptikerbewegung eine Diskussion darüber, was man unter Wissenschaft und Pseudowissenschaft eigentlich zu verstehen habe.
Hoppla! Das ist doch das Thema der Bewegung von Anfang an, also seit mehr als drei Jahrzehnten. Das offizielle Ziel der Bewegung ist, dass man aus kritischer, wissenschaftlicher Sicht über Pseudowissenschaften informiert. Und es soll bis jetzt nicht gelungen sein, sich über diesen grundlegenden Begriff Klarheit zu verschaffen?
„Pseudowissenschaft“ klingt abschätzig, nach „falscher Wissenschaft“. Es ist also erst einmal ein Kampfbegriff. Die Skeptikerbewegung nutzt ihn gern bei ihren Angriffen auf fragwürdige Praktiken, Behauptungen und Überzeugungen. Dazu rechnet sie Homöopathie, Astrologie, Telepathie, Intelligent Design, Quantenmystik und vieles andere. Auch Religion und Esoterik würde man am liebsten mit dem Verdikt „Pseudowissenschaft“ belegen.
Aber es geht nicht nur um Kampf. Hinter dem Bemühen um Klarheit der Begriffswelt steckt auch ein aufrichtiges Erkenntnisinteresse. In der Skeptikerbewegung hat es Tradition, sich um eine Definition des Begriffs „Pseudowissenschaft“ zu bemühen. Ich halte es für ein gutes Zeichen, dass sich die Skeptiker immer wieder die Frage nach ihrem Selbstverständnis stellen.
Eine ungefähre Vorstellung von dem, was Skeptiker unter Pseudowissenschaft verstehen, liest sich in Kurzfassung so: Pseudowissenschaft ist etwas, das sich als Wissenschaft ausgibt aber keine ist.
Poppers Abgrenzung der Aussagesysteme
Wissenschaft hier – Pseudowissenschaft da. Wir brauchen also erst einmal eine Vorstellung davon, was Wissenschaft ist. Die Skeptiker holen sich Rat bei Karl Raimund Popper.
Popper geht es um Aussagen, Sätze und daraus gebildete Aussagesysteme der Erfahrungswissenschaft. Ein solches empirisch wissenschaftliches System müsse an der Erfahrung scheitern können, meint er (Logik der Forschung, Abschnitt 6). Dieses Kriterium der grundsätzlichen Falsifizierbarkeit dient Popper zur Abgrenzung der wissenschaftlichen Aussagesysteme von den nichtwissenschaftlichen.
Zu den nichtwissenschaftlichen Aussagen zählt Popper die metaphysischen und die pseudowissenschaftlichen (Vermutungen und Widerlegungen, Kapitel 11, Abschnitt 2).
Hier hakt der Skeptiker ein: Aussagen, die sich wissenschaftlich geben, die aber dem Kriterium der Falsifizierbarkeit nicht genügen, sind pseudowissenschaftlich.
Die aus dem popperschen Abgrenzungskriterium abgeleitete Definition der Pseudowissenschaft besitzt den Charme, sehr einfach zu sein. Sie hat nach wie vor viele Anhänger unter den Skeptikern. Intelligent Design gehört nach dieser Definition fraglos zu den Pseudowissenschaften, auch die Quantenmystik und allerlei andere fragwürdige Aussagesysteme. Auch die Religionen hat man so beim Wickel und manchen esoterischen Firlefanz.
Aber halt: Religion und Esoterik treten im Allgemeinen nicht mit dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit auf. Sie nehmen sich also selbst aus dem Rennen; sie gehören zwar ins Reich der Metaphysik, nicht aber ins Reich der Pseudowissenschaften. Pseudowissenschaft und Metaphysik sind nicht deckungsgleich; das kommt jetzt zum Tragen. Den Unterschied hat Popper seinerzeit offenbar nicht scharf genug gesehen.
Es klemmt
Den Philosophen unter den Skeptikern fiel die Unzulänglichkeit des popperschen Kriteriums ins Auge: Manches, was für sie ganz eindeutig Pseudowissenschaft ist, erfüllt die Bedingung der Wissenschaftlichkeit: Die Astrologie macht konkrete Vorhersagen und die Homöopathie macht Heilversprechen. Vorhersagen und Heilversprechen lassen sich überprüfen. Also haben wir es mit wissenschaftlichen Aussagesystemen zu tun.
Für manch einen der Philosophen ist deshalb das Kriterium der Falsifizierbarkeit nicht dazu geeignet, die Grenze zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft zu bestimmen. Manche von ihnen verwerfen es rundheraus, andere wiederum weisen ihm eine untergeordnete Rolle zu, als ein Unterscheidungsmerkmal unter vielen.
Metaphysik gegen Metaphysik
Gesucht war eine umfassendere Definition des Begriffes der Pseudowissenschaft, eine, die nicht nur die bekannten unprüfbaren Aussagesysteme des Intelligent Design und der Quantenmystik erfasst.
Führende Skeptiker wagten den Sprung ins Transzendente, sie legten sich eine Weltanschauung zu, die sich gegen die von ihnen abgelehnten Überzeugungen in Stellung bringen lässt, den Naturalismus, nach dem es eine denkunabhängige Realität gibt, die sich von uns auch erkennen lässt. Alles was der Erkenntnis dieser Realität mit ihren unwandelbaren Naturgesetzen dient, ist Wissenschaft. Demgegenüber steht das illusionäre Denken und die dadurch bestimmte Pseudowissenschaft.
So wird eine Metaphysik zum Maßstab der Wissenschaftlichkeit gemacht: Erkenntnisbereiche, die dem Maßstab nicht genügen, sind Pseudowissenschaft. Das Verdikt „Pseudowissenschaft“ wird bei dieser generellen Grundlegung zu einer Allzweckwaffe gegen alle ungeliebten Einstellungen. Endlich trifft es auch Religionen, insofern sie Erkenntnisansprüche erheben, und die Esoterik. Was bleibt, ist ein Kampfbegriff.
Ganz aus dem Auge verloren haben wir nun, dass eine Pseudowissenschaft sich durchaus als Wissenschaft versteht. Manchem Skeptiker hat diese Einschränkung tatsächlich nie gefallen. Da der Wissenschaftsanspruch jetzt keine Rolle mehr spielen soll, kommt es zu einer Umbenennung. Pseudowissenschaften im soeben beschriebenen Sinne erhalten die Bezeichnung Parawissenschaft. Parawissenschaft umfassen die Pseudowissenschaften im herkömmlichen Sinn.
Aber auch der Begriff der Pseudowissenschaft selbst hat sich durch die naturalistische Begründung verändert: Ob etwas der Wissenschaft entspricht oder aber als illusionäres Denken einzustufen ist, dafür bleibt uns als Maßstab allein der Stand der Wissenschaft.
Abgesehen von der eingebauten Fortschrittsfeindlichkeit hat dieser Ansatz den Mangel, dass er eine unwissenschaftliche Metaphysik gegen die unwissenschaftliche Pseudowissenschaft ins Feld führt. Das kann man für absurd halten.
Aus guten Gründen verabschiedet sich die Skeptikerbewegung von dieser metaphysischen Grundlegung der Begriffe allmählich wieder.
Noch ein Ausweg: Kriterienkatalog
Es wächst die Ansicht, „dass ein einziges Allzweckkriterium zur Abgrenzung nicht zu finden ist“ (skeptiker 3/2010, S. 160). An seine Stelle tritt nun eine ganze Liste von Abgrenzungskriterien. Eine solche findet man im Positionspapier der GWUP zum Thema Parawissenschaft – Pseudowissenschaft vom 5.1.2010.
Neben den philosophischen Hintergrundannahmen sind es Kriterien zu folgenden Stichworten: Freiheit der Forschung, Widerspruchsfreiheit, Prüfbarkeit, Erklärungskraft, Vorhersagekraft, Objektivität, Anbindung an Nachbardisziplinen, Objektivität im Sinne der intersubjektiven Nachprüfbarkeit.
Viele der Kriterien – besser: Merkmale – sind uns von Poppers Logik der Forschung her vertraut.
In dem Papier heißt es: „Mithilfe dieser und weiterer Kriterien lässt sich in aller Regel eine wohlbegründete Entscheidung treffen, ob ein Erkenntnisbereich den Parawissenschaften zuzurechnen ist oder nicht. Auch wenn eine solche Beurteilung nicht in jedem Fall zu einem eindeutigen Ergebnis führen mag, bleibt sie eine rational vertretbare und gut begründete Abgrenzung. Ein Erkenntnisbereich, der nur zu 70 bis 90 Prozent der zur Analyse genutzten Kriterien nicht erfüllt, kann immer noch zu Recht als Parawissenschaft betrachtet werden.“
Jetzt ist zwar nicht mehr die Metaphysik alleinentscheidend. Dafür ist die Beliebigkeit gewachsen.
Eine Debatte unter Skeptikern
Offensichtlich ist es die Unzufriedenheit mit dieser Situation, die einige Skeptiker bewogen hat, jetzt noch einmal in die Diskussion der Begriffe einzutreten.
- Ich habe mich schon oft in die Nesseln gesetzt, weil ich etwas als „unwissenschaftlich“ bezeichnet habe, was im landläufigen Sinne eben doch der Wissenschaft entspricht.
- Die Floskel „nach bewährtem Jahrtausende altem Wissen der Menschen …“ findest Du auch in fast jedem Esoterikbuch.
- Von zentraler Bedeutung für die Erfahrungswissenschaft ist die grundsätzliche Falsifizierbarkeit. Es geht also um Übereinkünfte nach der Maßgabe, dass Widersprüchliches ausgesondert wird. Diese Auslese führt zur Evolution der Erfahrungswissenschaft. Gemeinsames Merkmal der Wissenschaften ist, dass ihnen soziale Prozesse zugrunde liegen: Wissen bildet sich durch Übereinkünfte. So entsteht objektive Erkenntnis.
- In der Bewertung von Hypothesen oder Theorien ist Falsifizierbarkeit essentiell. Um (wissenschaftlich) nützlich zu sein, sollte ein Gedanke so präzise und nicht trivial formuliert sein, so dass er sich als falsch erweisen kann.
- Auch wenn man Falsifizierbarkeit nicht binär sondern graduell deutet, liefert sie uns ein Kriterium, das Wissenschaften und Pseudowissenschaften völlig falsch klassifiziert. Nur ein Beispiel: Die vermeintliche Wirksamkeit der Homöopathie wurde durch hochwertige Studien getestet und damit – in einem ziemlich harten Sinne! – falsifiziert.
- Es bleibt spannend zu sehen, wie lange es noch dauert, bis die Falsifikationisten dieses gescheiterte Abgrenzungskriterium endlich aufgeben.
- Natürlich sind die Kernaussagen der Homöopathie ursprünglich wissenschaftliche Hypothesen – warum denn nicht? Sie sind halt widerlegt. Auf Basis dieser widerlegten Hypothesen weiterzuarbeiten, als wäre nichts passiert, das ist pseudowissenschaftlich.
- Dann verwendest Du nicht das Falsifikationskriterium zur Abgrenzung von Wissenschaft und Pseudowissenschaft, sondern ein anderes. Nach dem Falsifikationskriterium kann man die Pseudowissenschaftlichkeit einer Hypothese nicht datieren. Eine Hypothese ist entweder pseudowissenschaftlich oder nicht, und das gilt dann für alle Zeit.
- Wie Du am Beispiel der Homöopathie aber richtig aufzeigst, ist der Status als Pseudowissenschaft oft zeitabhängig. Doch dann ist das Abgrenzungskriterium nicht mehr die Falsifizierbarkeit, sondern Anachronismus bzw. irrationales Festhalten an Überkommenem. Zudem meinen wir, wenn wir von Pseudowissenschaften sprechen, üblicherweise immer die Disziplin der Gegenwart.
- Durch Widerlegung wird eine Wissenschaft nicht zur Pseudowissenschaft. Weitermachen, als sei nichts geschehen: das ist Pseudowissenschaft.
- Und damit ist das Falsifikationskriterium vom Tisch. Denn hier geht es ja nicht mehr um Falsifizierbarkeit, sondern darum, dass de facto falsifiziert wurde. Das ist ein anderes Kriterium.
- Für mich ist das Falsifikationskriterium zentral für die Auszeichnung wissenschaftlicher Aussagen. Der Stand der Wissenschaft besteht aus den momentan akzeptierten wissenschaftlichen Aussagen. Daneben gibt es den Abfallkorb der widerlegten Aussagen. Wer widerlegte wissenschaftliche Aussagen weiterhin vertritt, betreibt in meinen Augen Pseudowissenschaft. „Pseudowissenschaft“ meint demnach nicht die Aussagen an sich, sondern deren Gebrauch.
- Das Falsifikationskriterium, so wie Popper es vertreten hat, ist kein geeignetes Abgrenzungskriterium für die Grenze zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft. Popper hat diese Grenze wohl auch gar nicht allzu sehr interessiert. Poppers Abgrenzungskriterium betrifft die Aussagen an sich. Ihm ging es vor allem um wissenschaftliche Theorien und deren Abgrenzung zur Metaphysik.
Was können wir daraus lernen?
Offenbar ist eine neue Unterscheidung erforderlich: Einerseits sind da Aussagesysteme, Hypothese und Theorien – Sätze eben. Hier greift Poppers Abgrenzungskriterium der Falsifizierbarkeit: Wissenschaft einerseits, Metaphysik andererseits. Die Einordnung eines Aussagsystems als wissenschaftlich ist zeitunabhängig.
Andererseits gibt es die Disziplinen, Arbeitsgebiete mit darin akzeptierten Sätzen, Methoden und Verhaltensregeln. Ob eine Disziplin wissenschaftlich ist, kann sich mit der Zeit ändern.
„Pseudowissenschaft“ ist mehr als ein Kampfbegriff. Er steht für eine bedeutsame Abgrenzung. Als Pseudowissenschaften gelten
- metaphysische Aussagesysteme, die mit dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit auftreten und
- Disziplinen, die bereits widerlegte wissenschaftliche Aussagen weiterhin vertreten.
(In einem früheren Aufsatz über Pseudowissenschaft steht der Begriff „Parawissenschaft“ in der damals innerhalb der Skeptikerbewegung gebräuchlichen Bedeutung. Diese hat sich inzwischen verändert. Ich habe mich vor Jahren entschlossen, auf den Begriff zu verzichten und mich von der damit verbundenen Stoßrichtung abzuwenden.)
Gute Zusammenfassung der Begriffsproblematik. Vielleicht kann man noch anmerken, dass sowohl in Pseudowissenschaften wie auch in metaphysischen Systemen für sich in Anspruch genau zu wissen “ was die Natur der Dinge ist „, während sich wissenschaftliches Vorgehen eher dem Messen und Formulieren und Überprüfen mathematischer Zusammenhänge zwischen Messgrößen widmet. Dazu kommt in den Wissenschaften noch die Forderung nach Vollständigkeit, dass es also keine „losen Enden“ gibt, die nicht eingebunden werden können. Oder an deren Einbindung kein Interesse herrscht.
Im 18. Jh. gab es die Theorie vom „Phlogiston“. Diese war von der offiziellen Wissenschaft über viele Jahrzehnte anerkannt. Später erkannte man, dass es eine Pseudowissenschaft war. Hätte sich damals jemand dagegen ausgesprochen, wäre er als Pseudowissenschaftler geschmäht worden.