Neuntes Intermezzo: die Horizont-Illusion

Ein Versprechen der künstlichen Intelligenz scheint mit ChatGPT für manche in erreichbare Nähe gerückt zu sein: Maschinen, die denken und lernen können und in der Lage sind, die schwierigsten Probleme der Menschheit zu lösen (TIME Jan 30/Feb 6, 2023, p. 42). Dieser Fortschrittsoptimismus zeichnet die Singularitätsbewegung aus:

Das Bild [vom Wachstum der Rechnerleistung] lässt nach Meinung der Singularitätsanhänger klar erkennen, ab wann der Computer den Menschen bezüglich Intelligenz überflügeln und dann an dessen Stelle die kulturelle Evolution vorantreiben werde.

Die Singularität liegt innerhalb unseres sichtbaren und erreichbaren Horizonts, meint man. Die Begeisterung dafür, dass wir weit sehen können, verleitet zur Meinung, dass es darüber hinaus kaum mehr zu sehen gebe. Ich nenne das die Horizont-Illusion. Vermutlich beziehen die von der flachen Erde überzeugten Leute ihren Glauben aus dieser Illusion.

Flammarions Holzstich

Weniger absurd ist die Mondtäuschung :

Da zwischen Mond am Horizont und Betrachter viel mehr Gegenstände (Bäume, Häuser, Hügel etc. – mehr „Tiefeninformation“) liegen als zwischen Mond oben am Himmel und Betrachter, wird die Entfernung fälschlicherweise als größer eingeschätzt, bei größerer Entfernung und gleich großer Abbildung auf der Netzhaut müsste der Gegenstand aber größer sein, und somit wird der Mond oder auch die Sonne am Horizont auch größer wahrgenommen

Wikipedia, gesehen am 14.2.2023

Wir holen uns das Firmament sozusagen näher heran. Der Wahrnehmungsapparat macht die riesigen Dimensionen handhabbar. Sogar das Firmament ist so gesehen eine Horizont-Täuschung, erweitert um die dritte Dimension.

Es gibt Phasen, in denen ein wissenschaftlicher Durchbruch zur Meinung verleitet, dass es darüber hinaus nichts mehr zu entdecken gebe. Ich nehme an, dass das auch eine Leitidee das Immanuel Kant war: Die Newtonsche Mechanik muss ihm als vollkommene Weltbeschreibung (als a priori gültig) erschienen sein, so dass er sie als einen Grundpfeiler seine Philosophie übernahm (KrV, Analogien der Erfahrung, B Zweite Analogie, Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetz der Causalität).

Der philosophische Realismus scheint mir ebenfalls ein Ausfluss der Horizont-Illusion zu sein. Der nahe liegende Stand der Wissenschaft wird als das genommen, was ist und was ewig sein wird.

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Eine Antwort zu Neuntes Intermezzo: die Horizont-Illusion

  1. Rainer Gebauer sagt:

    Die Metapher der Horizont-Illusion hat mich sehr nachdenklich gestimmt, indem ich versucht habe, sie gewissermaßen auch nach innen zu richten. Wenn man Erkenntnis als Sehvorgang des Verstands interpretiert, dann ließe sich dieser Vorgang auch als eine Art Linse verstehen, also das Arbeitsmedium zwischen dem Außen und dem Innen. Die konstruktivistische Vorstellung, dass das Denken eine Art Abbildung der Welt ist, erhält dadurch einen interessanten zusätzlichen „Nervenkitzel“. Ich hoffe, ich bin verstanden worden, wie unser Mathematikprofessor Schmieden nachgefragt haben würde.

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