Liberal, illiberal, ganz egal?

Selbstverständlich ist es nicht egal: Liberales Wirtschaften fördert andere Ergebnisse zutage als illiberales; darum wird es mir jetzt gehen. Welches Wirtschaften vorzuziehen ist, bewerte ich nicht. Insofern ist es doch egal.

Das Smartphone ist eine süße Verlockung, der auch ich erliege. Dabei vergessen wir gerne, dass wir damit einen Großteil unserer Autonomie aufgeben. Die heutige allgegenwärtige Internetnutzung verbunden mit der überbordenden Werbung konnte nur in einer weitgehend unregulierten Gesellschaft entstehen. Die informationelle Selbstbestimmung ist zu einer hohlen Phrase geworden. Wir begeben uns weitgehend in die Verfügungsgewalt von ein paar wenigen Superreichen, die in ausdrücklicher Gegnerschaft zu jeglicher Regulierung stehen; Neoliberalismus nennt sich das.

Dabei ist der Autonomieverlust durch Propaganda keine Erscheinung, die erst durch das Internet aufgetreten ist. Im letzten Artikel war vom Propagandamodell die Rede, das sich seit dem Zweiten Weltkrieg zur vollen Reife entwickelt hat.

Wenn wir unter Moral ein Regelwerk verstehen, das dauerhaftes Wohlergehen aller sichern soll, hat sich der Liberalismus an diese Stelle ein paar Minuspunkte verdient. Diktaturen als Beispiele illiberaler Gesellschaftsordnungen sind nicht besser, wie jeder von uns aus der Presse weiß. Ich werde mir Bewertungen verkneifen und auch nicht den kategorischen Imperativ Kants zitieren.

An ein paar Beispielen, teils eigenes Erleben, will ich zeigen, dass die Zuordnung, liberal ist gut und illiberal ist böse, dem eigenen Glaubenssystem entspringt und ansonsten nichts taugt.

1. Das Königreich Preußen war ein illiberales, System. Ihm haben wir die Industrialisierung unseres Landes zu verdanken – auch mittels Industriespionage im liberalen England. Es folgte der Siegeszug des Verbrennermotors und des Automobils. Auf der Lastenseite steht die Klimakrise. Hier Moralpunkte zu vergeben, fällt schwer.
2. Die Kerntechnik ist weltweit sehr stark reguliert. Wie auch im Flugverkehr sind die Sicherheitsstandards hochentwickelt. Ein Triumph der Bürokratie, jedenfalls nicht des Liberalismus.
3. Anders in der Autoindustrie. Vor vielen Jahren habe ich für eine Fachtagung zum Thema Sicherheitstechnik in der Automobilindustrie einen Festvortrag gehalten. Ich war erstaunt über die dort offenbare Rückständigkeit, gemessen am Stand der kerntechnischen Sicherheit. Als Begründung wurde mir gesagt, dass die Automobilfirmen in Konkurrenz zueinander stünden und folglich Standardisierungen und sicherheitstechnische Normen keine große Aufmerksamkeit genössen.
4. Meine Arbeitgeber in den 70er Jahren haben nicht nur Großanlagen, wie die Gepäckbeförderungsanlage des Frankfurter Flughafens, Schnellboote und Kernkraftwerke gebaut, sondern auch Produkte für den allgemeinen Markt, wo Konkurrenz wirksam wird. Damals war ich auch im Vorfeld der Normung tätig. In solchen Gremien waren alle großen ET-Firmen vertreten: Siemens, SEL, AEG, BBC. Die Begeisterung für die Verabschiedung der Arbeitsergebnisse in Form von Normen war äußerst gering. Den Grund verriet mir ein Kollege, die unterschwellige Firmenmaxime nämlich: Einmal bei BBC gekauft, immer bei BBC gekauft. Anstelle von BBC könnte auch jeder andere Firmenname stehen.
5. Später als Professor habe ich dann geholfen, zwei Standardisierungsvorhaben zuende zu bringen. Eines der Standardisierungsvorhaben betrifft die Begriffsbildung in der Zuverlässigkeits- und Sicherheitstechnik und ist meines Erachtens erfolgreich. Das andere betrifft die Kommunikation in der Automatisierungstechnik und ist wohl ein Flop. Der Wettbewerb zwischen den Firmen spielt im ersten Fall eine geringe, im zweiten eine große Rolle. [tg: Diesen 5. Punkt geändert am 11.9.2024]

Wegbereiter der Industrialisierung Preußens war Christian Peter Wilhelm Beuth (1781 bis 1853). Der Verlag, in dem das deutsche Normungswerk (DIN) erscheint, trägt auch heute noch seinen Namen. Normung ist ein illiberales Element in unserer Gesellschaft, aber es nützt dem Verbraucher.

Mit Interesse verfolge ich die Entwicklung der Ladeinfrastruktur für Elektroautos. Der Abstand der Ladestationen und die Ladedauer sind kritische Parameter. Vor Jahren fragte ich mich, ob man mit Einheitsbatterien, die man einfach austauscht, einen Teil der Probleme loswerden könnte. Die Ladedauer spielt dann keine Rolle mehr.

Eine andere Lösung ist eine Zwischenspeicherung nach dem Klospülungsprinzip: An der Tankstelle gibt es einen Zwischenspeicher, der langsam geladen werden kann und der bei Bedarf seine Ladung schnell an das Automobil abgibt.

Der Regulierungsbedarf ist bei der ersten Lösung höher als bei der zweiten. China hat seit einiger Zeit Wechselbatterien im Angebot. Bei Mercedes quält man sich mit der zweiten Variante herum, wobei klar ist, dass durch die Zwischenspeicherung zusätzliche Energieverluste entstehen, der Wirkungsgrad des Gesamtsystems also geringer ausfällt. Das ist der Preis des Liberalismus.

Auf die hier geschilderten Zusammenhänge bin ich erstmals durch den großartigen Artikel Von der Kopie zur Innovation: Einführung der Dampfkraft in Preußen von Ilja Mieck im Spektrum der Wissenschaften aufmerksam geworden (SdW 5/1982, S. 116-127).

Wie das Bildungssystem der technischen Entwicklung folgt habe ich durch Hermann Lübbe erfahren. In seinem Buch Modernisierung und Folgelasten (1997) beschreibt er im 30. Kapitel (Fortschritt durch Wissenschaft), wie der preußische Universitätsreformer Wilhelm von Humboldt das Bildungssystem auf Vordermann brachte. Sein Bildungsideal der Einheit von Forschung und Lehre war 200 Jahre lang der Maßstab. Das wurde in einem ziemlich illiberalen Staatssystem geleistet. Was der Liberalismus anrichtet, können wir am Bologna-Prozess sehen.

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