Paradoxien des Westens

Dieser Artikel hätte eigentlich gestern erscheinen sollen, wegen der Symbolik. Aber es war zu viel Arbeit. Eigentlich ist der 9. November das wichtigere Datum. Es war 1989 und ich war glücklich.

–– Gedankensprung ––

Die Paradoxien des Westens sind eine ziemlich angelsächsische Angelegenheit. Sie haben ihren Ursprung in der Aufklärung (John Locke) und sie wurden mit der Gründung der USA zugespitzt. Ich nenne die Paradoxien beim Namen:

1 Demokratie
2 Sendungsbewusstsein

Über Begriffe

Sendungsbewusstsein ist laut Brockhaus Leipzig 2005

die in einer Person, einem sozialen, religiösen oder polit. Verband ausgebildete Überzeugung, dass die eigenen Wertvorstellungen, Lehren oder politisch-sozialen Ordnungen auch für andere Menschen, Gruppen oder Völker verbindlich sein sollten. Sendungsbewusstsein ist oft ein konstitutiver Bestandteil einer Ideologie und dient vielfach als Rechtfertigungsgrund für Expansionsbestrebungen politischer, religiöser, kultureller, wirtschaftlicher und militärischer Art.

Wenn man

unter Ideologie jedes System von Ideen, Meinungen und Werten versteht, das Gruppen zur Legitimation ihrer eigenen Handlungen und zur Beurteilung der Handlungen Fremder benutzen,

dann ist die durch 1 und 2 beschriebene Denkwelt, nämlich unsere westliche, eine Ideologie. Eine solche Zuschreibung ist folglich nicht den illiberalen, totalitären Systemen vorbehalten. Damit ist eine Symmetrie hergestellt, die zu einem unverstellten Blick auf unsere eigene Lebenswirklichkeit verhelfen kann.

Paradoxien (Watzlawick, 1969/2000) sind die Essenz des modernen Lebens. Als Popperianer mag ich sie nicht, aber Hegel lehrt uns, dass wir Widersprüche akzeptieren und produktiv umsetzen müssen. Anders als bei Kant habe ich mich an Hegel noch nicht so richtig herangetraut. Deshalb nehme ich die Abkürzung über Popper (1958/1980, S. 51):

Aber was wir unsere eigene Vernunft zu nennen belieben, das ist nichts anderes als das Produkt dieser sozialen Erbschaft, das Produkt der historischen Entwicklung der sozialen Gruppe, in der wir leben, der Nation. Diese Entwicklung schreitet dialektisch, das heißt in einem Dreitaktrhythmus fort. Zuerst wird eine Thesis vorgeführt; aber sie produziert Kritik; Opponenten, die ihr widersprechen, behaupten ihr Gegenteil, eine Antithesis; und aus dem Konflikt dieser Ansichten entsteht eine Synthesis, das heißt eine Art Einheit der Gegensätze, ein Kompromiss oder eine Versöhnung auf einer höheren Ebene. Diese Synthese absorbiert gleichsam die beiden ursprünglich entgegengesetzten Positionen, indem sie sie überwindet.

Demokratie

Bereits das Wort Demokratie ist ein Widerspruch in sich: Das Volk herrscht nicht, es wird beherrscht. Anders ergibt das Wort Herrschaft gar keinen Sinn. Wir haben es also mit einer Synthese im Sinne Hegels zu tun.

Unser parlamentarisches System lebt zum einen vom Grundsatz, dass Planungen nicht vom Volk ausgehen und Sachentscheidungen auch nicht von ihm getroffen werden, sondern von dessen Repräsentanten. Die zweite Komponente ist Kritik bis hin zum Spott. Dadurch sind wir, das Volk, dann doch wieder beteiligt und sorgen dafür, dass das System lernfähig bleibt.

Wie das in der Praxis abläuft, haben wir in Fulda an einem sehr schönen Beispiel gesehen, am Zoff um die neue Schlossturm-Haube.

Um dieses Stahlding herum hat sich ein wunderbares Lehrstück in Sachen Demokratie entwickelt. Ich fand die Sache so interessant, dass ich mich einmischte, sowohl auf Facebook als auch in der Fuldaer Zeitung. Deshalb werde ich den Artikel Verschaukelt fortsetzen und einen Abriss der weiteren Geschehnisse liefern.

Der verantwortliche Politiker hat – wie bereits berichtet – die Kritik an der neuen, stählernen Schlossturm-Haube nicht angenommen. Das fand ich falsch. Im Internet gab es einen Sturm der Entrüstung über die Haube und manch einer entrüstete sich über diese Entrüstung.

Auch gab es konstruktive Vorschläge wie den (FZ, 19.9.2024, S. 10):

Um dem Stil des Barockviertels gerecht zu werden, mein Rat, die schwarze Haube zu vergolden oder sie so zu belassen. Dann aber die Haube mit einer goldenen Ananas schmücken.

An solchen Vorschlägen wird deutlich, warum eine weitgehende Mitwirkung der Bürger am Gestaltungsprozess nichts Gutes erwarten lässt. Der fuldische Stadtbaurat hat dem Ansinnen von Stadtverordneten, bei solch „prägenden Entscheidungen die öffentliche Meinung“ stärker zu berücksichtigen, in der Fuldaer Zeitung vom 18.9.2024, S. 9, eine passende Abfuhr erteilt:

Sollte sich der Hinweis auf eine Volksabstimmung beziehen, die die künstlerische Ausprägung zu einer Art Volkskunst definieren soll, so muss klar gesagt werden, dass weder in der Kunst noch in einer repräsentativen Demokratie solche Elemente verankert sind.

In der Architektur ist es ein wenig wie in der Musik und der Malerei: Der Künstler braucht keine Mitsprache bei seinem Werk. Der Geistesblitz ereignet sich in seinem Kopf und nicht im Team. Dafür darf er die wohlwollenden Besprechungen genießen und muss die Verrisse aushalten. Vielleicht lernt er sogar daraus.

Das aus meiner Sicht wesentliche Axiom der Demokratie stammt von Perikles:

Obgleich nur wenige eine politische Konzeption entwerfen und durchführen können, so sind wir doch alle fähig, sie zu beurteilen.

Sendungsbewusstsein

Das Sendungsbewusstsein ist den US-Amerikanern naturgegeben, sie nennen es Vorsehung (Manifest Destiny). Sie kam schon im Artikel
Universalisierung der Menschenrechte – eine Ideologie?
zur Sprache. Der Journalist John Louis O’Sullivan schrieb im Jahre 1845, dass es

unsere offenkundige Bestimmung [war], den gesamten Kontinent zu überziehen und in Besitz zu nehmen, den uns die Vorsehung für die Entwicklung des großen Experiments der Freiheit und der föderalen Selbstverwaltung gegeben hat, das uns anvertraut wurde.

(Our manifest destiny to overspread and to possess the whole of the continent which Providence has given us… So zu finden im Artikel Manifest Destiny and U.S Westward Expansion)

Wenn das nicht paradox ist: Zur Verbreitung der allen Menschen zustehenden Freiheitsrechte, den Fremden die Entscheidungsfreiheit nehmen. Das erinnert mich an den Vater, der außer sich gerät, weil sein Sohn, den er im Sinne der Freigeister erzogen hat, sich zum Konfirmandenunterricht
angemeldet hat. Er konnte es nicht ertragen, dass sich sein von ihm zur Freiheit erzogener Sohn tatsächlich frei für etwas entschieden hat, das er nicht gutheißt. Entscheidungsfreiheit kann eben auch heißen, sich für die Unfreiheit zu entscheiden, ob das dem Kämpfer für die universalen Menschenrechte nun passt, oder nicht. So gesehen ist bereits Immanuel Kant übergriffig, denn in der Vorrede zu seiner Kritik der praktischen Vernunft geht es ihm darum,

die Begriffe von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, für welche die Spekulation nicht hinreichende Gewährleistung ihrer Möglichkeit findet, in moralischen Gebrauch der Vernunft zu suchen und auf demselben zu gründen.

Da für Kant Begriffe wie Freiheit allein auf Vernunft gegründet sind, und weil Vernunft allen Menschen eigen ist, erhalten diese Begriffe universelle Gültigkeit. Aus meiner Sicht ist dieser Anspruch paradox. Aus dieser Schwierigkeit kommt man auch nicht heraus, wenn man beispielsweise mit Jean Paul Sartre postuliert, dass wir nicht die Freiheit haben, nicht frei zu sein (Watzlawick, 1969/2000, S. 185). Der universalisierte Freiheitsbegriff bleibt paradox.

Dem mangelnden Verständnis für die Paradoxie des Freiheitsbegriffes haben wir Schreckliches zu verdanken.
Der Ukraine Krieg ist meines Erachtens nur der vorläufige Endpunkt einer verhängnisvollen Entwicklung. Wir erinnern uns an den völkerrechtswidrigen NATO-Einsatz im Kosovo-Krieg.

In der Zusammenschau: Die sogenannte Wertegemeinschaft des Westens ist ideologiegetrieben. Bobby Junior mag irren, was seinen Umgang mit Verschwörungstheorien angeht, aber wenn der Spiegel seinen politischen Standpunkt richtig wiedergibt, liegt er in wesentlichen Punkten meiner Meinung nach richtig (DER SPIEGEL 40/2024, S. 57): 

Es habe sich viel verändert, seit sein Onkel nicht mehr Präsident der Vereinigten Staaten sei, sagte Robert F. Kennedy Jr. Der Umgang mit Meinungsfreiheit, die Außenpolitik, alles. Sein Land werde heute von „Kriegshetzern“ geführt, die an die Hegemonie Amerikas glaubten, von Neokonservativen, die einen Krieg in der Ukraine führten, von dem vor allem die amerikanische Rüstungsindustrie profitiere. Es gehe Amerika nicht mehr um Frieden, sondern um Herrschaft, um Weltdominanz. Das Ende des Kalten Krieges, sagt er, sei für sein Land ein großes Drama gewesen. Amerika habe von da an geglaubt, sich alles erlauben zu können. „Die Vereinigten Staaten sind außer Kontrolle geraten“, sagt er. Wenn jemand verrückt ist, dann nicht er, wie er glaubt, sondern sein Land.

Literaturhinweise

Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft. Köln: Anaconda 1788/1908/2011

Popper, Karl Raimund: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2. Das erste Kapitel: Die aristotelischen Wurzeln des Hegelianismus. 1958/1980

In Congress, July 4, 1776: Declaration of Independence
https://www.archives.gov/founding-docs/declaration-transcript

Watzlawick, Paul: Menschliche Kommunikation. 1969/2000. (6. Kapitel. Paradoxe Kommunikation. S.171 ff.)

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6 Antworten zu Paradoxien des Westens

  1. Realo sagt:

    @ Timm Grams

    Zitat: „Es habe sich viel verändert, seit sein Onkel nicht mehr Präsident der Vereinigten Staaten sei, sagte Robert F. Kennedy Jr. Der Umgang mit Meinungsfreiheit, die Außenpolitik, alles. Sein Land werde heute von „Kriegshetzern“ geführt, die an die Hegemonie Amerikas glaubten, von Neokonservativen, die einen Krieg in der Ukraine führten, von dem vor allem die amerikanische Rüstungsindustrie profitiere. Es gehe Amerika nicht mehr um Frieden, sondern um Herrschaft, um Weltdominanz. Das Ende des Kalten Krieges, sagt er, sei für sein Land ein großes Drama gewesen. Amerika habe von da an geglaubt, sich alles erlauben zu können. „Die Vereinigten Staaten sind außer Kontrolle geraten“, sagt er. Wenn jemand verrückt ist, dann nicht er, wie er glaubt, sondern sein Land.“

    Ich sehe es auch so.

    Grund ist meiner Meinung nach, dass sich der „Europäische Kommunismus“ praktisch von selbst „zerlegt hat“, weil die Kommunisten „den Markt“ durch „die Vernunft“ ersetzen wollten. Das Scheitern lag vermutlich an der westlichen Mentalität.

    Durch die Konkurrenz des Kommunismus hatte sich das kapitalistische System gut weiter entwickelt, bestens „angepasst“ und auch die humanistischen Aspekte recht gut berücksichtigt. Das relativ faire, freie „Unternehmertum“ war höchst erfolgreich.

    „Parasitäre Aspekte“, wenn einige Unternehmer den Markt manipulieren, z.B. wenn sie den „Gegner“ mittels „trickreicher Gesetze ausschalten“ um sich selber ein Monopol zu verschaffen, wurden eher entfernt. Das alles würde ich ausdrücklich besonders würdigen.

    Danach begann man im Westen den „Steinzeitkapitalismus“ neu zu installieren.

    Banales Beispiel für den „Steinzeitkapitalismus“: In Schulen mussten die Schüler einheitliche Turnhosen mit einem „weißen Streifen“ tragen, die einen „Musterschutz“ hatten. Die Firma hatte ein Monopol und konnte die Hosen sehr teuer verkaufen…..

    Nach dem Ende des Kommunismus wurden diese „Parasitäre Aspekte“ wieder „salonfähig“.

    „Kapitalisten“ wollten sich in das Pensionssystem „einschleusen“ um die Bürger abzuzocken. Die Amis wollten die Pensionsgelder möglichst der ganzen Welt „verwalten“….

    In der Ukraine wollte man die Russen mit der ukrainischen Staatsgründung von ihren Häfen am Schwarzen Meer „vertreiben“ und letztlich mit Transitgebühren „würgen“ bis sie ihre „Bodenschätze herausrücken“….

    Technische Errungenschaften, wie Maschinen, Computer, KI werden genutzt, um (Konkurrenz-) Druck auf die Arbeitnehmer auszuüben und um die Gewinne maximal zu steigern.

    In China z.B. bewirken diese technische Errungenschaften geringeres „Arbeitsleid“ und schnell wachsenden Wohlstand.

    Wenn wir Pech haben, stehen wir auch noch am Vorabend eines Weltkrieges….

    [Moderator:Wenn Aussagen ernst genommen werden sollen, müssen Belege her.]

  2. Realo sagt:

    Aus den Ausführungen von Robert F. Kennedy Jr.. ergibt sich die Frage, wie die Russen die Situation „behandelt“ haben.

    Sie sind im Chaos versunken und hatten sehr schnell „genug vom neuen Westsystem“.

    In einem Forum habe ich vor rund 10 Jahren mit einem ehemaligen DDR Physiker diskutiert, der alles recht realistisch gesehen hat. Er hat Putins Strategie und seine Partei, soweit das überhaupt möglich ist, mit der CSU verglichen.

    Putin hat einen „milden Kapitalismus“ und die christliche orthodoxe Kirche als eine Art von humanistischer und nationaler Instanz eingeführt und war recht erfolgreich. Ähnlich wie die CSU in Bayern mit ihrer Ideologie auch recht gut etabliert ist.

    Bei der „Nato Osterweiterung“ war man lange erfolgreich, aber mit der „Würgetaktik“ in der Ukraine wurde eine Grenze überschritten, was verhängnisvoll werden könnte.

  3. Mussi sagt:

    Provoziert natürlich nach den Paradoxien des Ostens zu fragen? Im Sendungsbewusstsein streben sie aktuell nach Überlegenheit über den Westen.

    • Timm Grams sagt:

      Mein Verweis auf die Symmetrie war ernst gemeint. Ich habe seinerzeit den sowjetischen Kommunismus als missionierend wahrgenommen. Putin hat die Tradition, jetzt anderen Glaubenssätzen folgend, wieder aufgenommen. Sein Einfall in die Ukraine spricht dafür.

  4. Realo sagt:

    @ Mussi 6. Oktober 2024 um 18:41 Uhr

    Ich finde es auch bemerkenswert, wenn ausgerechnet ein ehemaliger KGB Mitarbeiter, wenn auch in großer Not, einen eher „milden Kapitalismus“ installiert. Noch dazu mit der orthodoxen Kirche als „moralische und auch nationale Instanz“.

    Ich kann mich natürlich irren, aber ich meine, die Russen haben kein „Sendungsbewusstsein“ mehr.

    Sie wollen Wohlstand im Land und ihre Bodenschätze, die sie nun einmal haben, international optimal vermarkten.

    Es scheint mir offensichtlich, dass besonders das Westkapital, hinter den Bodenschätzen her ist.

    Die Russen brauchen ihre Unabhängigkeit und freie Transportwege (Häfen). Das dürfte Ursache für den Ukrainekrieg sein. Man kann das an den Transitwegen in der Ostukraine sehen, die sie sich „frei gebombt“ haben. Man wollte sie von ihren traditionellen Krimhäfen vertreiben…..

    Auch Preis Kartelle mit „gleichgesinnten Partnern“ wären zweckmäßig. Aber die werden, wegen der gleichen (Rohstoff) Interessen, freiwillig und gerne unter „Russlands Atomschirm flüchten“.

    Allerdings bekommt der Westen ein Problem, wenn er nicht mehr expandieren kann, keine Zinsen erwirtschaften und für eine materielle Deckung des Kapitals sorgen kann….

  5. Mussi sagt:

    Das schwierige an der ‚Symmetrie‘ ist ihr Geltungsanspruch.
    Was gilt wo warum?
    Momentan macht es mehr den Eindruck, dass die Chinesen und Russland und Satelliten ihre Weltgeltung doch noch durchsetzen wollen.
    Ich habe den Anspruch nach Weltherrschaft nie verstanden. Er wird nicht funktionieren und der Wettbewerb darum ist nicht nur politisch desaströs.

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