Schwarmintelligenz – Herrschaft des Mittelmaßes

Ein zukunftsfähiger Unternehmensstil zeichne sich aus „durch eine Firmenkultur, die Kunden, Mitarbeiter, Lieferanten, ja sogar Kapitalgeber und die gesamte Öffentlichkeit in den Innovationsprozess mit einbezieht“, so Trendforscher Peter Wippermann am 28.6.2012 im Deutschlandfunk. Es sieht demnach so aus, als könne das Internet eine neue Kultur der Zusammenarbeit ermöglichen, in der jeder mitreden darf. Bessere Entscheidungen durch Schwarmintelligenz – so lautet das Versprechen.

Gegen diese  These spricht einiges. Hier nur ein paar Personen, die Großes hervorgebracht haben – und das ganz ohne Schwarmintelligenz: Columbus, Konrad Zuse, Niklaus Wirth, Tim Berners-Lee, Steve Jobs. Ich bin überzeugt, dass alle großen Einfälle und Erfindungen nicht vom Nachdenken im Schwarm kommen, sondern das Ergebnis von Freiheit, Individualität und Originalität sind, wie John Stuart Mill in seinem Aufsatz „On Liberty“ meint.

Schwarmverhalten dominiert Vernunft

Fachausschüsse in VDI und VDE sind lose Zusammenkünfte von Experten aus verschiedenen Unternehmen und Hochschulen, die ein bestimmtes Thema bearbeiten und dazu Richtlinien abliefern sollen.

Die Diskussion um eine neue Richtlinie zieht sich gewöhnlich über viele Jahre und weitgehend ergebnislos hin. Irgendwann muss doch ein Ergebnis her. Dann einigen sich die Beteiligten auf einen Entwurf, der keinem wirklich gefällt. Weil sich aber jeder irgendwie darin wiederfindet, lässt man ihn passieren. Und so geschieht es, dass ein Schwarm hochkarätiger Experten nur Mittelmaß hervorbringt. Es liegt  nicht am Einzelnen, Schuld am Unglück ist das Schwarmverhalten, das die Vernunft dominiert.

Diesmal ging es um die Zuverlässigkeit und Sicherheit in der Automatisierungstechnik. Die Diskussion in all den Jahren verlief eher zirkulär als linear. Sachargumente kamen und gingen wie die Figuren eines Karussells. Die Dynamik der Diskussion wurde weniger durch die Schlüssigkeit der Argumentation als durch das Kommunikationsverhalten der Teilnehmer bestimmt. Sturheit und Redegewandtheit waren Trumpf. Das konnte noch jahrelang so weitergehen.

Und so wurde der Zirkel aufgebrochen: Ich machte auf der Basis eines schlüssigen Konzepts und im Alleingang einen Vorschlag für ein neues Richtlinienblatt. Noch bevor das Zerreden beginnen konnte, bildeten wir einen kleinen Arbeitskreis von Leuten, die von der Grundidee überzeugt waren. In nur wenigen Sitzungen erstellten diese Sechs ein Papier und legten es dem Ausschuss vor. Bevor die erneut startende zirkuläre Diskussion richtig in Fahrt kommen konnte, sagte ich: Gut, man kann das auch anders machen. Dann soll jemand mit einem Konzept kommen und dieses mit ein paar Mitstreitern ausarbeiten, so wie es hier geschehen ist. Damit war Ruhe. Das Papier durchlief die Genehmigungsprozedur ziemlich geräuschlos; das Konzept zur „Zuverlässigkeit und Sicherheit komplexer Systeme“ wurde 1993 sogar auf dem Jubiläumskongress „100 Jahre VDE“ in Berlin vorgestellt und es regte zu einigen Büchern und Fachartikeln an.

An dieses Geschehen vor nun über zwanzig Jahren erinnerte ich mich im Zusammenhang mit der Diskussion zum Ziegenproblem. Hier zeigt sich das Schwarmverhalten noch deutlicher. In diese Diskussion waren insgesamt mehr als 500 Diskutanten verwickelt. Es gab ein Hin und Her von Meinungen und nach 10 Jahren setzte sich ein Standpunkt durch, der – verglichen mit den anderen bis dahin vertretenen Meinungen – keineswegs der beste war.

In meinem letzten Blog-Artikel „Meinungsbildung im Internet – Kurioses wird Norm“ beschäftige ich mich mit den Mechanismen, die hinter einer solchen Diskussionsdynamik stecken könnten. Ich wiederhole in Kürze: Ideen haben dann eine Chance, wenn sie hartnäckig und ausdauernd vertreten werden. Ermüdungserscheinungen dünnen die Gegnerschaft aus und es kommt zu faulen Kompromissen. Die Wiederholung des Immergleichen dient der Durchsetzung einer Meinung. Da es auf Präsenz ankommt, wächst die Informationsflut an. Wer nicht untergehen will, muss schnell reagieren, kann Gegenargumente kaum noch wahrnehmen. Einige Autoren halten sich nicht mit dem sorgfältigen Lesen der Beiträge anderer auf. Gleich nach dem Erfassen von Reizwörtern wird die Antwort formuliert und losgeschickt. Dadurch leidet die Qualität der Argumentation. Ein Übriges tut die Fluktuation unter der Autorenschaft. Sie sorgt dafür, dass immer wieder dieselben Probleme hochkommen und dass manchem Fortschritt wieder ein Rückschritt folgt.

Kurz: Eloquenz geht vor Inhalt, Schnelligkeit vor Tiefgang. Der Sture setzt sich durch. Das nenne ich Schwarmverhalten. So kommt die Vernunft unter die Räder.

Gemeinsam dümmer

Interessant ist, was der Soziologe zur Meinungsbildung im Schwarm zu sagen weiß. Dirk Helbing von der ETH Zürich näherte sich dem Problem mittels rechnergestützter Simulation. Ein Sammelband zu seinen Arbeiten „Social Self-Organization. Agent-Based Simulations and Experiments to Study Emergent Social Behavior“ ist kürzlich erschienen.

Neben diesen Simulationen hat er auch ein Experiment mit realen Personen durchgeführt. Spiegel-online berichtet darüber am 17. Mai 2011 unter dem Titel „Gemeinsam sind wir dümmer“. Es zeigte sich, dass die Antworten von 144 Befragten im Durchschnitt die besten waren, wenn keiner die Antworten der anderen kannte. Erfuhren die Probanden von den Schätzungen der anderen Studienteilnehmer, verschwanden die Extremwerte nach und nach. Die  Schätzwerte kamen zwar einander näher, nicht jedoch dem tatsächlichen Wert.

Schwärme ganz ohne Intelligenz

Ich habe es auf die Spitze getrieben und ein Programm geschrieben, das einen typischen Diskussionsprozess nachbilden soll. Die Agenten in diesem Programm kommen gänzlich ohne Intelligenz und Vernunft aus. Es gibt nur die Charaktere Knallfrosch, Mitläufer und Sturkopf. Der Knallfrosch ändert seine Meinung spontan und zufällig. Der Mitläufer übernimmt die Mehrheitsmeinung der Nachbarn und der Sturkopf beharrt auf seiner Meinung. Ein echter Diskurs ist also ausgeschlossen. Dennoch zeigt das Simulationsmodell eine Art „Diskussionsdynamik“, die derjenigen in den Diskussionsforen des Internets verblüffend ähnlich ist.

Diese agentenbasierte Simulation zeigt natürlich nicht, dass an den Diskussionen im Internet nur Dummköpfe beteiligt sind, die zu einem echten Diskurs unfähig sind. Nein, meist ist das Gegenteil der Fall: die Diskussionsteilnehmer sind gut informiert und können in der richtigen Umgebung sicherlich auch zielführend diskutieren. Es ist das Schwarmverhalten, das die Vernunft dominiert.

Simulationsergebnis

Die Grafik zeigt das Ergebnis eines Simulationslaufs: Phasen größerer Meinungsvielfalt wechseln sich mit Einigungsphasen ab. Welche Meinung sich schließlich oder auch nur zeitweilig durchsetzt, ist zufallsbedingt. Ich vermute, dass es genau diese Wesenszüge sind, die die Meinungsbildung in Schwärmen ausmachen, insbesondere in Schwärmen, die nur schwach strukturiert sind und denen eine deutliche Zielvorgabe fehlt.

Der Verlauf der Diskussion zum Ziegenproblem kommt diesem automatisch generierten und „dummen“ Prozess beängstigend nahe.

Dem Spektrum der Wissenschaft  (9/2005, S. 22-24) entnehme ich, dass die Wissenschaftler Iain Couzin, Jens Krause, Nigel Franks und Simon Levin eine ganz ähnliche  Simulation zum Schwarmverhalten von Tieren durchgeführt haben (Nature 433, S. 513-516). Sie sind ebenfalls zu dem Ergebnis gekommen, dass es in einem Schwarm keinen Sinn ergibt zu fragen, welche Richtung wirklich die richtige ist. Die Umwelt geht in die Simulation nicht ein. Christoph  Pöppe vom Spektrum der Wissenschaft beschreibt es so: „Es ist einzig die Überzeugung des Führers selbst, im Besitz der  Wahrheit zu sein, die ihn von allen anderen unterscheidet; und je rücksichtsloser er diese Überzeugung vertritt, desto erfolgreicher setzt er sich gegen Vertreter anderer Ansichten durch.“

(Quellenhinweise überarbeitet am 4.10.2023)

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Eine Antwort zu Schwarmintelligenz – Herrschaft des Mittelmaßes

  1. Timm Grams sagt:

    Von Jens Krause erreichte mich am 8.11.2012 eine E-Mail, in der er unter anderem schreibt, dass man „grundsätzlich zwischen kollektivem Verhalten und Schwarmintelligenz unterscheiden“ solle. Nach seiner Ansicht liegt Schwarmintelligenz nur vor, „wenn ein kognitives Problem gelöst wird“.

    Ich fürchte, dass in Krauses übergreifender und erfolgsorientierter Definition des Begriffs „Schwarmintelligenz“ bereits das Potential zum Missbrauch angelegt ist. Im Grunde ist die Schwarmforschung eine wohl eher nüchterne und mit dem Studium des Verhaltens von Insekten, Fischen und Vögeln befasste Wissenschaft. Man fragt in diesem Fachgebiet vor allem danach, welche Vorteile Schwarmverhalten bringt (Spektrum der Wissenschaft 8/1982, S. 64-74). Das hat manchem wohl zu wenig Sexappeal.

    Mit Einführung des alles überwölbenden Begriffs der „Schwarmintelligenz“ ändert sich das: Jetzt wird die Sache griffig, mediengängig und managerkurstauglich.

    Wenn wir Schwarmintelligenz über den Erfolg definieren, dann wird er jedoch tautologisch und läuft auf die Aussage hinaus: „Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg“. Denn eins geben die Schwarmforscher ziemlich unumwunden zu: Wohldefinierte Bedingungen, unter denen die Schwarmintelligenz wirksam wird, sind noch nicht gefunden worden (Swarm intelligence in animals and humans).

    Der Begriff hat das Potential, zum Modewort zu werden. Und genau das ist auch geschehen: Alle möglichen Beobachtungen werden damit geadelt. Der Beitrag „Schwarmintelligenz im Internet“ des Deutschlandfunks (28.6.2012) – ich habe ihn bereits im Hauptartikel zitiert – bringt Beispiele. Ich greife ein besonders absurdes heraus: „Intelligent reagierte der Schwarm zum Beispiel im Falle der Doktorarbeit von Karl Theodor von Guttenberg. Da wurden viele Kleine einem Großen zum Verhängnis. Kurz, nachdem der Verdacht geäußert worden war, Guttenberg habe seine Promotion großenteils abgeschrieben, konnte jeder, der Lust dazu hatte, auf der Internetplattform ‚Guttenplag-Wiki’ auf Plagiatsuche gehen. Und es funktionierte – ohne Anführer, ohne Leittier, ohne Hierarchie.“

    Dass Guttenberg ein eitler Blender sei, haben aufmerksame Menschen lange vor der Plagiatsaffäre kundgetan. Was nach der Plagiatsaufdeckung passiert ist, kann man eigentlich nur als Mobbing bezeichnen; und das können menschliche Schwärme bekanntlich besonders gut. Von Guttenberg hat zwar unredlich gehandelt, was ihn als Politiker disqualifiziert, aber im Grunde hat er vor allem eine günstige Gelegenheit genutzt. Zu tadeln ist in erster Linie sein Doktorvater. Das Jagen eines eher Unbekannten ist dem Schwarm jedoch nicht aufregend genug.

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