Am 17. Oktober 2016 wurde uns ein Fernsehereignis der Extraklasse geboten. Das Erste zeigte den Fernsehfilm „Terror“, eine Verfilmung des gleichnamigen Theaterstücks des Strafverteidigers Ferdinand von Schirach.
Der Film handelt von einer Gerichtsverhandlung. Angeklagt ist ein junger Bundeswehrpilot. Er hatte eine Lufthansa-Maschine mit 164 Passagieren abgeschossen, weil sich dieser von Terroristen gekaperte Airbus im Anflug auf die mit 70.000 Menschen vollbesetzte Allianz-Arena in München befand.
Das moralische Dilemma – aktiv Menschen töten um viele zu retten – steht im Zentrum des Films und die Zuschauer waren aufgefordert, in die Rolle von Schöffen zu schlüpfen und ihr Urteil abzugeben: Schuldig oder nicht schuldig.
Mein Bauchgefühl sagte mir an diesem Abend: Da stimmt etwas nicht. Ich habe ganz bewusst entschieden, nicht zu entscheiden. Mein Verdacht war, dass im Film der Falsche vor Gericht steht.
Bestärkt darin hat mich das sehr engagierte Eintreten des früheren Innenministers Gerhart Baum für das oberste Grundrecht „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ in der anschließenden Sendung „Hart aber fair“ mit Frank Plasberg. Es war für mich das wahre Highlight des Abends.
Auch in den späteren Diskussionen im privaten Kreis konnte ich mich nicht der Mehrheit derer anschließen, die auf „unschuldig“ erkannten. Ich zweifelte und zweifle immer noch daran, dass es wirklich nötig war, den Piloten in die Dilemma-Situation zu bringen.
Im Laufe der Gerichtsverhandlung des Films hat die Anklägerin ausreichend Zeit, deutlich zu machen, dass eine rechtzeitige Evakuierung des Stadions möglich gewesen wäre und dass es weitere Auswege aus dem drohenden Desaster gab. Sie weist auf ein mögliches Fehlverhalten der Administration und eine Fehlfunktion der Befehlskette hin: Die höherrangigen Verantwortlichen haben sich an die rechtlichen Vorgaben gehalten und den Abschuss nicht freigegeben; dabei wussten sie, dass der Pilot so ausgebildet war, dass er die eigentlich gewünschte Entscheidung zum Abschuss treffen würde.
Der Darstellung dieser für mich wirklich erschreckenden Konstellation wird im Film genügend Zeit gegeben.
Damit komme ich zum für mich entscheidenden Punkt: In anschließenden Diskussionen unter Freunden und Bekannten wurde mir vorgehalten, dass die Dilemma-Situation allein ausschlaggebend sei. Die mir wichtige Betrachtung der Umstände wurde als Nebensache abgetan, obwohl der Film darin durchaus explizit war. Ich halte das für eine Denkfalle: Das emotional aufwühlende moralische Dilemma drängt sich in den Vordergrund des Denkens; die Vernunft muss ihm Platz machen.
Dabei sind wir sehr wohl in der Lage, den Verstand einzuschalten. Das braucht etwas Zeit. Vermutlich hatten die Theaterbesucher mehr davon: Nach dem Theaterstück stimmten im Schnitt dreimal mehr „Schöffen“ für die Verurteilung als unmittelbar nach dem Fernsehfilm.
Das hervorstechende Dilemma zwingt die „Schöffen“ zu einem unmenschlichen Urteil, wie auch immer sie sich entscheiden. Das eigentliche Problem, nämlich dass am Recht und dessen Umsetzung etwas nicht stimmen könnte, wird dadurch aber nicht gelöst und leider an den Rand gedrängt.
!einverstanden!
Ihre Sicht- und Argumentationsweise erscheint mir überzeugend.
Es mag Situationen geben in denen eine rechtzeitige Evakuierung nicht möglich ist. Was dann?
Mich störte, dass nur eine Entscheidung zwischen Mord und Freispruch möglich war. Der Pilot ist schuldig aber nicht wegen eines Mordes sondern wegen Totschlag.
Wie ist Mord definiert oder charakterisiert? Darüber lohnt es sich in diesem Zusammenhang nachzudenken. Dies wurde in der Sendung leider nicht diskutiert.
Zu diesem Thema verweise ich auf die Kolumne in der Zeit vom 18.10.2016 von Prof. Thomas Fischer, BGH-Richter und Strafrechtler, in der er die geltende Rechtslage hierzu ausführlich und auch für Nichtjuristen nachvollziehbar darlegt und dabei auf nicht notwendige Missverständnisse hinweist, die Theaterstück und Film beim Zuschauer leider auslösen, die zur Annahme führen, „Das eigentliche Problem, nämlich dass am Recht und dessen Umsetzung etwas nicht stimmen könnte“ sei noch nicht gelöst.
Der Zeit-Artikel von Thomas Fischer sorgt für Blickfelderweiterung. Vor allem gilt das für einige der inzwischen über zweitausend Kommentare zum Artikel.
Aber eins muss ich doch loswerden: Den Stil des Bundesrichters empfinde ich als arrogant. Ich zitiere: „Das alles ist so dermaßen falsch und verquast und verdreht, dass einem übel wird.“ Weiter: „Damit entpuppt sich der Donnerhall der ‚Aufklärung über das Recht‘ als lächerliche Stinkbombe.“ Die offen zur Schau gestellte Überheblichkeit der Elite und die Rede von den „Spontan-Rülpsern des Volkskörpers“ (Fischer) zeigen nur eins: die Grenzen der Verständigung.
Udo Di Fabio, einst Richter am Bundesverfassungsgericht, wurde am Folgetag des Spektakels von Claus Kleber interviewt. Er sieht es als problematisch an, wenn Moralempfinden und Recht auseinanderdriften und artikuliert, anders als Thomas Fischer, durchaus Lösungsbedarf. Er spricht davon, dass die Verfassung ein offener Diskussionsprozess sei und sagt: „Die Verfassung ist unsere Verfassung. Recht und Moral, sie sind nicht identisch, aber sie hängen zusammen; sie haben eine tiefe innere Beziehung.“
Die Diskussion über den Film hat mich auch sehr zum Nachdenken gebracht. Ich habe ihn nicht gesehen und dennoch kam mir ein zentraler Gedanke in den Sinn: Es ist gefährlich ein Präzedenzfall zu konstruieren, der die Herrschaft des Rechts aushebelt. Damit öffnet man nur Willkürherrschaft und Staatsterror Tür und Tor.
@Eike
@HH (extern)
Per E-Mail erreicht mich diese Nachricht (HH, 11.11.2016): „Ich denke, es sind zwei aufeinander folgend zu beantwortende Fragen: a) Kann eine Evakuierung erfolgen? b) Soll der Pilot das Flugzeug abschießen? Frage a) stellt sich in jedem Fall zuerst, und ich halte es für durchaus vorstellbar, dass man diese Frage mit ‚ja‘ beantwortet. In diesem Fall stellt sich dann Frage b) überhaupt nicht mehr. In diesem Fall sind die beiden Fragen dann separiert, denn Frage b) gibt es nicht mehr. Und wenn sie separat zu sehen sind, ist Frage b) wesentlich interessanter als Frage a), da scheint mir das Scheinwerferlicht genau richtig zu liegen. Oder? Nur zur Klarstellung: Ich halte die Möglichkeit, dass eine Evakuierung nicht möglich ist, d. h. dass die Frage a) mit ‚nein‘ beantwortet wird, für durchaus realistisch. Du auch? Das erscheint mir für die Diskussion wesentlich.“
Genau das meine ich, wenn ich von einer Denkfalle spreche: Der Scheinwerfer der Aufmerksamkeit ist falsch ausgerichtet. Die Frage, ob die Evakuierung möglich ist, wurde im Film behandelt und mit „ja“ beantwortet. Aber auch wenn die Antwort nicht so eindeutig gewesen wäre: Das Problem lässt sich nicht in eine Sequenz von Teilproblemen a) und b) auflösen. Es geht meines Erachtens darum, und davon lenkt das emotional aufgeladene moralische Dilemma ab, ob von Staats wegen Unschuldige getötet werden dürfen, wenn gewisse Umstände vorliegen. Das Grundgesetz sagt ganz klar: „nein“.
Und damit bleibt es bei der Verpflichtung, alles zu tun, damit das Dilemma gar nicht erst auftritt und dass bereits im Vorfeld Entscheidungsalternativen geschaffen und im Ernstfall auch genutzt werden. Theaterstück und Film verdeutlichen diesbezügliche Versäumnisse, eben weil man sich auf die Tötungsmaschinerie verlässt. Und genau das darf nicht sein.
Eike liegt meines Erachtens richtig, wenn er von einem konstruierten Präzedenzfall spricht, der die Herrschaft des Rechts aushebelt.
Aber das hat Ferdinand von Schirach mit seinem Stück sicherlich nicht beabsichtigt. Er selbst hat ja auf „schuldig“ erkannt. Aber das Stück eröffnet wegen der im Artikel angesprochenen Denkfalle – Ablenkung vom Kern des Problems und Konzentration auf das moralische Dilemma – genau den Irrweg, von dem Eike spricht.
Also ist das Problem, dass der rechtliche Rahmen fehlt?
Eine Anpassung der Gesetzeslage ist angesichts solcher Bedrohungen ohnehin längst überfällig und es muss wieder ein Fokus auf diese Problematik gelegt werden. Vielleicht ist ja dieser Film in der Lage. Ich hoffe, dass bald eine Grundlage geschaffen wird, die dem Piloten erlaubt, rechtssicher und ohne innere Konflikte zwischen Recht und Richtig, für die in solchen Situationen sowieso keine Zeit bleibt, zu handeln.
Damit wäre es so auch möglich zu agieren, ohne das Recht auszuhebeln. Aber wie kann ein solcher Fall „Willkürherrschaft und Staatsterror Tür und Tor“ öffnen? Dem Piloten im Film blieb keine andere Möglichkeit und daher ergibt sich für mich auch nicht die Situation eines Dilemmas.
Sollten Sie der Auffassung sein, dass dem Piloten nur die Möglichkeit blieb, das Passagierflugzeugs abzuschießen, dann stehen Sie damit außerhalb des geltenden Rechts. Aus gutem Grund lässt unser Recht diese Möglichkeit nicht zu. Die Juristen Gerhart Baum, Burkard Hirsch, Thomas Fischer, Udo Di Fabio und der Autor des Stückes, Ferdinand von Schirach, haben sich anlässlich der Aufführugen des Theaterstücks „Terror“ in diesem Sinn geäußert. Vielleicht hilft Ihnen das Inteview von Claus Kleber mit Udo Di Fabio weiter.
Das Interview war sehr interessant, Danke dafür.
Da er sich eben mit seiner (nach wie vor unumgänglichen) Entscheidung außerhalb des geltenden Rechts wiederfand, argumentierte ich eben in diese Richtung die Rechtslage anzupassen.
Wie man normalerweise nach dem Gesetz auch an roten Ampeln halten muss, so ist es in Notfällen bei Gefahr in Verzug möglich diese zu überfahren, um einem Krankenwagen oder anderen Rettungskräften den Weg frei zu machen.
So muss auch hier eine Anpassung erfolgen und stimme in diesem Punkt Udo Di Fabio zu: „Die Verfassung ist ein offener Diskussionsprozess“ und kann und muss an die entsprechenden Fällen dementsprechend erweitert werden.
Der Pilot hatte nie eine andere Wahl als das Flugzeug abzuschießen, wenn es nicht von selbst abgedreht hätte und befand sich daher nie in einem Dilemma sondern wurde nur durch den Gesetzgeber dahingehend im Stich gelassen.
Wie schon Spock so treffend sagt: „Das Wohl Vieler wiegt schwerer als das Wohl Weniger oder eines Einzelnen“
Man will es nicht glauben, wieso da mal wieder von hinten durch die Brust ins Auge gedacht wird. Es handelt sich hier um einen übergesetzlichen Notstand. Natürlich hätte ich die Maschine als Pilot abgeschossen. Ob die Insassen ein paar Minuten mehr oder weniger leben lässt sich doch gegen das Leben von Tausenden nicht aufwiegen. Ich glaube nicht, dass ich nur eine Sekunde darüber nachgedacht hätte.
Hartmut Alt
Limburghof
@Felix
@Hartmut Alt
Das alles ist leichter gesagt als getan. Die Argumentation mit dem „übergesetzlichen Notstand“ ist umstritten.
Was rechtens oder auch was richtig ist, scheint in einem konstruierten Fall naheliegend zu sein – einem Fall, in dem alle relevanten Informationen dem Entscheider verfügbar sind und in dem die Entscheidungsalternativen hinsichtlich der Schwere der Konsequenzen weit auseinander liegen. In der Überzeichnung liegt die Hauptgefahr, die von dem Stück „Terror“ ausgeht: Wir wiegen uns in der Selbstgewissheit, klar sagen zu können, was zu tun ist. Aber was sind die Regeln für den Normalfall, wenn die verfügbare Information keineswegs klar, eindeutig und korrekt ist?
Die Entscheidungsgrundlage, was rechtens ist und was nicht, muss ja generell gültig sein, sonst hat sie im Rechtssystem nichts verloren.
Einer rationalen Entscheidung stehen die menschlichen Irrtumsmöglichkeiten entgegen: die Emotion, das Unbewusste, die Intuition. Das bewusste und vollinfomierte kühle Abwägen ist nicht der Normalfall. Denkfallen sind allgegenwärtig. Ein Blick in die Untersuchungsberichte zu Katastrophen der Vergangenheit (Challenger Launch Decision, Ariane 5 Jungfernflug, Three Mile Island) ist geeignet, uns einiges von unserer Selbstgewissheit zu nehmen.
Selbst wenn wir einmal die menschlichen Irrtumsmöglichkeiten außer Acht lassen: Das Situationsbewusstsein (Situation Awareness) reicht für eine rationale Entscheidung oft nicht aus: Es fehlt an Information, für manches gibt es nur Wahrscheinlichkeiten und anderes ist wiederum völlig ungewiss.
Selbst unter der unrealistischen Annahme, dass all das geklärt ist, hakt es bei den Wertmaßstäben: Dürfen wir Menschenleben gegeneinader aufrechnen? Wie sind Alter, Krankheit, Bildungstand zu bewerten? Was ist, wenn mein Leben gegen das anderer steht?
Ein Lehrstück zur Frage, ob sich das alles kodifizieren lässt, erleben wir gerade. Eine 14-köpfige Expertengruppe unter Vorsitz des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Udo Di Fabio soll im Auftrag des Bundesverkehrsministers die ethischen Fragen diskutieren, die sich im Zusammenhang mit dem selbstfahrenden Auto ergeben. Diese Ethikkommission hat Ende September ihre Arbeit aufgenommen. Sie soll unter anderem die Frage beantworten, welche Entscheidungen das Auto treffen darf, während der Fahrer mit etwas anderem beschäftigt ist.
Wäre das richtige Verhalten kodifizierbar, müsste man auch einen Programmcode schreiben können, der immer zu richtigen Entscheidungen führt. Ich erwarte, dass ein solches Vorhaben nicht zufriedenstellend ausgeht.
Die Sache wird auch nicht besser, wenn das Auto im Ernstfall die Kontrolle an den Fahrer zurückgibt. Unter Unfallforschern kennt man den Begriff der Ironie der Automatisierung: Ein weitgehend automatisiertes System enthält dem Fahrer die Gelegenheiten zum Einüben der im Ernstfall wichtigen Fertigkeiten vor.
Die Ethikkommission wird uns viel zu sagen haben, auch über den rechtlichen Umgang mit den ethischen Dilemmata.
Bei all diesen Machbarkeitsüberlegungen dürfen wir aber den Auftrag nicht aus dem Auge verlieren, den uns das Menschenrecht aufgibt, nämlich dafür Sorge zu tragen, dass es zu solchen Dilemmata möglichst nicht kommt.