Scientabilität – ein überflüssiger Begriff?

In einem Interview zu seinem Buch „Die Homöopathie-Lüge“ im skeptiker 4/2012, S. 181-185, erklärt Christian Weymayr den von ihm vorgeschlagenen Begriff der Scientabilität am Beispiel der  Homöopathie: „Homöopathische Arzneimittel sind ‚nicht scientabel‘, also nicht mit den üblichen Werkzeugen der evidenzbasierten Medizin greif- und erforschbar, weil sie Naturgesetzen widersprechen. Allein schon deswegen ist ihre Untersuchung von vorneherein sinnlos und die Methodik der Evidenz-basierten Medizin nicht anwendbar.“

Und weiter: „Bevor es an klinische Studien geht, sollte man erst einmal fragen, ob das behauptete Verfahren im Einklang mit den gesicherten Erkenntnissen der Naturwissenschaften steht. Ist das nicht der Fall, sollte es keine klinische Untersuchung geben, weil die Ergebnisse irrelevant sind. Damit wird sichergestellt, dass positive Ergebnisse, die zum Beispiel auf dem Hidden Bias oder auch nur auf Zufall beruhen, nicht missbraucht werden können.“

Am 20. April 2013 mische ich mich als „Till“ in die laufende Diskussion ein:

Christian Weymayr behauptet, „dass alle klinischen Studien zur Wirksamkeit homöopathischer Arzneimittel irrelevant sind“, wo doch das Credo der Skeptiker ist, dass allein die Prüfung entscheidet, was Wissenschaft ist und was Pseudowissenschaft oder Metaphysik. Als neues Abgrenzungskriterium schlägt er demgegenüber „Scientabilität“ vor. – Mit Neologismen hat bereits Martin Heidegger die Welt genervt. Aber es ist nicht nur die phantasievolle Wortwahl, die mich stört. Es ist die Absicht, die dahinter steckt.

Nach Weymayrs Ansicht sind homöopathische Arzneimittel „nicht scientabel“. Er meint damit, dass eine Überprüfung der Wirksamkeit dieser Mittel entbehrlich ist, da das zu Prüfende den Naturgesetzen widerspricht und folglich ganz offensichtlich Quatsch ist.

Die „gesicherte Erkenntnis“ – was immer das sein mag – scheidet nach dieser Ansicht in absoluter Weise Sinn von Unsinn. Für mich ist das ein Dogmatismus, der dem Skeptiker eigentlich fremd sein sollte. Schauen wir uns die Konsequenzen von Weymayrs Abgrenzungskriterium an einem uns allen wohlbekannten historischen Beispiel einmal an: Von der Antike bis in die Neuzeit galt das ptolemäische Weltbild als „gesicherte Erkenntnis“. Kopernikus‘ Hypothese war folglich „nicht scientabel“, eine Überprüfung entbehrlich. Gut, dass sich Galileo Galilei nicht daran gehalten hat.

„Scientabilität“ als Abgrenzungskriterium verhindert, zu Ende gedacht, jeglichen wissenschaftlichen Fortschritt. Ich halte den Begriff bereits aus forschungslogischen Gründen für unhaltbar. Dabei ist mir klar, dass der Irrtum der hässliche Bruder der Erkenntnis ist. Prüfungen sind fehlerträchtig und es kann immer wieder einmal zur Bestätigung von Humbug kommen. Damit müssen wir leben.

Die Einlassungen von Amardeo Sarma zum Thema leuchten mir ein. Er sieht „drei Prozesse, die für wissenschaftliches Vorgehen relevant sind: Aussagen und Behauptungen müssen erst einmal verstanden und auf ihre innere Konsistenz geprüft werden. Danach sollte zweitens geklärt werden, wie sich eine Aussage mit bestehendem, verlässlichem Wissen verhält. Das ist eine Plausibilitätsprüfung. Drittens sollte eine allgemeine Behauptung getestet oder ein bestimmtes Phänomen, zum Beispiel eine Spukbehauptung, recherchiert werden.“

Der Skeptiker arbeitet mit Logik, wendet wissenschaftliche Erkenntnisse an, wohl wissend, dass auch diese kein endgültiges Wissen darstellen – und er prüft. Da ist nicht die Rede davon, dass man sich die Prüfung schenken kann, wenn etwas als nicht plausibel erscheint. Es existiert kein Filter, der das Untersuchenswerte vom –unwerten trennt.

Der Skeptiker wird angreifbar, wenn er Dogmen verkündet und Selbstgewissheit ausstrahlt. Er sollte besser Widersprüche aufzeigen, Fragen aufwerfen und zum Selberdenken anregen. Das Finden von Antworten kann er dem Adressaten überlassen. Ein gebildeter Mensch wird sich schon selbst darüber klar werden, welchen Hypothesen er eher vertrauen will: denen der weithin akzeptierten Wissenschaft oder denen der Scharlatane und Beutelschneider.

Wir sollten dort ansetzen, wo wir etwas bewirken können, bei der Jugend und in der Bildung. Kritisches Denken gehört auf den Lehrplan. Mathematik und empirische Wissenschaften müssen in der Gesellschaft wieder zu höherem Ansehen kommen. Demgegenüber hat es kaum Sinn, sich mit eingefleischten Anhängern einer Pseudowissenschaft herumzustreiten. Aus diesem Grunde halte ich jedes weitere Buch zur Homöopathie für vergebene Liebesmüh.

Christian Weymayr antwortet (22.4.2013):

Ich habe den Begriff “Scientabilität” vorgeschlagen, weil es manchmal praktisch ist, einen Namen für etwas zu haben.

Natürlich muss die Prüfung entscheiden, ob etwas wirkt. Ich fordere allerdings, dass die Art der Prüfung der Art der Behauptung angemessen sein muss. So heißt es im Methodenpapier des IQWiG, dass für dramatische Effekte klinische Studien unnötig sind, für die üblichen medizinischen Fragen sind klinische Studien notwendig, und ich ergänze:

Für angebliche Effekte, die Naturgesetze über den Haufen werfen, sind klinische Studien irrelevant.

Man braucht für sie eine Prüfmethode, die ähnlich fehlerrobust ist wie die gesicherte Erkenntnis (weil theoretisch plausibel und praktisch bislang widerspruchsfrei), die der angebliche Effekt in Frage stellt. Eine klinische Studie ist dagegen durchaus fehleranfällig.

Ich nenne es das EbM-Paradoxon, dass man sich einerseits der Fehlanfälligkeit klinischer Studien bewusst ist, und sie andererseits für aussagekräftig genug hält, um Naturgesetze zu bestätigen oder zu widerlegen.

Ich sage also nicht, dass die Überprüfung der Wirksamkeit homöopathischer Arzneien entbehrlich ist, sondern dass klinische Studien dafür ebenso wenig geeignet sind, wie eine handelsübliche Stoppuhr zur Überprüfung der Lichtgeschwindigkeit, oder eine Fotografie zur Überprüfung der Existenz von Einhörnern.

Eine verbreitete These ist noch keine gesicherte Erkenntnis.

Aber wenn noch niemals etwas Geistartiges nachgewiesen wurde, und wenn so etwas wie eine geistartige Heilkraft auch den Gesetzen der Physik und Chemie widerspricht, sehe ich es eine gesicherte Erkenntnis an, dass es solche Heilkräfte nicht gibt. Auch das mag in Ihren Augen ebenso sehr nur eine These sein wie die Behauptung, dass Sie gerade in einen Computermonitor schauen, aber das sind Gedankenspiele und theoretische Überlegungen, die mit der sehr konkreten Frage, ob Kochsalz C30 im realen Leben Haarausfall stoppen kann, nichts zu tun haben.

Dass mein Buch vergebene Liebesmüh ist, stimmt natürlich.

Meine Replik vom selben Tag:

Dass EbM-Prüfmethoden vergleichsweise unscharf sind, gehört zum Geschäft; das trifft aber nicht ganz den Punkt.

Es geht um das Objekt der Prüfung, nämlich um die von der Homöopathie behaupteten messbaren Zusammenhänge einerseits (Heilwirkung durch Globulikonsum) und um Modellvorstellungen von den Wirkmechanismen andererseits (geistartige Heilkraft).

Wenn Modellvorstellungen („Geistartiges“) über den Haufen geworfen werden – und genau die sind wohl das Ziel des Angriffs seitens der etablierten Wissenschaft –, kann dennoch das Erkenntnissystem (die „Theorie“) überstehen. Im Rahmen der etablierten Physik hat beispielsweise die Überwindung der Ätherhypothese dem Kern der elektromagnetischen Theorie nicht geschadet. Eine Debatte über Geistartiges finde ich nicht übermäßig interessant.

Das Hauptargument gegen die Homöopathie ist für mich, dass sie ihre Wirksamkeit eben nicht prüft und dass sie sich deshalb auch nicht entwickeln kann, selbst wenn prinzipiell die Möglichkeit dazu bestünde. Angesichts der Scheu vor Prüfungen sehe ich diese Möglichkeit jedoch nicht.

Die Homöopathie ist zu einem Glaubenssystem geworden, fernab jeder Wissenschaft. Sie ist unfruchtbar.

Den Reigen beendet Christian Weymayr am 26.4.2013:

Ihrem letzten Satz stimme ich zu. Ihrem vorletzten nur eingeschränkt, denn Homöopathie war von jeher ein Glaubenssystem, und sie ist in der Wissenschaft stärker verankert denn je.

Bezeichnend finde ich allerdings auch, dass der ganz normale Otto-Normal-Homöopath das Verfahren nicht überprüft, obwohl es ganz einfach wäre. Man nehme verdeckt eine von zwei stark unterschiedlich “wirkenden” Substanzen und versuche anhand der Symptome herauszufinden, welche man genommen hat. Wenn die Trefferquote dauerhaft von 50% abweicht, kann man schon mal bei der GWUP vorsprechen, und sich für die 1 Mio Euro Preisgeld vormerken lassen.

Mag sein, dass es noch Alternativ-Erklärungen zu den geistartigen Kräften für die Wirkung homöopathischer Arzneien gibt. Allerdings bleibt die Behauptung bestehen, dass Substanzen in physiologisch unwirksamen Konzentrationen wirken sollen. Diese Behauptung, egal mit welcher Theorie man sie zu erklären versucht, widerspricht Erkenntnissen, die so gesichert sind, dass klinische Studien sie nicht erschüttern können.

Meine Kritik am Scientabilitätskonzept bedeutet nicht, dass ich die Idee dahinter in Bausch und Bogen ablehne. Ich stimme Weymayrs Auffassung zu, „dass die Art der Prüfung der Art der Behauptung angemessen sein muss“. Das bringe ich im Hoppla!-Beitrag Oberflächenkompetenz und Tiefenscheinwissen auch zum Ausdruck.

Aber braucht man für das Naheliegende wirklich einen neuen Begriff?

Der Begriff kann sogar Schaden anrichten, besonders dann, wenn man das Konzept auf die Spitze treibt und folgert, dass es nicht geben könne, was gegen die Naturgesetze verstößt oder dass eine Überprüfung entbehrlich sei, wenn die Begründung für das zu Prüfende den Naturgesetzen widerspricht. So würde dann tatsächlich der Blick auf Neues verstellt.

 

Zum Schluss bringe ich eine Buchwerbung in eigener Sache:

KlügerIrren

 

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