Skeptikerbewegung skeptisch gesehen

Das Heft 1/2021 der Zeitschrift für Anomalistik ist erschienen und online abrufbar.

Aus dem Editorial von Gerhard Mayer

Wissenschaft, Glaube, Wissenschaftsglaube

Organisierter Skeptizismus

Das Hauptthema dieser Ausgabe der Zeitschrift für Anomalistik beschäftigt sich mit dem organisierten Skeptizismus. Zwei ehemalige prominente Mitglieder der deutschen Skeptikerorganisation Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften e.V. (GWUP), Edgar Wunder und Timm Grams, setzen sich mit der internen Dynamik dieser Vereinigung und vor allem mit dem vereinspolitischen Selbstverständnis und den zugrundeliegenden weltanschaulichen Prägungen und Prämissen des Vorstands auseinander. Dieser orientiert sich stark an dem Vorbild des amerikanischen Committee for the Scientific Investigation of Claims of the Paranormal (CSICOP, heute CSI= Committee for Skeptical Inquiry). Die beiden Autoren zeigen mit ihren Beiträgen, dass der Name der Vereinigung mit seinem Bezug auf die Wissenschaftlichkeit („wissenschaftliche Untersuchung“) einen Euphemismus, wenn nicht gar eine glatte Lüge darstellt, denn was sich mit dem Mäntelchen der Wissenschaft kleidet, stellt „im Kern eine als Lobbygruppe agierende Weltanschauungsgemeinschaft“ dar (Wunder, 2021b: 172, in dieser Ausgabe).
Eine skeptische und selbstkritische Haltung sollte generell zur Grundausstattung eines jeden Wissenschaftlers gehören, weshalb der Frage, wo förderliche Skepsis in wissenschafts- und erkenntnisbehindernden Skeptizismus umschlägt, eine hohe Relevanz zugemessen werden muss. Dies gilt in besonderem Maße für die Anomalistik, weil hier ein unreflektierter und/oder weltanschaulich angetriebener Skeptizismus den größten Schaden anrichtet, wie es schon bei Galilei der Fall war. Das wissenschaftliche Streben nach Erkenntnisgewinn wurde aus Ignoranz oder machtpolitischem Kalkül behindert. Aus der Perspektive des damaligen orthodoxen Wissens und der vorherrschenden kulturellen Macht vertrat Galileo als Vertreter eines neuen, von der offiziellen und akzeptierten Lehrmeinung abweichenden Weltbildes, nämlich des kopernikanischen, gewissermaßen eine „anomalistische“ Position. Heute haben Religionen in den westlich-orientierten Kulturen nicht mehr die Macht, tiefgreifenden Einfluss auf die Wissenschaft auszuüben. Man kann jedoch in der bei „Skeptikern“ und auch etlichen Wissenschaftlern vorherrschenden szientistischen Wissenschaftsgläubigkeit eine „neue Religion“ sehen, die eine ähnlich destruktive und fortschrittsbehindernde Wirkung wie die Religion in dem prominenten Beispiel Galileos hat. Dies ist dem Soziologen und Mitbegründer der GWUP, Edgar Wunder, bald aufgefallen. Er hat sich schon während seiner aktiven Zeit die Frage gestellt: „Wer sind die Skeptiker?“ (Wunder, 1996) und 1998 seine Beobachtungen in seiner Schrift „Das SkeptikerSyndrom“ niedergelegt. Diese interessante Analyse wurde bislang nicht formell in einer Zeitschrift veröffentlicht und war nur online verfügbar. Dennoch wurde sie gefunden und zitiert. Im letzten Jahr kam es zum Austritt von Prof. Timm Grams aus der GWUP, der aufgrund seiner eigenen Erfahrungen mit Wunder in Kontakt trat. Dieser Austausch führte zur Idee, den schon über 20 Jahre alten Text „Das Skeptiker-Syndrom“ noch einmal genau anzuschauen und zusammen mit einer persönlichen Einschätzung des Autors aus zeitlicher Distanz und einem Erfahrungsbericht von Grams in der ZfA zu veröffentlichen und zur Diskussion zu stellen.
Aufgrund der Bedeutung des Themas für die Anomalistik hat sich die Redaktion entschlossen, die ursprünglich deutschen Texte in die englische Sprache zu übersetzen und jeweils beide Versionen in dieser Ausgabe zu publizieren. Sie wurden sowohl an dezidierte „Skeptikerinnen“ und „Skeptiker“ als auch an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die im Bereich der Anomalistik tätig sind, zur Kommentierung versendet. Leider nutzten die Erstgenannten nicht die Gelegenheit, der dargelegten Kritik zu entgegnen. So ist zwar mit den in einigen Punkten auch kritischen Kommentaren und den Autorenantworten eine anregende Diskussion entstanden, die aber leider von „Skeptikerseite“ verweigert wurde.

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