Es gibt eine Welt. Ich gehöre dazu. Das klingt unschuldig, aber es ist ungeheuerlich. Das merkt einer aber erst, wenn er genauer hinschaut und fragt, was „Welt“ und „Ich“ eigentlich bedeuten. Jedenfalls haben sich schon viele klugen Leute die Köpfe darüber zerbrochen und sind bisher zu keinem überzeugenden Ergebnis gekommen. Aber langsam voran. Ich fange damit an, wie ich auf dieses Problem gekommen bin.
Vor mehr als fünfzehn Jahren stieß ich auf einen Verein, der mir gleich sympathisch war: die sich selbst so bezeichnenden „Skeptiker“. Aber bald kam die Ernüchterung. Der weltanschauliche Kern dieser Gruppierung – eine Spielart des Materialismus und dessen ideologische Ausprägung – widersprach allem, was mir am Skeptizismus lieb und teuer ist.
Diese Leute glauben an eine Welt, die unerschaffen ist und die unabhängig von unserem Denken existiert (Vollmer 2013). Da für sie nur diese eine Welt existiert, die sie darüber hinaus für erkennbar halten, habe ich mir gesagt: Es gibt also eine Welt W und meine Gedanken G über diese Welt. Voraussetzungsgemäß sind W und G voneinander unabhängig, folglich kann G nicht in W enthalten sein. Andererseits soll diese eine Welt W allumfassend sein, muss G also doch enthalten. Ich war perplex. Das klang mir nach veritablem Kokolores. Ich wusste damals noch nicht, dass es so wie mir schon besser gerüsteten Köpfen ergangen ist. Ich hatte etwas zu entdecken und fragte mich: Wo in aller Welt steckt das Bewusstsein?
Die gottlose Welt der Atome
Sehen wir uns die heute in Kreisen der Wissenschaft vorherrschende Geisteshaltung an, den Materialismus. Den gibt es bereits seit der Antike. Heutige Spielarten sind der Realismus und der Naturalismus. Das wesentliche Dokument wurde im Jahrhundert vor Beginn unserer Zeitrechnung vom Römer Lukrez verfasst, war dann verschollen und wurde im Jahre 1417, vermutlich im Kloster Fulda, wieder gefunden (Greenblatt, 2012). Dieses Jahr markiert den Beginn der Renaissance. Der Titel des bahnbrechenden Werkes lautet: Über die Natur der Dinge (De rerum natura).
Wenn ich mein Schulwissen recht erinnere, waren die griechischen Philosophen vornehmlich damit beschäftigt, den verbreiteten Glauben an Götter zu bekämpfen. Sie propagierten eine fließende (Herklit) oder auch eine durch feste Ideale begründete Welt (Platon), in der alles Sein auf wenige Grundelemente oder gar nur auf Zahlen (Pythagoras) zurückgeführt werden kann. Eine der Lehren, die das Funktionieren der Welt erklärt und dabei ohne Gott auskommt, ist der Atomismus. Genau diese Atomlehre beschreibt der Römer Lukrez und nennt als Quelle den Griechen Epikur, der sich wiederum auf Demokrit beruft.
Wie gesagt: Es gibt mehrere Spielarten des Materialismus. Aber sie haben Gemeinsamkeiten, die bereits im Werk des Lukrez angelegt sind. Mehr oder weniger allen Spielarten gemeinsam dürfte sein:
- Nichts entsteht aus nichts.
- Alle Materie besteht aus unsichtbaren und unteilbaren Elementarteilchen (Atomen).
- Das Universum insgesamt besteht aus Körpern und Leere. Ein Drittes gibt es nicht.
- Nichts kann wirken, das nicht körperlich ist.
- Die Welt ist weder Schöpfung noch für den Menschen gemacht.
- Die Elemente sind unaufhörlich in Bewegung.
- Sie sind von vielfältiger Gestalt. Die Zahl der Gestalten ist begrenzt.
- Unterschiedlich zusammengesetzt können Urelemente ganz Unterschiedliches bilden.
- Geist und Seele sind körperlich und sterblich.
- Leib und Seele gehören zusammen, sind nicht voneinander zu trennen.
- Die Elementarteilchen der Materie sind bereits immer da und sie dauern ewig fort.
Einiges ist nur aus dem Wissensstand der damaligen Zeit heraus zu verstehen: „Wenn wir in Spiegeln, auf dem Wasser oder auf blanker Oberfläche, Bilder sehen, die den jeweils gespiegelten Dingen gleich sind, so müssen diese aus Bildchen bestehen, welche die Dinge ausgesandt haben. Es gibt sie also, diese hauchfeinen Bildchen, die uns die Dinge in ihrer Gestalt zeigen, auch wenn sie einzeln, eines ums andere, niemandem sichtbar sind.“ (Lukrez, S. 138)
Abgesehen von der gelenkten Aufmerksamkeit spielt die Wahrnehmung keine aktive Rolle. Der Grund des Sehens muss in den Bildchen liegen, die passiv empfangen werden: „Nicht die Sinne trügen, sondern der denkende Verstand“ (S. 145) Dass die erlebte Welt im Kopf aktiv konstruiert wird und dass sie mit dem Ich untrennbar verbunden ist, dieser Gedanke hat in diesem Materialismus keinen Platz. Das Ich gerät in diesem materialistischen Weltbild erst gar nicht ins Blickfeld.
Die Hoffräulein: Wo steckt das Ich?
In der gottlosen Welt der Atome kommt das Ich nicht vor. Die Sinneseindrücke beschreiben einen Fluss von draußen nach drinnen. Die Rolle des Betrachters bleibt im Dunkeln, sie ist unbegreiflich. Michel Foucault schreibt: „Vor dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts existierte der Mensch nicht[…] Es gab kein erkenntnistheoretisches Bewusstsein vom Menschen als solchem.“ (2012, S. 373)
Auf der Suche nach dem Ich lasse ich mich auf Foucault ein und betrachte das Bild Die Hoffräulein, das Diego Velásquez im Jahr 1656 gemalt hat. Ich lasse meinen Gedanken freien Lauf, angeregt durch Foucaults Bildbeschreibung.
Links sehen wir den Maler, der hinter seiner Staffelei hervorgetreten ist und einen prüfenden Blick auf die Szenerie wirft, die er wohl in sein Bild hineinprojiziert: In der Mitte die prächtig herausgeputzte Infantin und zwei weitere Hoffräulein, dazu zwei Kleinwüchsige und ein Hund. Im Hintergrund sehen wir ein paar ältere Höflinge, darunter den Türöffner und einen Wächter.
Hat der Maler Velászquez anstelle der Szenerie vielleicht tatsächlich einen großen Spiegel vor sich stehen, in dem alles genau so erscheint, wie er es gerade malt? Dann könnte der Maler auch sich selbst als Hauptfigur sehen, und das Drumherum ist nur Staffage für ein Selbstbildnis.
Die Anwesenheit von Türöffner und Wächter sagt uns: Das Königspaar ist im Raum. Wir entdecken es im Spiegel, zwischen den Gemälden der rückwärtigen Wand. Obwohl der Spiegel fast in der Bildmitte erscheint, wird er zunächst meist nicht bemerkt. Jetzt, wo ich darauf aufmerksam geworden bin, rückt das Königspaar in die Mitte. Ihm scheint das Interesse aller abgebildeten Personen zu gelten: Philipp IV von Spanien und Maria Anna von Österreich. Es sind demnach weder die Hoffräulein noch der Maler, deren Bild hier entsteht, sondern alles dreht sich um das Königspaar.
Meine Unsicherheit über das, was auf der Leinwand entsteht, ist vom Künstler gewollt. Das Kunstwerk des Velásquez ist ein Spiel mit Bildern, mit Präsentationen – nichts ist real. Das Königspaar, wenn es denn wirklich vom Maler erfasst wird, spiegelt sich im Auge des Malers, im Spiegel und letztlich auf der Leinwand. Wir haben ein Bild vor uns, in dem wir das Königspaar erst um eine Ecke herum, nämlich dem Spiegel an der Wand erahnen können. Die Repräsentation auf der Leinwand ist uns paradoxerweise sogar verborgen.
Es bleibt kein Zweifel: Das uns vorliegende Bild ist vor allem eine Repräsentation der Repräsentationen; Thema ist das Abbilden schlechthin. Ein Erkennen dessen, was die Repräsentation eigentlich repräsentiert, ist uns verwehrt. Da alles Repräsentation ist, werden wir in diesem Bild kein Ich, keinen Hinweis auf Bewusstsein finden.
Nun bleibt mir nur noch die Flucht aus dieser Welt der Repräsentationen. Ich verlasse gedanklich den Rahmen des Bildes. Jetzt bin ich es, den der Maler anstarrt. Ich selbst also bin das Modell und verdränge in dieser Rolle das Königspaar. So kommt das Ich dann doch noch ins Spiel – mein eigenes nämlich. Dieser Gedanke ist absurd, das Bild ist ja vor über dreihundert Jahren entstanden. So geschwind, wie das Ich aufgetaucht ist, so schnell ist es auch schon wieder verschwunden. Ich bin dem Verstehen keinen Schritt näher gekommen.
Es bleibt dabei: Alles ist Repräsentation, das Ich kommt nicht vor. Dieser Satz ist mit dem Anspruch der Allgemeingültigkeit gesagt und auch so gemeint. Wir werden sehen.
Zwischen den Spiegeln
„Ich denke, also bin ich“ (je pense, donc je suis; Ego cogito, ergo sum). Da haben wir es doch, das Ich; so könnte man meinen. Leider nein: Dieser Satz des René Descartes (1637, 1961, S. 31) bringt uns in große Schwierigkeiten.
In Wie real ist unendlich? steht dazu: „So etwa stelle ich mir das „Ich denke, also bin ich“ des René Descartes vor: Ich, das Subjekt, denke mich als Objekt. Da ich mir das Objekt als denkend vorstellen muss, denkt es selbst höchst subjektiv über sich als Objekt nach, und so fort …“
Wir sehen die Welt quasi wie in einem Spiegel (Rorty, 1979/2009). Dieser Spiegel der Natur in unserem Kopf gehört, wie der Kopf auch, zur Welt. Er wird also selbst gespiegelt. Das setzt sich in den gespiegelten Spiegeln immer weiter fort. So gerät der Philosoph in eine ausweglose Situation: Er denkt also nach über das Spiegelbild der Natur und über seine – ebenfalls gespiegelten – Gedanken dazu, und so fort.
Der Spiegel spielt in dieser Metapher die Rolle eines Mediums und des Beobachters zugleich. Das gespiegelte Ich steht dafür, dass wir uns unseres Bewusstseins bewusst werden. Diese Umformulierung rettet uns nicht, denn aus der Spiegelmetapher wird nun: Ich denke, ich denke. Der Reflexionsstrudel zieht uns nach wie vor herab (Schnädelbach, 2012, S. 114). Am Horizont ist nun also das Bewusstsein aufgetaucht, und zwar in verschärfter Form, nämlich als undenkbares Bewusstsein des Bewusstseins.
Zur Rettung aus dieser Misere bringt Descartes vor, dass die „denkende Natur von der körperlichen unterschieden sei“ (1637, 1961, S. 34). Diese Körper-Geist- oder auch Leib-Seele-Trennung erlaubt es, den Geist, das Bewusstsein, den „Spiegel“ als so luftig und geistartig anzunehmen, dass er sich gar nicht spiegeln lässt.
So wird der logische Zirkel durchbrochen. Aber wir haben uns ein neues Problem eingehandelt: den Dualismus des Descartes. Er steht im direkten Widerspruch zum heute zumindest in wissenschaftsnahen Kreisen angesagten Realismus/Materialismus. Für diesen ist der Monismus konstitutiv.
Der Dualismus des Descartes wird für uns genießbarer, wenn wir darauf verzichten, dem Geist (der Seele) eine eigene Substanz und Unsterblichkeit zuzubilligen. Der Dualismus ist in einer derart abgeschwächten Version auch heute noch einen Gedanken wert. Damit sind wir nämlich schon auf halbem Weg zu Immanuel Kant und zu einigen der neueren Philosophen. Wir werden sehen.
Es lässt sich nicht leugnen, dass es ein Bewusstsein gibt. In den Täuschungen und Denkfallen bringt es sich immer wieder in Erinnerung. Ich kann mir sehr wohl auch bewusst machen, dass ich die Rose rieche, und auch, dass sie eine rote Farbe hat. Das alles steht lebendig und unvermittelt vor mir. Aber wie diese Empfindungen und Erscheinungen zustande kommen, kann ich mir nicht erklären. Ob mein Nachbar, mit dem ich mich über diese Erlebnisse unzweideutig austauschen kann, das alles genauso erfährt wie ich, bleibt mir verborgen. Ich kenne keinen Weg, wie ich Erkenntnisse über das innere Erleben meines Nachbarn gewinnen könnte.
Es ist zwar beruhigend, sagen zu können: „Die Gedanken sind frei.“ Aber neugierig sind wir doch. Wenigstens die Frage, wie es zu unserer subjektiven inneren Darstellung der Welt kommt, ist der Nachforschung wert. Der Neurologe und Mediziner Emil Heinrich du Bois-Reymond hat die Frage nach dem Bewusstsein zu einem der großen Welträtsel erklärt (1872, 1880). Ob und inwieweit dieses Welträtsel lösbar ist, darüber gab es hier und auch im Blog von Stephan Schleim ausgiebige Diskussionen. Das Resümee will ich zu Beginn des zweiten Teils dieses Artikels bringen.
Vorschau auf Teil 2: Das Verschwinden des Ich
Welträtsel Bewusstsein – ein Rückblick
Das Ich wird gewaltsam entfernt: Richard Rorty
Das Ich entschwindet ins Transzendentale: Immanuel Kant
Das unsichtbare Selbst: Thomas Metzinger
Das Ich dreht sich im Kreis: Humberto Maturana
Literatur (auch zu Teil 2)
Descartes, René: Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs. Reclam, Stuttgart 1637, 1961
du Bois-Reymond, Emil: Über die Grenzen der Naturerkenntnis. Die sieben Welträtsel. Zwei Vorträge von 1872 und 1880. Leipzig: Von Veit & Comp 1882
Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Suhrkamp 1971, 2012
Grams, Timm: Klüger irren – Denkfallen vermeiden mit System. Springer 2016, 2020
Greenblatt, Stephen: The Swerve: How the Renaissance Began. Norton Company 2012
Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Köln: Anaconda 2011 (nach der zweiten Auflage von 1787)
Lukrez: Über die Natur der Dinge. (In deutsche Prosa übertragen und kommentiert von Klaus Binder. Mit einer Einführung von Stephen Greenblatt. 2014)
Maturana, Humberto; Varela, Francisco: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens. S. Fischer, Frankfurt am Main 2009
Metzinger, Thomas: Der EGO-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik. Berlin Verlag, Berlin 2009
Pauen, Michael: Mythen des Materialismus. Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 44 (1996) 1, S. 77-100
Rorty, Richard: Philosophy and the Mirror of Nature. Princeton: Princeton University Press 1979, 2009
Schnädelbach, Herbert: Was Philosophen wissen und was man von ihnen lernen kann. München 2012
Vollmer, Gerhard (2013): Gretchenfragen an den Naturalisten. Aschaffenburg: Alibri.
Man kann dem Dualismus entkommen: Vergessen Sie die Welt ‚an sich‘. Beispiel (zugegeben ein etwas kurioses): Welchen Stellenwert hat die Relativitätstheorie für eine Ameise? Antwort: keinen. Also ich meine, überhaupt keinen. Genauso ist es mit dem Kantschen ‚Ding an sich‘. Es hat für uns keinerlei Stellenwert, also können wir es aus unserem Denken ausschließen und nur die Welt ‚für uns‘ annehmen, da alles andere für uns weder relevant noch erkennbar ist.
Wenn wir nun uns selber als ganzheitliche Einheit betrachten, sind wir in der Lage, jeden einzelnen Aspekt unserer Existenz einzeln zu betrachten. Denken wäre dann physiologisch, psychologisch, neurologisch etc.pp. beschreibbar, synthetisch mit ein und derselben Kategorie. Auch das ICH wäre auf diese Art ganz- und einheitlich darstellbar: Im Sinne Freuds als Strukturbegriff, neuropsychologisch womöglich als Akkumulation von Mustern, informationstheoretisch (mit Tononi) als maximale Informationsdichte etc. Das ICH entsteht dann nicht als Illusion, sondern als Eigenschaft eines strukturierten Gehirns.