Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners
Heinz von Foerster und Bernhard Pörksen haben 1998 ein Buch geschrieben, dessen Grundgedanken ich im Artikel Skeptiker über Religion aufgegriffen habe: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker.
Auf Seite 30 kommt Heinz von Foerster zu Wort: „Meine Auffassung ist in der Tat, dass die Rede von der Wahrheit katastrophale Folgen hat und die Einheit der Menschheit zerstört. Der Begriff bedeutet – man denke nur an die Kreuzzüge, die endlosen Glaubenskämpfe und die grauenhaften Spielformen der Inquisition – Krieg. […] Ja – und auf einmal stehen die großen Armeen der Gläubigen einander gegenüber, sie knien nieder und beten beide zu ihrem Gott, dass die Wahrheit, dass ihre Wahrheit siegen möge. – Wer hat recht? […] Um diese Frage zu entscheiden wird geschlachtet und geschlachtet.“
In seinem Buch Die große Gereiztheit von 2018 geht Bernhard Pörksen gnädiger mit dem Wahrheitsbegriff um. Er meint wohl, ihn als Waffe gegen die internetinduzierte „Wahrheitskrise“ und das entfesselte Bestätigungsdenken zu benötigen. Für ihn ist die „prinzipielle Fraglichkeit von Wissen und Wahrheit unvermeidlich. […] Sie kann das Weltbild des Dogmatikers produktiv erschütterten; sie kann von der Diktatur der Monoperspektive befreien und als Bereicherung und als Stimulus eines Aufbruchs in Richtung der autonom fabrizierten Erkenntnis verstanden werden. Aber die Konfrontation mit Kontingenz vermag eben auch, dies ist die menschlich wahrscheinlichere Reaktion, zu verstören und zu schockieren, wird doch die Ruhebank fester Wahrheiten vor aller Augen demoliert.“ (S. 44)
Auf Seite 52 spricht Pörksen vom kommentierenden Sofortismus: „Man interpretiert unmittelbar und viel zu schnell. Die unvermeidliche noch vorhandene Unübersichtlichkeit der Lage wird durch scharfe, mit maximalem Wahrheitsfuror formulierte Ad-hoc-Kommentare überspielt – ganz so, als ließe sich im Akt des Kommentierens und des Instant-Interpretierens wieder Sicherheit gewinnen, als sei das noch diffuse, ungeklärte Ereignis die entscheidende Gelegenheit, um ohnehin schon vorhandene Deutungsmuster, ungetrübt von präziser Kenntnis, zu stabilisieren.“
Auf Seite 191 kommt er dann zum Prinzip der Wahrheitsorientierung, „das in journalistischen Ethikkodizes auftaucht“. Wahrheitsorientierung bedeute, „unabhängig von allen erkenntnisphilosophischen Grundsatzfragen, nach bestem Wissen und Gewissen unter Verwendung unterschiedlicher, möglichst vielfältiger, voneinander unabhängiger Quellen zu beschreiben, was man vorfindet, dies in dem Wissen, dass absolute Gewissheit unerreichbar bleiben muss.“
So gesehen ist Wahrheit bestenfalls ein regulatives Prinzip. Nach Karl Raimund Popper geht es um die Annäherung an ein Ideal, an die Realität. Wir haben nur fehlbares Wissen darüber. Man kommt leicht auch ohne Wahrheitsbegriff aus.
Robustes Wissen
Pörksen ahnt offenbar, dass er den Wahrheitsbegriff eigentlich gar nicht braucht. Er setzt ihn in seinem Debattenbeitrag zu „Keine Wahrheit ohne Gatekeeper“ (DER SPIEGEL 3/2022, S. 50 f.) mit robustem Wissen gleich. Genauer: „Das Konzept von Wahrheit im Sinne von robustem Wissen ist im öffentlichen Raum unverzichtbar.“ Was unter robustem Wissens zu verstehen ist, muss ich hier nicht weiter ausbreiten. Karl Raimund Poppers objektive Erkenntnis trifft es ziemlich gut, und davon war in diesem Hoppla!-Blog schon ausgiebig die Rede.
So weit, so gut. Leider macht Bernhard Pörksen einen Schwenk und distanziert sich von seinem distanzierten Verhältnis zum Wahrheitsbegriff. Er bezeichnet es als eine Illusion, dass es ohne Wahrheit gehe. Es sei an der Zeit, wieder mit Verve um Gewissheit und Wahrheit zu ringen. Sein Schuldeingeständnis: „Manche meiner Bücher scheinen mir seltsam aus der Zeit gefallen.“ Damit meint er wohl insbesondere das hier eingangs Zitierte.
Filterblasen und Echokammern
Wer beschreiben soll, was für ihn Wahrheit ist, wird immer auf das ihm verfügbare Wissen zurückgreifen. Weiter als bis zum robusten Wissen wird er nicht kommen. Wenn zwei Wahrheiten aufeinandertreffen, zählen die Argumente. Meine Erfahrung ist, dass sich hartgesottene, in ihre Filterblase eingschlossen Verschwörungstheoretiker durch noch so gute Argumente nicht beeindrucken lassen, neugierige Unentschiedene aber schon.
Der Wahrheitsbegriff hilft in der Diskussion mit Querdenkern nicht weiter. Das sind Leute, die ja gerade glauben, ein Monopol auf die Wahrheit zu besitzen. Die alternativen Fakten der Kellyanne Conway tun ein Übriges: Der Wahrheitsbegriff wurde insbesondere unter Donald Trump diskreditiert und für den Gebrauch in Debatten vergiftet.
Gerade Verschwörungstheoretiker bezeichnen sich als Truther, als Wahrheitsbesitzer. Beispielsweise vermeinen diese Leute, genau zu wissen, dass hinter den Anschlägen auf das World Trade Center in New York (9/11) der Staat steckt, dass es also eine Operation unter falscher Flagge war.
Aus der Zeit gefallen
Keiner hat uns besser erklärt als Bernhard Pörksen, dass es voraussetzungslose Wahrheit nicht gibt. Mit seinem Mea-culpa widerspricht er sich. Schade. Die Wissenschaft ist nun einmal ein Pfeilerbau in sumpfigem Gelände. Festen Grund, die Wahrheit lässt sie nicht erwarten, robustes Wissen aber schon. Die Anrufung der Wahrheit vertieft die Spaltung der Gesellschaft und das ist das Letzte, was wir jetzt gebrauchen können.
So gesehen scheint der Spiegel-Beitrag des Bernhard Pörksen aus der Zeit gefallen zu sein.
In SPIEGEL-Heft 5/2022 sind neben meinem Diskussionsbeitrag zwei weitere Meinungsäußerungen erschienen. Diese unterstreichen Pörksens Position und machen so die Bruchlinien zwischen den Standpunkten gut sichtbar.
Johannes Rosenboom, Bonn, schreibt: „Eine falsch verstandene Toleranz gegenüber jedem noch so abwegigen Geschwurbel, ein stoisches Negieren von Fakten aus falsch verstandener Deutungs- und Meinungsfreiheit, angereichert durch einen verzerrten, da hoch egoistischen, hyperindividuellen Freiheitsbegriff, lässt uns nicht nur weit hinter die Errungenschaften der Aufklärung zurückfallen, sondern wird uns in den Abgrund führen.“
Theodor Payk, Bonn, sieht es ähnlich: „Diesem Beitrag [von Bernhard Pörksen] wäre noch hinzuzufügen, dass sich die Vernebelungsmaschinerie der Boulevardpresse und der digitalen Medien um die Ursachen der grotesken Verdrängungen, Desinformationen und Verleugnungen der »existenziellen Gegenwartskrisen« besonders verdient macht. Der öffentliche Rundfunk kommt leider seinem Auftrag zur Vermittlung von Wissen nur feigenblattmäßig nach – sofern die regionalen Talkrunden oder stundenlangen Glitzerspektakel nicht dialektisch als besonders raffinierte Aufklärungsbeiträge interpretiert werden.“
Meine 2 Cent: Ich kann nicht sehen, dass z.B. ein Mordprozess ohne den Wahrheitsbegriff auskommt. Auch im Alltag scheint der Wahrheitsbegriff pragmatisch unverzichtbar. Von Foerster vertritt einen radikalen Konstruktivismus, dem man nicht zuzustimmen braucht, da er auch nur eine Konstruktion darstellt (Problem der Selbstanwendung).
Zwei widersprüchliche Aussagen können nach der praxisbewährten klassischen Logik nicht beide wahr sein. Daher können auch nicht „zwei Wahrheiten aufeinander treffen“. Es können aber sicher zwei Überzeugungen aufeinander treffen. Die Inauguration von Trump kann nicht zugleich deutlich mehr und deutlich weniger Teilnehmer gehabt haben als die Obama-Inauguration. Das Konzept der alternativen Fakten ergibt wenig Sinn. Es werden aber sicher widersprüchliche Tatsachenbehauptungen getätigt. Der Begriff der Tatsachenbehauptung ist auch in der Rechtsprechung gebräuchlich.
Tatsachenaussagen sind allerdings bislang alle irrtumsbehaftet. Lese-Empfehlung: Geert Keil: „Wenn ich mich nicht irre. Ein Versuch über die menschliche Fehlbarkeit“, Reclam.
Schöne Grüße
Das ist alles ganz richtig. Im Hoppla!-Artikel Glaube, Wahrheit, Wissen: ein Klärungsversuch hatten wir das doch schon ganz gut sortiert.
Regeln, Axiome, Voraussetzungen, Dogmen: Alles was schlüssig daraus abgeleitet werden kann, ist in einem solchen Denkrahmen wahr. Aber hier geht es ganz offensichtlich um den Denkrahmen selbst. Für die Welterklärung haben der Realist und auch der Theist einen solchen Denkrahmen. Für diese Leute wird die Wissenschaft zur Wahrheitssuche. Dem Skeptiker geht ein solcher übergeordneter Denkrahmen ab. Er hat nur die Wissenschaft – ohne Wahrheitsanspruch.