Kettenbrüche oder Kettenwurzeln sind für den Mathematiker kein Problem, solange sie endlich sind. Zur Berechnung beginnt man hinten bzw. rechts unten und arbeitet sich Schritt für Schritt bis zum Anfang vor. Die unendlichen Kettenausdrücke machen es einem nicht so einfach. Wo beginnen?
Wenn der unendliche Kettenausdruck sukzessive durch eine Folge endlicher Kettenausdrücke gewonnen worden ist, haben wir ein Rezept: Wir können die Folgenglieder dem Kettenausdruck entnehmen und ihren Grenzwert berechnen. Das einzig Bemerkenswerte an unendlichen Kettenbrüchen ist, soweit ich sehen kann, ihre Unhandlichkeit. Meistens gibt es elegante Lösungswege, die an ihnen vorbeiführen.
Schauen wir uns den unendlichen Kettenbruch des folgenden Bildes an: 1+1/(2+1/(2+1/(2+…))). Den gesamten Ausdruck setzen wir gleich x und den Bruch gleich u. Es ist x=1+u und u = 1/(2+u). Dabei nutzen wir aus, dass auf der ersten (tiefgestellten) Schachtelungsebene genau derselbe Bruch steht, wie ganz oben. Daraus folgt 1=(x-1)(x+1) = x2-1. Also: x = √(2). Für die Berechnung der Wurzel aus 2 haben wir nun wirklich effizientere Verfahren als dieses Ungetüm von Kettenbruch, beispielsweise das Newton-Verfahren (babylonisches Wurzelziehen).
Schlimmer noch scheinen mir die Kettenwurzeln zu sein. Aber es gibt Liebhaber dieser Konstruktionen. Nehmen wir die im Bild dargestellte unendliche Kettenwurzel √(1+√(1+√(1+…))).
Ich will mich nicht damit aufhalten, diese zur Folge aufzudröseln. Ich setze voraus, dass die Folge gegen einen Grenzwert x konvergiert. Dann kann man schreiben: x = √(1 + x). Quadrieren und alles auf die linke Seite bringen ergibt: x2–x-1=0. Die Lösung x dieser Gleichung ist gleich dem Streckenverhältnis des goldenen Schnitts. Dank dieser Entdeckung hüpft das Herz des Zahlenmystikers vor Freude!
Soweit haben wir die unendlichen Kettenwurzeln problemlos als Folgen interpretieren können. Das dürfen wir, solange wir nur die nicht negativen Werte von Wurzeln berücksichtigen. Dadurch ist jeder Folgenwert eindeutig bestimmt.
Schauen wir uns nun die zweite Kettenwurzel des Bildes an: √(i√(i√(i…))). Bereits das erste Glied der Folge, nämlich √(i) erlaubt keine so einfache Interpretation. Mit i wird hier die imaginäre Einheit bezeichnet. Das heißt aber auch, dass wir uns nun nicht mehr auf die Werte der positiven reellen Achse beschränken können. Wir müssen alle Werte der komplexen Ebene in die Betrachtung einbeziehen. Mit jeder Wurzel verdoppelt sich die Zahl der Ergebniswerte: √(1) = {1, -1}, √(-1) = {i, -i}, √(i) = {(1+i)/√(2), -(1+i)/√(2)} usw.
Ich will das nicht vertiefen, aber eins steht fest: Eine Interpretation der Kettenwurzel als Folge im herkömmlichen Sinn ist unmöglich, weil die Konvergenz nicht definiert ist. Die weiterführende Betrachtung zeigt, dass sich mit jedem weiteren Folgenelement die Anzahl der Wurzeln verdoppelt und dass alle diese Wurzeln auf dem Einheitskreis liegen.
Hätten wir vorausgesetzt, dass es eine Lösung gibt, dann hätten wir diese Lösung sofort finden können: x = √(ix). Daraus ergeben sich die zwei Lösungsvarianten x = i und x = 0. Die Lösung x = 0 können wir ausschließen, wenn wir die unendliche Kettenwurzel als Folge interpretieren, denn dann muss die Lösung auf dem Einheitskreis der komplexen Ebene liegen. Aber diese Interpretation ist meines Erachtens keineswegs zwingend.
Ich schließe mit der Bemerkung, dass ein Ausdruck wie die unendliche Kettenwurzel für sich gesehen ziemlich sinnlos ist. Man muss schon dazu sagen, wie er interpretiert werden soll, beispielsweise als Grenzwert einer Folge.
Christoph Pöppe hat unter „Mathematische Unterhaltungen“ einen Artikel über Kettenwurzeln geschrieben: Spektrum der Wissenschaft 2/2019, S. 68-71. Und dann gibt’s noch dieses Lehrvideo von Michael Penn: Nested square roots of i. (17 min)