Meine Generation – ich bin Jahrgang 1944 –, also die noch mit der Bewusstlosigkeit des Säuglings bzw. Kleinkindes in den im wahrsten Wortsinn ausblutenden 2. Weltkrieg Hineingeborenen, kennt Krieg nur im Sinne der aus ihm entstandenen Konsequenzen, also Armut, Besitz- und/oder Heimatverlust, Zerstörung, kollektive Schuldkomplexe usw. Leben als Kind nach 1945 hieß für mich mehr oder weniger unbegleitetes Aufwachsen im Mangel. Aber weil ich eben hineingeboren war in diesen Mangel und er für mich das Normale war, sind meine Kindheit und Jugend bis in die Fünfzigerjahre hinein alles andere als Leidensjahre. Ich hatte das Glück, in einem kleinen hessischen Dorf Kind und Grundschüler zu sein, und in meiner Erinnerung war mein Kinderleben vorwiegend ein großes Abenteuer mit allen Genüssen und Blessuren, die Abenteuer eben mit sich bringen.
In der Oberstufe meines Gymnasiums Anfang der 60er-Jahre waren sowohl Religion als auch Philosophie reguläre Pflichtfächer, und in beiden Fächern lernte ich dank hervorragender Lehrkräfte (wieder hatte ich Glück) einen ersten Umgang mit dem Nachdenken über Krieg, Schuld, Deutschsein und damit verwandten oder daraus abgeleiteten Themen. Und ein drittes Mal begünstigte mich das Schicksal, indem ich einen einjährigen USA-Aufenthalt erleben konnte in einer gutbürgerlichen, sehr aufmerksamen, liebenswerten Familie, in einer vorstädtischen amerikanischen Highschool. Zusätzlich gehörten zu diesem Jahr viele Begegnungen mit „Kollegen“ aus etwa 60 Ländern (von Indonesien bis Japan, Äthiopien bis Sierra Leone, Griechenland bis Norwegen, Mexico bis Chile). Sein Ende fand dieses Jahr schließlich zuerst mit einer einwöchigen Busreise bis Washington DC, wo wir alle (etwa 2000) von Präsident Kennedy empfangen wurden; danach fuhr ich mit ca. 800 europäischen und afrikanischen Glückspilzen in einer 8-tägigen Dampferfahrt zurück nach Hause. Bedeutsam ist hier der Hinweis, dass alle 2000 aus 60 Ländern, alle so um die 18, das amerikanische Schuljahr hinter sich und somit eine gemeinsame Sprache (englisch bzw. amerikanisch) hatten. Wir fühlten uns als die Welt, eine großartige Welt, nicht als Repräsentanten von irgendwelchen Nationen.
Natürlich kann ich das nicht belegen, aber es ist für mich auf jeden Fall nicht vorstellbar, dass einer dieser 2000 18-Jährigen aus 60 Ländern etwas anderes geworden ist als ich, nämlich Pazifist. Und es ist mein Leben lang nichts anderes für mich denkbar gewesen, als Pazifist zu sein, auch nicht während schlimmer Rückschläge (Vietnam, Afghanistan, Irak), besonders aber und umso mehr nicht, als Glasnost und Perestroika Anfang der 90er-Jahre Krieg als Weltereignis undenkbar haben werden lassen. Und natürlich wollte ich manchmal einen großen Knüppel auspacken, um etwa skrupellose Diktatoren, halsabschneidende Kapitalisten oder irre Kampfreligiöse am liebsten zu erschlagen. Aber Massenmord – nichts anderes ist Krieg – als durch irgendetwas gerechtfertigt zu sehen, wäre mir, dem zeitweiligen Hippie, nicht in den Sinn gekommen.
Und nun kommt eine russische Oligarchen-, Agenten- und Militaristenclique daher, gehirnwäscht womöglich eine Mehrheit der Bevölkerung dieses Riesenlandes und schlägt rücksichtslos um sich, einer wiederbelebten Großmachtphantasie zuliebe. Ob aus Kalkül oder Verbohrtheit (anerkannte oder selbsternannte Fachleute streiten darüber) gibt sich diese Clique unerreichbar für jeden Verständigungsversuch, der nicht der Erfüllung jener Großmachtphantasie entspricht. Und weil mir meine Wahrnehmung der Gesamtlage jede Hoffnung auf ein irgendwie „gütliches“ Ende dieses Wahnsinns nimmt, sehe ich mich urplötzlich und völlig unvorbereitet vor die Frage gestellt, ob rigoroser Pazifismus dieser Situation weiterhin angemessen sein kann. Ich finde mich völlig überfordert, mich entscheiden zu müssen, was schlimmer ist: entweder Krieg, Zerstörung und Demütigung oder womöglich Auslöschung eines 40-Millionen-Volkes, und ahnungslos, ob es danach wenigstens überstanden ist oder doch nur woanders weitergeht; oder eine absolut unberechenbare Kriegsgefahr mit der Aussicht auf eine globalen Katastrophe. Es ist ein wahrhaft furchterregendes Dilemma: Es gibt zwei Möglichkeiten, beide lassen nur Verzweiflung, und beide können nur fatal enden.
Vor einiger Zeit machte ein Filmereignis, „Ihr Urteil“, im Fernsehen Schlagzeilen, weil es offen endete und den Zuschauern die Entscheidung überließ zu beurteilen, was richtig ist. Der Jurist und Schriftsteller Ferdinand von Schirach wirft darin die Frage auf, ob es ethisch vertretbar ist, ein paar hundert Flugzeugpassiere zu opfern für die Verschonung von ein paar tausend Stadionbesuchern. Anders ausgedrückt: Lassen sich 164 Menschenleben aufrechnen gegen 70.000, wozu unsere Verfassung ein eindeutiges Nein bereit hält, während eine Volksmehrheit das anders sieht und Staatsrechtler damit aus der Fassung bringt: Terror – ein moralisches Dilemma
Auch dieses Szenario ist ein Dilemma, und es ähnelt dem Ukrainedilemma durchaus, weil das Leid von 40 Millionen Ukrainern aufgerechnet werden soll gegen möglicherweise Milliarden Tote weltweit. Wenn die Putin-Clique wirklich so tickt, wie sie den Eindruck macht oder zu machen versucht, sind ihr sowohl 40 Millionen als auch ein paar Milliarden völlig egal, ob sie die Ukraine nun irgendwann erfolgreich niederwalzt oder mit diesem Ansinnen scheitert. Es ist also nicht abwegig zu bezweifeln, dass ein Kleinbeigeben jetzt den atomaren Rundumschlag irgendwann danach zuverlässig verhindert. Weil wir nicht wissen, was geschehen wird, sondern nur mutmaßen können, kann jede Reaktion der NATO genau die falsche sein.
Wer angesichts derartiger Dilemma-Situationen für sich in Anspruch nimmt, seine Lösung sei die einzig richtige, muss sich fragen lassen, woher er diese Gewissheit nimmt. Wenn allein die Logik bei einer Entscheidung nicht weiterhilft, muss die Intuition, das Bauchgefühl oder das Abwägen verschiedenster bisheriger Erfahrungen in mehr oder weniger ähnlichen Situationen her. Eine dritte Instanz haben wir nicht, um die Wahrscheinlichkeit von Zukunftsereignissen abzuwägen. Für die meisten Allerweltsentscheidungen menschlichen Zusammenlebens reicht die eine oder die andere, manchmal auch eine aus beiden Entscheidungsinstanzen extrahierte Lösung. Und wenn nicht, geht eben im schlimmsten Fall dann doch nicht gleich die Welt unter. Mit dem Ukraine-Dilemma ist es leider anders, wie man befürchten muss. Weder Kopf noch Bauchgefühl liefert eine wahrscheinliche oder gar verlässliche Antwort.
Wer für Nachgeben, Deeskalieren, Befrieden um jeden Preis votiert, weil der mögliche Preis fürs Hartbleiben zu hoch erscheint, drückt sich vor einer fatalen Frage: Was ist denn letztlich die Grenze, ab der dann wirklich Schluss mit Nachgeben ist? Oder sind wir moralisch gar nicht berechtigt, derartige Grenzen überhaupt zu ziehen? Der Volksmund, das kollektive Menschheits-Wir, wenn man so will, hat für diese Art von Dilemma eine wunderbar einfache Frageformel: Ende mit Schrecken oder Schrecken ohne Ende?
Ich jedenfalls weiß zurzeit keine Antwort darauf.
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