Die aktuelle Nachrichtenlage ist geprägt durch eine unglückselige Vermengung von Tatsachen mit Emotionen. Was ich lese, höre oder sehe ist ein Ergebnis des Affektjournalismus. Es werden herzzerreißende Bilder aus den Straßen von Butscha gezeigt, verbunden mit einer Forderung nach mehr und schwereren Waffen für die Ukraine: Haubitzen, Panzer, Flugzeuge.
Das Publikum soll den Eindruck gewinnen, dass dadurch Leid zu vermeiden sei. Seine Empathie wird für den Waffengang mobilisiert, seine Aufmerksamkeit auf die aktuelle Not gelenkt, weg von einer Analyse der Ursachen und der möglichen Konsequenzen. Das Bild der Realität verliert seine Schattierungen, sie weichen einem harten Schwarz-Weiß: Es gibt nur noch Freunde und Feinde. Die eine Seite hat Recht und ist im Besitze der Wahrheit. Unrecht und Lüge sind auf der anderen Seite.
Hier muss der Skeptiker einhaken. Er will sich an die Fakten halten. Das aber ist ihm nicht so ohne Weiteres möglich, denn er ist auf einer Seite eingeschlossen, nämlich auf der Seite der Wahrheitbesitzer. (Das ist immer so, egal ob in Ost oder West.) Ihn erreichen nur leise Zweifel der eigenen Leute und die gefilterten Gegenwahrheiten der anderen Seite.
Um dem Eingeschlossensein zu entkommen, könnte er die Attribute wahr und falsch einfach vertauschen und sich mit der Gegenseite solidarisieren. Aber da ist kein Entkommen. Das Gefängnis wäre nur ein anderes und womöglich ein noch viel hässlicheres. Um zu sehen, wie er rauskommen könnte, müsste er die Grautöne des Bildes der Realität wieder herstellen.
Zwei Regeln können ihm dabei helfen:
1. Emotionen von den Fakten trennen und der Reflexion den Vorrang vor der Intuition einräumen.
2. Die Unschuldsvermutung für das eigene Tun und das der eigenen Seite aufgeben.
Die Hoppla!-Artikel seit April sind Versuche in diese Richtung. Berichtenswert ist auch der Streit um John Mearsheimer, der den Ukraine-Krieg kommen sah.
Persönlicher Rückblick: Staatspropaganda verabscheue ich seit diesen Tagen
Um den XX. Parteitag der KPdSU herum, verschwand Stalin aus dem Bild. Zu der Zeit wurde ich aus der DDR in die BRD „verschleppt“. Karl May wurde mir wichtiger als Karl Marx. An die Stelle von Spartacus aus dem Geschichtsunterricht trat Old Jed der Trapper vom Bertelsmann Buchclub.
Nachrichten wie die folgende verdienen einen zweiten Gedanken. Man fragt sich, wie sie es in den publizistischen Mainstream schaffen
Welt vom 15.5.22: „Russland hat das Asow-Stahlwerk in der Hafenstadt Mariupol nach ukrainischen Angaben mit Phosphorbomben beschossen. Die Geschosse seien zuvor mit ESC-Aufschriften versehen worden.“
Dafür, wie es zu diesen Aufschriften gekommen ist, gibt es viel plausiblere Hypothesen als die hier angebotene.
Hinweise findet der Leser im Focus-Bericht vom selben Tag: „Die Bilder kursieren seit dem Sonntagvormittag im Internet. Demnach soll das russische Militär damit auf den Sieg der Ukraine beim Eurovision Song Contest (ESC) reagiert haben. Es war zunächst nicht klar, woher diese Fotos stammten. Auf den mutmaßlichen Bomben war demnach auf Russisch zu lesen: „Kalusha, wie gewünscht! Auf Azovstal“ und auf Englisch „Help Mariupol – Help Azovstal right now“ (auf Deutsch: Helft Mariupol – Helft Azovstal sofort) mit dem Datum 14. Mai. Der Sänger der beim ESC siegreichen Band Kalusha Orchestra hatte auf der Bühne in Turin diese Worte in einem Appell gesagt.“
Journalisten sind eben keine Wissenschaftler, sie sind getriebene der Aufmerksamkeitsökonomie.
Werkzeuge wie folgt scheinen Ihnen vollkommen unbekannt:
https://en.wikipedia.org/wiki/Occam%27s_razor