Moralchauvinismus

Streit ist ein Privileg der Demokratie. Ich liebe diesen Satz, weil ich den fruchtbaren Streit und die fein entwickelte Streitkultur schätze. Durch die sozialen Medien ist diese Kultur bedroht. Fundsachen werden zu Meinungen. Der internettypische Koagulationsprozess führt zu Zusammenrottung von Leuten gleicher Meinung, die sich wechselseitig mit Herzchen und Daumenhoch-Symbolen auszeichnen und die Andersdenkende verachten. Die Meinung der anderen dient nicht mehr als Wetzstein für die eigene Sicht, sondern wird bedingungslos bekämpft – bis zur Vernichtung.

Da ein Kampf bis aufs Messer mehr Unterhaltungswert hat als ein freundschaftlicher Meinungsaustausch, folgen die auf Einschaltquoten fixierten öffentlichen Medien diesem Trend. Einen Tiefpunkt bietet Markus Lanz am 2. Juni 2022.

Ulrike Guérot richtet in dieser Talkshow den Blick von der Ukraine auf Europa, auf die NATO und auf Amerika. Bekanntlich gilt ja Europa als Amerikas essentieller geopolitischer Brückenkopf auf dem eurasischen Kontinent.

Guérot beklagt die „eng geführte Debatte“, in der nur der militärische Sieg der gute sei. Für sie liegt „der Schlüssel des Problems in Amerika“ und deshalb müsse es ein Gespräch zwischen Biden und Putin geben. Daraufhin leitet der Gastgeber mit der Bemerkung „Wer fängt an“ ein  Schlachtfest ein. Frau Guérot wird von ihm und den Talkshowgästen Marie-Agnes Strack-Zimmermann und Frederik Pleitgen in moralischem Furor lautstark niedergemacht (ab 15. Minute).

Es fällt auf, dass der sonst so coole Markus Lanz sehr emotional argumentiert: „… und fünf Minuten später wird man Zeuge, hochschwanger, wie der eigene Ehemann brutal … mit dutzenden Kugeln durchsiebt und erschossen wird… Hat das irgendetwas mit der NATO zu tun?“

Empathie kann zum Moralchauvinismus verkommen, wenn sie nicht durch rationale Überlegungen begleitet ist: Rache erscheint als moralisch geboten. Über Vehandlungsangebote auch nur zu reden, verbietet sich dann von selbst. Wir haben es mit einer Spielart der Cancel Culture zu tun: Unliebsamen Meinungen wird die öffentliche Plattform entzogen; sie werden als ungeheure Dummheit abqualifiziert.

Zusatz für „Skeptiker“ (muss nicht jeder verstehen): Moralchauvinismus ist ein Mittel der Komplexitätsreduktion, also etwas, das man beispielsweise bei Verschwörungstheoretikern verabscheuungswürdig findet.

Die Rheinische Post zitiert aus der Ukraine-Streiterei bei „Lanz“ („Nur wir in Deutschland sind immer noch bei schwerem Gerät“) und wendet sich frühzeitig ab.

Die Berliner Zeitung schreibt: „Ulrike Guérot war offenbar nur zu einem Zweck eingeladen worden: nämlich um ein Exempel an ihr zu statuieren.“

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6 Antworten zu Moralchauvinismus

  1. Rainer Gebauer sagt:

    Die Vokabel „Moralchauvinismus“ finde ich eine wunderbare Bereicherung für die Ukraine-Krieg-Debatte. Das Fatale bei dieser Debatte ist, dass es uns Europäern so schwer fällt, die innenpolitischen Interessen jeder US-Regierung klar zu benennen, wenn es um deren außenpolitische Entscheidungen geht. Sehr empfehlenswert dazu: Klaus von Dohnanyi hier https://www.youtube.com/watch?v=bpjUfnoiZKU

  2. Matthais Friedrich sagt:

    „Unliebsamen Meinungen wird die öffentliche Plattform entzogen; sie werden als ungeheure Dummheit abqualifiziert“

    Im Beispiel Ulrike Guérot und Markus ist es noch viel schlimmer: Hier wurde die öffentliche Plattform nicht entzogen sonder bewusst genutzt, um die „ungeheure Dummheit“ darzustellen.

    Man wollte offensichtlich zeigen: Wer so argumentiert, steht ganz allein da…
    Ich glaube aber, in diesem Fall wurde der Bogen etwas überspannt, es war zu offensichtlich.

  3. Eike Grams sagt:

    Ich bin mir nicht sicher, ob man das nicht ein wenig tiefer hängen kann.
    Immer wenn jemand unpopuläre Meinungen vertritt oder sehr zugespitzt in der Öffentlichkeit argumentiert und dafür hart angegriffen wird, wird neuerdings von Cancel-Culture gesprochen. Komiker, Schauspieler und Politiker nutzen diesen Begriff als absolutes Totschlagargument, um genau das zu bewirken, was sie den anderen Vorwerfen. Sie wollen den Widerspruch an sich diskreditieren. Es ist nämlich auffällig , dass diejenigen die am lautesten darüber jammern auch nach wie vor gut zu hören sind. Dass auf der anderen Seite der Widerspruch auch mir zuweilen zu emotional und oft auch zu platt daherkommt ist ein anderes Thema.
    Wer in den Boxring steigt sollte mit Faustschlägen rechnen.

  4. Alexander Osipowicz sagt:

    Da gibt es ein Brettspiel „Risiko“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Risiko_(Spiel)). Spieler sitzen um einen Tisch mit geografischen Spielbrett und versuchen möglichst große Gebiete darauf mit ihren Truppen zu besetzen. Ähnlich und etwas komplizierter scheint die mentale Szenario bei vielen beschaffen zu sein, die für sich eine „realistische“ Betrachtung des russo-ukrainischen Krieges reklamieren. Und ihnen ist auch klar, dass da Putin und Biden (besser: die USA) am Tisch sitzen.
    Die Risiko-Spieler haben einen großen Vorteil: Es gibt keinerlei Bevölkerung, die sie zu berücksichtigen hätten. Die wirklichen Verhältnisse sind ganz anders: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben sich an der ihre Westgrenze Staaten und Nationen mit einer geänderten und eigenen Identität herausgebildet. Der Auslöser war der zwar der Zusammenbruch, aber die oft schmerzhaften Unabhängigkeitsbestrebungen gibt es schon lange. Im Falle der Ukraine mehrere hunderte von Jahren. D. h.: hier sind Kräfte vorhanden, die sich nicht so einfach in der „realistisch“ Geopolitik abschätzen lassen.
    Meiner Meinung nach sehr schön herausgearbeitet wurde das von Richard David Precht in dem Interview mit dem Politologen Ivan Krastev. (https://www.zdf.de/gesellschaft/precht)

    • Timm Grams sagt:

      Realisten der Geopolitik haben meines Erachtens durchaus treffende Argumente. Ich denke an John J Mearsheimer. Andrew Bacewich liegt wohl auch nicht gänzlich daneben:

      https://m.youtube.com/watch?v=kCntlkpdr0k&feature=youtu.be

      Laut Bacewich trägt die Ukraine die Konsequenzen der NATO Osterweiterung.

      Im Precht-Interview schließt der Politologe Ivan Krastev an die Beurteilung der Geostrategen an. Er spricht von Einflusssphären und von der Ausdehnung der NATO. Aber dann weitet er den Blick auf Psychologie und Sozialpsychologie. Er meint, Putin wolle dem Westen eine Lektion erteilen, indem er genauso lügt wie der Westen das getan hat, beispielsweise zu Beginn des Irak-Krieges. Putin sei besessen von der Idee der Demütigung, der Erniedrigung Russlands. Der Ukraine andererseits gehe es um Entkolonialisierung und um die Gewinnung einer neuen Identität.

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