Sie will einen Rock kaufen, in einem der großen Kaufhäuser Mannheims. Da hängt ein Rock, und noch ein Rock, und noch einer, und noch einer; es scheint nicht aufzuhören. Die Auswahl ist riesengroß. Wer Fulda und Schlitz gewöhnt ist, den kann hier schon der Mut verlassen. Der durch den Großstadtbetrieb konditionierte Mensch kann es vielleicht nicht verstehen: sie kapituliert und verzichtet auf den Rock.
Denken tut weh
Entscheiden in einer vielfältigen Welt ist anstrengend. Dem großstädtischen Wohlstandsbürger fällt es vielleicht nicht mehr auf, denn er ist ja trainiert und die Anforderungen gewohnt. Das Erlebnis in Mannheim führt mir aber schlagartig vor Augen, was wir uns eigentlich antun, um eine hochdrehende konkurrenzgetriebene Wirtschaft am Laufen zu halten.
Wir haben uns in der Demokratie eingerichtet und fühlen uns wohl dabei. Es erscheint unvorstellbar, dass es sich in Gesellschaften mit weniger individuellen Freiheiten glücklich leben lässt. Das üppige Konsumangebot und das ständige Wachstum haben ihren Preis, wie am verhinderten Rockkauf zu sehen ist.
Ratlosigkeit im Supermarkt: ca 10 Sorten Butter, eine eher noch größere Vielfalt beim Joghurt, von den Obstsäfte und Biersorten gar nicht erst zu reden. Wir sind auf diese scheinbare Fülle konditioniert und kommen im Alltag ganz gut damit zurecht. Aber wehe, wir weichen von der Alltagsroutine ab, dann wird es anstrengend. Will man ausnahmsweise einmal keinen Hartkäse sondern Camembert, wird die Vielfalt zur Belastung.
Wir, die wir uns in demokratischen Gesellschaften behaglich eingerichtet haben, können uns nicht vorstellen, dass es Leute gibt, die totalitäre oder autokratische Systeme bevorzugen. Die aber gibt es augenscheinlich. Ist es etwa nicht gut, wenn einem jemand Entscheidungen und die Verantwortung dafür abnimmt?
Die Rolle der Erziehung
Ich habe meine Kindheit in der DDR erlebt. Gelernt haben wir, das Gemeinschaftseigentum hoch zu schätzen. Ich fühlte mich als Miteigentümer der Straßen und Häuser und auch des Landheims. Das war ein gutes Gefühl. Ich fand es schön, in der Gemeinschaft aufgehoben zu sein.
Dann erwachte mein Eigensinn. Durch die Verwandtschaft im Westen kam der Blick auf die dort verfügbaren Güter. Das Ideal der Gemeinschaft wurde in meinem Kopf durch die mangelhafte sozialistische Praxis verdrängt. Aber in Erinnerung bleibt dennoch, dass das Gemeinschaftsdenken gegenüber dem Individualismus sehr attraktiv sein kann.
Dumme Schwärme
Denkfaulheit, Entscheidungs- und Verantwortungsscheu sind gut für Autokratien.
Im Artikel über über den Schwarm habe ich den kühnen und unbelegten Verdacht geäußert, dass auch die Schwarmbildung im Tierreich unter anderem an der „Denkfaulheit“ liegen könnte.
Wir bleiben bei den menschlichen Gesellschaften.
Buch und Film Fahrenheit 451
handeln von einer mit Hilfe von Reality Shows und Mitmachfernsehen paralysierten Gesellschaft. Die Leute hocken dämlich aber glücklich vor ihren Bildschirmen – eine Dystopie, die ich nach einigem Überlegen gar nicht mehr so schwarzseherisch fand. Ich fragte mich: Was ist denn an einer bücherlosen Welt so schlimm, wenn die Menschen vor ihren Bildschirmen glücklich sind? Nach weiterem Überlegen fand ich dann heraus, dass es doch schlimm ist. Zwischenzeitlich habe ich etwas von der Verführungskraft der Autokratie erfahren. Populismus und die identitären Bewegungen in den USA, in Frankreich bei uns in Deutschland, in der Türkei, in Polen, in Ungarn lassen sich nicht leicht abtun. Es ist eben bequem, das Denken, die Entscheidungen und die Verantwortung anderen zu überlassen.
Die Russen und die Freiheit
Ob wir wollen oder nicht: jeder von uns sieht sich gezwungen, die ungeheuerlichen Ereignisse in der Ukraine irgendwie einzuordnen. Vielleicht hat die Zustimmung des russischen Volkes zum Putinregime und zum Krieg in der Ukraine tatsächlich etwas mit Schwarmverhalten zu tun. Der Spiegel schreibt: Den Russen hat Freiheit immer Angst gemacht (Der Spiegel, 28/8.7.2023).
Im Interview sagt der Philosoph Alexander Zipko:
Die Russen haben die niedrigste Form der Selbstorganisation in Europa. Freiheit mag anziehend sein, macht aber auch Angst. Dem russischen Menschen hat sie immer Angst gemacht. In der Demokratie geht es um Wahlmöglichkeiten, um Alternativen, um den Wettbewerb von Ideen. Das Schrecklichste für einen Russen ist, nach Alternativen zu suchen.
Jede Kultur ist zuerst konservativ, d.h. wir kopieren im Wesentlichen die Kultur unserer Eltern. Das bedeutet historisch dann, dass die industrielle Gesellschaft mit ihrem Zwang zur Mobilität der Individuen zu einer Atomisierung der Familien und damit der Gesellschaft führt, in der die Kultur(en) der Familien verblassen – kulturstiftend wird hier die Schule, aber erst, nachdem das Kind sprachfähig geworden ist, so dass die nonverbale Lernphase immer stärker ungenutzt bleibt, schließlich sind beide Eltern zur Berufstätigkeit angehalten. Gleichzeitig wird aber an den Schulen gespart …….
Vor dem Hintergrund wird dann auch das geschilderte russische Verhalten verständlich. Da gibt es im Westen Russlands eine großenteils industrielle Gesellschaft aber in der Fläche des Landes sind da noch die bäuerlichen Familienstrukturen, die auf der unbedingten Autorität der Väter beruhen. Körperliche Gewalt ist an der Tagesordnung, nicht nur innerfamiliär, auch z.B. Soldaten werden von ihren Vorgesetzten geschlagen. Wer so aufwächst, weiß, dass er in Gefahr kommt, sobald er eigene Entscheidungen trifft. Und die russische Regierung weiß, dass sie diese Angst braucht, um ihr System zu erhalten: In dem Zusammenhang ist dann zu sehen, dass die innerfamiliäre Gewalt, die nach der Auflösung des Sowjetreiches u.a. in Anpassung an UN-Beschlüsse zu den Menschenrechten unter Strafe gestellt worden war, wieder straffrei werden. So erhält man die alten Familienstrukturen.
https://de.wikipedia.org/wiki/H%C3%A4usliche_Gewalt_in_Russland
Das bedeutet in der Folge, dass man zu kurz greift, wenn man versucht, das politische Geschehen mit allgemein menschlichen Eigenschaften zu begreifen – der Mensch ist nicht ohne die Kultur, in der er aufgewachsen ist, zu verstehen. Für eine funktionierende Demokratie müssen wir uns den Namen sapiens erarbeiten, indem wir unsere Kinder in einer Umgebung aufwachsen lassen, die auch ihre falschen Entscheidungen toleriert, also nicht gutheißt, sondern erträgt und mit ihnen zusammen korrigiert.
Das zweite, was wir im Moment gerade lernen (sollten), ist, dass wir um eine straffere Informationskontrolle nicht herumkommen. Die großenteils auf „Fakenews“ aufgebauten Erfolge von z.B. AfD und Freien Wählern in Bayern zeigen, dass auch Erwachsene bei uns regelmäßig nicht in der Lage sind, selbst gegen ihr Vorurteile anzurecherchieren.
Ein wesentlicher Teil der Verunsicherung, die wir Moment erleben, basiert auf dem Vertrauensverlust der Wissenschaften, der daher rührt, dass jeder zu jedem Thema sagen kann, was er will und dabei von der Meinungsfreiheit gedeckt wird. Was uns fehlt, ist bei wissenschaftlichen Themen ein einklagbares Recht auf korrekte Information. Die Probleme dabei werden sein, den juristischen Aufwand zu begrenzen und die Freiheit der Wissenschaft dabei nicht zu beschränken, so dass auch Minderheitenpositionen unter der Maßgabe, die Minderheit, die sie vertritt hinreichend zu quantifizieren, dargestellt werden können.
Wem dabei Orwells Minitrue hochkommt, der hat nur insofern Recht, als das, was ich mir da wünsche, das Gegenteil dazu ist. Er sollte bedenken, dass Orwells Minitrue ein klares Vorbild hatte, die Gleichschaltung im Nationalsozialismus. Ihm sollte auch klar sein, dass auch Russland genau das inzwischen implementiert hat und uns mit seinen „Wahrheiten“ überschwemmt, um damit Wahlen und in der Folge Politik zu beeinflussen. Wir sollten deshalb die Möglichkeit schaffen, vertrauenswürdige Nachrichten zu erzwingen.