Auch Die Ideologie des Westens hätte als Überschrift gepasst. Ich empfehle, diesen Artikel von Bettina Gaus zu lesen – vor meinem zum Aufwärmen oder danach als Ausklang.
Die Truman Show
Der Nationalstaatsgedanke entstand im Gefolge des Dreißigjährigen Kriegs und des Westfälischen Friedens. Zwischen dem Nationalstaatsgedanken und den allgemeinen Menschenrechten besteht ein Spannungsverhältnis, das Stefan-Ludwig Hoffmann unter Bezugnahme auf das 20. Jahrhundert so beschreibt:
Die zweite Jahrhunderthälfte wurde bestimmt von der geopolitisch lückenlosen Nationalstaatsbildung und der zunehmenden Aushöhlung staatlicher Souveränität unter anderem durch transnationale Rechtsnormen wie den Menschenrechten.
Im westlichen Lager sorgen die Menschenrechte für Harmonie und gedeihliches Miteinander. Da kommt kaum einer auf die Idee, dass es sich um eine Ideologie handeln könnte.
Dem Hauptdarsteller der Truman Show, Truman Burbank, musste eine Jupiterlampe vor die Füße fallen, so dass er den Verdacht schöpfte, dass die glänzende Welt, in der lebte, nicht real, sondern eine Show ist.
Unsere Jupiterlampen sind die Kriege in Europa und Nahost, die Flüchtlingsströme und die Messerstechereien wie beispielsweise die von Mannheim. Offenbar braucht es mehrere davon, bis wir merken, was los ist.
Die Idee
Alle Menschen sollen frei und glücklich leben können. Das wird zumindest den US-Bürgern durch die Verfassung versprochen. Gemeint ist jeder Einzelne, das Individuum also. Damit geht die Auffassung einher, dass ein jeder Mensch auf dieser Erde einen Anspruch darauf hat, dass diese Menschenrechte also universelle Gültigkeit besitzen. Das ist die Idee, der geistig-moralische Überbau der erstrebten gesellschaftlichen Wirklichkeit.
Um sehen zu können, ob sich die Universalisierung der Menschenrechte für eine Ideologie qualifiziert, muss zunächst klar sein, was wir unter einer Ideologie verstehen wollen.
Aus dem Online-Wörterbuch Philosophie:
Eine neutrale Anwendung erfährt der Ideologiebegriff in der amerikanischen Wissenschaftssoziologie, wo man unter Ideologie jedes System von Ideen, Meinungen und Werten versteht, das Gruppen zur Legitimation ihrer eigenen Handlungen und zur Beurteilung der Handlungen Fremder benutzen.
Im Hoppla!-Blog lege ich diesen Ideologiebegriff zugrunde, beispielsweise auch in meinem Aufsatz Skeptiker trifft auf Skeptikerbewegung. Dort schreibe ich von der ideologischen Fundierung des „Skeptiker“vereins:
Der Naturalismus dient der Rechtfertigung und der Bewertung der Aktivitäten des Vereins; das macht ihn zur Ideologie.
Die Frage lautet nun, ob die Universalisierung der Menschenrechte in gleicher Weise als Ideologie zu sehen ist, ob auch in diesem Fall eine Leitidee den Handlungen vorangestellt ist.
Den Menschenrechten zufolge wird dem Menschen größtmögliche Handlungsfreiheit zur Verwirklichung der eigenen Glückseligkeit eingeräumt. Die Bindungen an Familie, Gemeinde, Lehnsherren, an Grund und Boden verlieren an Bedeutung. Es entsteht größtmögliche Beweglichkeit. Persönlicher Besitz wird wichtig. Das ist das Wertegerüst. Die Frage ist, wie Eigentum erworben wird.
Das Handeln
Von einem der Väter Aufklärung, von John Locke, kommt diese bombige Idee:
Der Mensch erwirbt Eigentum an Gegenständen, die er „mit seiner Arbeit gemischt“ hat
In der Geschichte der Philosophie von Richard David Precht II finde ich auf Seite 277 dazu Folgendes:
Der Philosoph der Gleichheit und Freiheit, und leidenschaftliche Anwalt des Eigentums spricht den Indianern keinerlei Recht auf ihr Land zu. Dabei argumentiert er wie ein Puritaner: Wer seinen Boden nicht landwirtschaftlich nutzt und ausbeutet, dem gehört er auch nicht! Denn erst durch die Arbeit wird Fläche tatsächlich Besitz.
Die Landnahme des Wilden Westens fand ihre philosophische Begründung: Christlicher Puritanismus und Demokratiebewegung bereiteten den Weg für Unterdrückung und Imperialismus. Was bei uns „Vorsehung“ genannt wurde, heißt dort Manifest Destiny:
Der Begriff „Manifest Destiny“ wurde erst 1845 in den allgemeinen Sprachgebrauch aufgenommen, als der Journalist John Louis O’Sullivan schrieb, es sei „unsere offenkundige Bestimmung, den gesamten Kontinent zu überziehen und in Besitz zu nehmen, den uns die Vorsehung für die Entwicklung des großen Experiments der Freiheit und der föderalen Selbstverwaltung gegeben hat, das uns anvertraut wurde“.
Damit war der Ton gesetzt. Die Rede von der universellen Gültigkeit der Menschenrechte begleitete die Missionstätigkeit, die den Boden bereitete für die sich ausdehnende Herrschaft des Kapitals. Im Artikel über das Aufklärungsparadoxon schreibe ich von der Bevormundung der Dritten Welt und zitiere Paul Kagame, Präsident von Ruanda:
Afrika braucht keine Babysitter. Je weniger sich die Welt um Afrika kümmert, umso besser geht es Afrika.
Über Strukturen
Aus der Ecke der Kritischen Theorie nähern sich die Forscherinnen María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan dem Thema Universalität der Menschenrechte:
Viele Menschenrechtsverletzungen sind auch Resultate von Strukturanpassungsprogrammen, die von den gleichen Geldgebern begleitet werden, die sich für die Menschenrechte einsetzen.
[…]
Fatalerweise können selbst Entwicklungsorganisationen, die solchen Strukturanpassungen kritisch gegenüberstehen, darauf hinwirken, neokoloniale Strukturen zu stabilisieren, indem sie für die liberal-universalistischen Menschenrechte eintreten. Denn die Menschenrechtsagenda trägt dazu bei, die institutionelle Macht internationaler Organisationen zu vermehren, und dient immer wieder, oft unter dem Vorwand der Schutzverantwortung, als Alibi für strategische und/oder militärische Interventionen.
Über die Universalisierung der Menschenrechte nach 1945 schreibt Stefan-Ludwig Hoffmann:
Neben Institutionen wie der Weltbank oder dem Internationalen Währungsfonds, die eine ökonomische Vorrangstellung (und interessengeleitete Regulierungsmacht) der USA in der Welt sicherten, wurden die Menschenrechte zu einer zentralen Agentur dieser Transformation globaler Politik, was aber erst nach dem Zerfall der Kommunismus und damit der unangefochtenen Hegemonie der USA erkennbar wurde. Der westliche Anspruch auf politische Hegemonie und der neue Humanitarismus gehörten mithin zusammen[…]
Erst in den vergangenen zwanzig Jahren, in unserer Gegenwart, dem Zeitalter von „neuen Kriegen” und “global governance”, wurden die Menschenrechte zur Doxa (oder zur säkularen Religion, wie Michael Ignatieff früh bemerkte). […]
Der Kulturrelativismus, den die kolonialen Imperien nach 1945 gegen eine Anwendung der Menschenrechte in ihren Kolonien ins Feld führten wurde nun von postkolonialen Staaten gegen die hegemoniale Menschenrechtspolitik des Westens gewendet. Auch postkoloniale Rechtstheoretiker sahen in den Menschenrechten nur noch eine imperiale Strategie des Westens, universalistisch maskiert.
Die Universalisierung der Menschenrechte ist Ideologie!
@ Eike 26. Juli 2024 um 17:42 Uhr
Zitat: „Habe nur ich da Bauchschmerzen ?“
„Bauchschmerzen“ sind angebracht, es liegt an der „traurigen Realität“.
Damit es nicht ganz so „traurig“ ist, schaffen wir uns, ich nutze den „brutalen“ Begriff „Hirngespinste“, um uns die Welt „schön zu reden“. Wir machen uns auf, „das Wahre, das Gute und das Schöne“ zu suchen. Dazu zählen auch „Humanismus und Menschenrechte“ ….
Letztlich geht es darum, es läuft praktisch immer darauf hinaus, dass in von „Information“ gesteuerten Systemen, „Prozesse“ gesteuert werden. In der Technik ist es ganz einfach: „Software“, auf einer unteren Ebene „Betriebssysteme“, steuern die technischen Prozesse.
Informatiker/Elektroniker verstehen das recht gut, sie haben selber die Technik konstruiert und gebaut.
Biologische Systeme haben sich evolutionär entwickelt. Im Prinzip sind es auch von „Information gesteuerte“ biologische Prozesse. Der Begriff „Ideologie“ kommt irgendwie dem Begriff „Betriebssystem“ nahe.
Was es da so alles gibt, ist extrem „erstaunlich“. Das haben auch, recht ins Detail gehend, Verhaltensforscher herausgefunden. Es sind auch „Verhaltensmechanismen“ die extrem „verstörend“ sein können….
Es gibt so etwas wie „fundamentale Nischen“. Es sind die Gesamtheit aller Bedingungen, unter denen ein Tier (Population, Art) überleben und sich reproduzieren kann.
Einerseits haben sich offensichtlich „Instinkte“, eher über die Genetik entwickelt, andererseits Religionen/Ideologien über die Memetik. Prozess Optimierungen dürften eine wichtige Rolle spielen.
@Realo
Die Welt ist schlecht und ungerecht und wir suchen das Gute und Schöne. Da stimme ich Ihnen zu. Es mag eine gewagte These sein, aber ich glaube zudem, dass es allgemein anerkannte Grundbedingungen gibt, wie so etwas zu erreichen ist. Massenmord gehört definitiv nicht dazu.
Gerade in der internationalen Politik macht uns die anarchische Struktur der Staatenwelt natürlich einen Strich durch die Rechnung. Platt gesagt: Die Angst vor der eigenen Auslöschung sorgt dafür, dass man in der Regel nicht aus moralischen Gründen agiert. Das heißt aber immer noch nicht, dass die handelnden Personen keine moralischen Grundsätze haben, die sie intuitiv teilen.
@Timm
Mir ist absolut bewusst, dass die Befreiuung von Hitler, genauso wie das stillschweigende Gewährenlassen vor dem 2. Weltkrieg, eher geopolitisch motiviert war. Darum geht es mir nicht. Es geht mir darum, dass jeder Mensch intuitiv mindestens großes Unbehagen verspürt, wenn es um Hitlers Taten geht. Sogar viele Neonazis leugnen den Holocaust lieber, als ihn zu rechtfertigen
Wie sehr die Debatte um die Menschenrechte ideologisch unterlegt ist, zeigt sich auch beim Einfluss, den das christlich-humanistische Menschenbild bei zwei weiteren Themen hat: die politische Verbissenheit, mit der auch heute noch gegen das Recht auf Abtreibung und gegen die Freiheit zur Selbsttötung gekämpft wird. Beides sollte eigentlich dem Recht auf individuelle freiheitliche Selbstverwirklichung
untergeordnetzugeordnet sein.Dass man dem Recht auf Selbstmord nach wie vor Steine in den Weg legt, ist im Grunde ein Skandal und beruht auf dem christlichen Weltbild, dass nur Gott Herr über Leben und Tod sein darf. Man verbrämt den anhaltenden Widerstand mit den Bedenken, dass man den Sterbewilligen womöglich ja durch anteilnehmende Beratung noch umstimmen könne. Es gebe doch all die, bei denen dies zum Erfolg geführt habe und die dafür dankbar seien. Nicht gezählt werden die Fälle, bei denen die wiedererweckte Lebenslust nur kurzzeitig oder gar keinen Bestand hatte, sondern in noch mehr Verzweiflung mündete. Es ist also reine Ideologie, mit der die individuelle Freiheit hier unverblümt missachtet wird.
Bei der Abtreibung kann man zwar noch argumentieren, dass das noch ungeborene Menschenleben einen gewissen Schutz braucht, obwohl auch hier das Grundargument rein christlich-humanistisch ideologisiert ist, indem man bereits dem befruchteten Ei im Mutterleib gottgegebenen Menschenstatus verleiht. Biologisch betrachtet kann man das auch anders sehen, denn bis zur Durchtrennung der Nabelschnur ist der Embryo Teil des mütterlichen Körperkreislaufs. „Mein Bauch gehört mir“, formulieren zu Recht die Befürworterinnen des Rechts zur Abtreibung.
Dem Widerstand liegt ursprünglich der simple Eigennutz des Klerus zugrunde. Ihm ging es immer umso besser, je mehr Schäfchen er hatte, deswegen mochte er sich keines so einfach wegnehmen lassen. Christlich geprägte politische Kreise denken noch immer so, ob ihnen das bewusst ist oder nicht.
@ Eike / Gebauer
Es gibt eine Entität, die in den zurückliegenden Dekaden der Wissenschaftlichkeit und zunehmender Antiwissenschaftlichkeit vernachlässigt wurde und wird: das Gewissen.
Im Zusammenhang mit dem Gewissen kann man sich nun fragen, welche Werte innerlich sind und nur sprachlich ausgedrückt und verrechtlicht werden, oder was erlernt ist?
Welcher Teil der konservativen, humanistischen, liberalen Werte ist angeboren oder/und erlernt?
Wie stehen diese Werte zu Artikel 2 GG Recht auf Leben und Soldaten sind Mörder? Welche Rolle spielt Schutz und Nutz? Nutz des Todes bei der Verteidigung des Schutzes des Lebens, welches eh mit dem Tod endet?
Wenn nicht Enkel da sind?
Zum Gewissen gehört Skrupellosigkeit.
Und davor soll Soziale Kontrolle schützen.
Ich vermute, wir sollten uns wieder mehr Gedanken um und vor Skrupellosigkeit machen. Sie ist es, die getarnt daher kommt.
@ Mussi
Ja, da ist wohl etwas dran. Immanuel Kants Vorschlag, die Moral ganz auf Vernunft zu gründen, übersieht, dass der Mensch grundsätzlich kein reines Vernunftwesen ist. Das könnte der tiefere Grund dafür sein, dass die Universalisierung der Menschenrechte scheitert.
@ Rainer Gebauer 28. Juli 2024 um 21:05 Uhr
Zitat: “Wie sehr die Debatte um die Menschenrechte ideologisch unterlegt ist, zeigt sich auch beim Einfluss, den das christlich-humanistische Menschenbild bei zwei weiteren Themen hat: die politische Verbissenheit, mit der auch heute noch gegen das Recht auf Abtreibung und gegen die Freiheit zur Selbsttötung gekämpft wird. Beides sollte eigentlich dem Recht auf individuelle freiheitliche Selbstverwirklichung zugeordnet sein.“
Es geht einerseits um die Interessen der „Gruppe“, die ihre „Ideologie“ im Wettbewerb mit anderen Gruppen durchsetzen muss um die Existenz der Gruppe langfristig zu sichern.
Andererseits um die Interessen des „Einzelnen“ gegen die „Gruppe“, die zu schützen („kleine“) Politiker vorgeben, die selber ein „bequemes Leben“ und „ihre Ruhe“ haben wollen.
Sowohl Selbstmorde, als auch Abtreibungen, schwächen die Gruppe und schaden der Überlebensfähigkeit.
Zitat: „Dem Widerstand liegt ursprünglich der simple Eigennutz des Klerus zugrunde. Ihm ging es immer umso besser, je mehr Schäfchen er hatte, deswegen mochte er sich keines so einfach wegnehmen lassen.“
Nicht nur der „der simple Eigennutz des Klerus“. Auch den Eltern der „kleinen Schäfchen“ fällt auf, dass in den Schulen der Anteil der „kleinen Wölfchen“, die bekanntlich den „Wolfsgruß“ bestens beherrschen, immer größer wird und das hat, wie die „Schäfchen“ aus Erfahrung wissen, für die Zukunft „nichts Gutes“ zu bedeuten….