Paradoxien sind für Paul Watzlawick Quellen der Erkenntnis. Ein prägnantes Beispiel ist die Aufforderung „Sei spontan“. Paradoxien sind alltäglich.
Wohlwollende Menschen mit guter Erziehung und Mitgefühl hat man gerne zum Freund. Sie beeindrucken mit ihrem Einsatz für die Menschenrechte und gegen den Rassismus. Alle Menschen sollen frei und glücklich leben können. Das wird zumindest den US-Bürgern durch die Verfassung versprochen. Gemeint ist jeder Einzelne, das Individuum also.
Dieser westliche Individualismus war ein Erfolgsrezept. Es hat für Wohlstand gesorgt – für üppigen bei wenigen und für bescheidenen bei vielen. Die Wohlmeinenden sind von dem Wunsch getrieben, diese Wohltaten der ganzen Welt zukommen zu lassen, indem sie den Menschenrechten universale Geltung zumessen. Ziemlich unerwartet verkehren sich die hehren Absichten ins genaue Gegenteil. Wie das?
Zwei Beweggründe kann ich ausmachen. Der erste ist vernünftig, der zweite gefühlsbedingt. Im ersten Fall liegt es an einer scheiternden Universalisierung der Regeln des Zuammenlebens und im zweiten an den Eigenheiten eines jeden. Das werde ich noch erläutern. Eine Vorbereitung brauche ich noch.
Sein und Denken
Wir leben in einer Zeit, in der der Glaube verbreitet ist, dass man nur das Denken und die Sprachen ändern müsse, um zu einer besseren Gesellschaft zu kommen. Sicht- und hörbaren Ausdruck findet dieser Trend im Gendern. Die Bedeutung des wohlmeinenden Denkens wollte mir ein Freund mit dem folgenden Zitat vor Augen führen (Tschingis Aitmatow):
Das Niveau der geistigen und sittlichen Entwicklung der menschlichen Gemeinschaft sollte stets ein wenig höher sein als das Niveau des wissenschaftlich-technischen Fortschritts.
Ich versuche, dem Satz Sinn abzuringen. Vielleicht meint der Autor, dass die geistige Entwicklung der technischen immer ein wenig voraus sein sollte, so dass erstere die letztere kontrolliert. Karl Marx sieht das wohl eher andersherum: Auf der realen Basis der technisch-wirtschaftlichen Entwicklung erhebt sich der geistige und administrative Überbau.
Da habe ich Anschauungsmaterial zu bieten. Acht Jahre lang war ich Angestellter eines KKW-Herstellers und habe nachgedacht: Nach dem Krieg und nach dem Atombombenabwurf gab es den Ruf nach einer friedlichen Nutzung der Kernenergie. Diese versprach eine lange dauernde und saubere Energieversorgung. Es war moralisch geboten, auf diese Karte zu setzen. Die politischen Parteien stimmten zu. Mit der Zeit wurden die Probleme sichtbar: Die Sicherheit (mein Arbeitsgebiet) erschien zunehmend fraglich. Die Frage, wohin mit den Abfällen, wurde immer dringlicher; sie ist noch heute unbeantwortet. Dass Frankreich seinen Atomstoff aus Niger und prospektiv aus Mali bezieht, dürfte inzwischen jedem als eine der Ursachen der Misere in der Sahelzone aufgefallen sein. Fazit: Die moralische Aufbereitung folgt den Geschehnissen – bestenfalls und eher zögerlich.
Kommunistische Führer maßen den Intellektuellen eine Avantgardefunktion zu und die Neue Rechte glaubt an die Gestaltungskraft einer großen umfassenden Idee. Vom Leninismus und Stalinismus wissen wir, dass das nicht klappt.
Also Vorsicht mit den großen und universalen Ideen zur Fortentwicklung der Gesellschaft. Der zitierte Satz von Aitmatow klingt gut, hat aber kaum Substanz.
Alles ist Zahl
Die Aufklärung hat uns die moderne Wissenschaft gebracht und die Illusion, dass alles messbar und berechenbar ist. Die Zahlen haben universelle Gültigkeit und verleihen Herrschaft über Dinge und Menschen. Insofern knüpft die Moderne an die Mythologie der antiken Pythagoräer an, die meinten, alles sei Zahl. Max Horkheimer erklärt den „Begriff der Aufklärung“ so (Dialektik der Aufklärung, 1969/1988, Seite 32):
Die Entfernung des Denkens von dem Geschäft, das Tatsächliche zuzurichten, das Heraustreten aus dem Bannkreis des Daseins, gilt der szientifischen Gesinnung ebenso als Wahnsinn und Selbstvernichtung, wie dem primitiven Zauberer des Heraustreten aus dem magischen Kreis, den er für die Beschwörung gezogen hat
.
Der Anspruch der universellen Gültigkeit erstreckt sich auch auf die Regeln des Zusammenlebens. Die Rede von der universellen Gültigkeit der Menschenrechte begleitet die Missionstätigkeit des Westens, die den Boden bereitet für die Herrschaft des Kapitals. Dieser Zusammenhang wird derzeit sichtbar, weil sich der globale Süden gegen die Bevormundung durch die westliche Welt wehrt. Paul Kagame, Präsident von Ruanda:
Afrika braucht keine Babysitter. Je weniger sich die Welt um Afrika kümmert, umso besser geht es Afrika.
Trotz aller gegenteiligen Beteuerungen gibt es Rassismus. Das ist die rationale Seite des Paradoxons.
Überempfindlichkeit
Beim Auswringen von Wäsche kriege ich eine Gänsehaut. Von anderen höre ich, dass sie das Kratzen von Messern auf einem Topfboden kaum aushalten können. Viele Leute, die ich kenne, haben ein Geräusch, das sie nervt. Das sind Beispiele für Überempfindlichkeit (Idiosynkrasie). Ich erkläre mir diese Eigenheiten so: Diese Geräusche erfährt das Baby immer genau dann, wenn es die Mutter vermisst. Die hat ja offenbar gerade etwas anderes zu tun. Möglicherweise ist das Erlebnis so intensiv, dass es im Gefühlsleben hängen bleibt. In der fünften These der „Elemente des Antisemitismus“ aus dem Buch „Dialektik der Aufklärung“, geschrieben vermutlich von Leo Löwenthal, finde ich Folgendes:
»Ich kann dich ja nicht leiden – Vergiss das nicht so leicht« sagt Siegfried zu Mime, der um seine Liebe wirbt. Die alte Antwort aller Antisemiten ist die Berufung auf Idiosynkasie.
Wenn ein wohlmeinender Verfechter der Menschenrechte die Regeln und Gepflogenheiten des Islam abscheulich, zum Kotzen oder widerlich findet, dann ähnelt das den Idiosynkrasien von Rassisten und Antisemiten. Das ist die emotionale Seite des Aufklärungsparadoxons.
Sie verarbeiten 70-/80-/90-/00-er.
Was würden Sie jemanden Heutigem sagen, der eine Familie zu ernähren hat?
Das Logik das Paradoxon bedingt ist simpel. Das Widerspruchsfreiheit trotzdem generalisierte wurde, ziemlich ‚fremd‘, da Erkenntnis, wie jetzt beschrieben, eben nicht linear existiert.
Was ist da Ihre Lebenserkenntnis?
@ Mussi
Sie haben es wohl nicht bemerkt: Es geht um die Hintergründe der aktuellen Weltlage und darum, dass die Kritische Theorie gerade wieder an Bedeutung gewinnt. Der Zoff in der GWUP zeigt das wie in einem Brennglas. Der von mir verlinkte bpb-Artikel zur Bevormundung kommt aus der Ecke der Kritischen Theorie.
Sie sind nicht Teil?
Wovon?
Der Skeptiker übt Kritik. Diese richtet sich am Ziel aus; er nutzt dementsprechend die Denkweise der Kritischen Theorie oder die des Kritischen Rationalismus oder wer weiß, was sonst noch. Er sieht sich nicht als „Teil“ einer Bewegung.
Das Aufklärungsparadoxon hat (wie viele andere Paradoxa) seine Ursache darin, dass das menschliche Denken es möglich macht, Absolutheiten zu definieren, für die es in der realen Welt keine Entsprechung gibt. Ich habe mich hier an anderer Stelle dazu immer mal wieder geäußert: nichts, unendlich, immer, nie, allmächtig usw. In der Mathematik kann man Regeln festlegen, wie formal damit umzugehen ist, wenn eine Aussage gefühlsmäßig „unlogisch“ erscheint bzw. sinnlos wird (a geteilt durch o ist unendlich, gleichgültig wie groß a ist – wie bitte?), und das Gedankengebäude bleibt stehen. In der realen Welt ist das Aufstellen solcher Regeln zwar auch möglich, fatalerweise ist die reale Welt aber kein Gedankengebäude. Wenn ein verabsolutierter Wert an der Realität scheitert, glauben wir aber trotzdem, das nicht zulassen zu dürfen, weil wir das ganze Wertesystem zu gefährden meinen. Das ist das humanistische Denken. Wer sich das nicht zu eigen macht, ist auf dem Holzweg. Der mit dem Stichwort „Bevormundung“ verlinkte Artikel versucht, diese Problematik anzusprechen, aber die universellen Menschenrechte stehen zum Schluss selbstverständlich weiterhin nicht zur Disposition.
Wie es scheint, gibt es auch keinen Ausweg aus dieser Sackgasse: Wenn wir einmal anfangen würden, einen dieser Werte in Frage zu stellen, so glauben wir, brächen alle Dämme. Also die Unantastbarkeit der Menschenwürde kann zum Beispiel nicht ans individuelle Tun gekoppelt und erst ab einem gewissen Alter gewährt bzw. auch wieder – zumindest zeitweise – aberkannt werden, denn sie ist mit der Geburt (im christlichen Glauben sogar mit der Zeugung) garantiert. Das individuelle Streben nach Glück wird selbst dann nicht eingedämmt oder gar untersagt, wenn absehbar ist, dass dadurch der Planet irgendwann nicht mehr genug für alle hergibt.