Unscharfe Sprache

Unschärferelation und Sprache

Nach Heisenberg wissen wir, dass es prinzipiell unmöglich ist, gleichzeitig den Ort und die Geschwindigkeit eines Elementarteilchens zu bestimmen. Der Grund leuchtet sofort ein: Die Lichtquanten, die bei der Beobachtung eines Teilchen auf dieses treffen, wirken auf es ein. Daraus folgt, dass dieses Teilchen sich durch Beobachtung anders als unbeobachtet verhält.

Man muss sich bewusst machen, dass dies nur im subatomaren Bereich gilt, wo das Beobachtete und das Mittel der Beobachtung in der gleichen Größenordnung sind. Der Fußball, dessen Flug verfolgt wird, schert sich wahrhaftig nur theoretisch um die auf ihn gerichteten Blicke.

Als die Menschheit das Sprechen erfand, war das zunächst nur ein praktisches Hilfsmittel, die Welt und ihre Dinge in dem Sinne handhabbarer zu machen, dass man nicht mehr auf alles, worüber man Informationen austauschen wollte, deuten oder es berühren musste. Erst im Laufe der Zeit entwickelte sich Sprache, die Zusammenhänge zwischen den benannten Dingen herstellte, und durch die fortwährende Erweiterung sprachlicher Zusammenhänge löste sich das Informationsübertragungsmittel Sprache zunehmend von diesem ursprünglichen Zweck. Es ist nicht mehr getan mit „Me Tarzan – you Jane“, weil es irgendwann beispielsweise Beziehungsfragen zu klären gilt.

Über die Jahrtausende ist Sprache dann letztendlich zum Selbstzweck geworden, Stichwort Literatur, und zum Forschungsgegenstand, Stichwort Linguistik. Sie ist aber auch zum Kampfsport geworden, zum Zeitvertreib, zum Problemlöser, aber auch zum Manipulationswerkzeug bis zu dem Punkt, weltzerstörerische Gefahren heraufzubeschwören und sie dem eigenen Volk zugleich als berechtigt darzustellen, wie der Ukrainekrieg gerade zeigt. Wie leicht das Regierenden immer wieder gefallen ist, wissen wir Deutsche nur zu gut.

Mit der Linguistik, zum Beispiel, kommt Sprache dem Problembereich der Unschärferelation schon ziemlich nahe, denn zur Sprachanalyse brauchen wir das, was zugleich das Analyseobjekt ist. Aber da wir uns im Metier von Wissenschaft bewegen, dem möglichst objektiven Begreifenwollen also, ist es hinnehmbar, dass ab einer bestimmten Forschungstiefe kein weiterer Genauigkeitsgewinn mehr erzielbar ist. Auch in der Mathematik, ein anderes Beispiel, müssen wir uns damit abfinden, dass man für das unermesslich Große (∞) und das absolut Nichtexistente (0) zwar Zeichen erfinden kann, aber das Hantieren damit, etwa in einer Formel, ergibt nicht in jedem Fall etwas Sinnvolles. Für die Anwendung der Mathematik in Wissenschaft und Technik ist diese prinzipielle Unschärfe freilich unbedeutend, denn von infinitesimalen Problembereichen sind wir zumeist weit genug entfernt. Anders kann es etwa bei kosmologischen Modellen sein, und wir werden deshalb womöglich nie ergründen können, ob das Universum endlich ist oder nicht.

Wenn die auf sprachliches Geschehen angewendeten Konsequenzen der Unschärferelation den naturwissenschaftlichen Rahmen verlassen, tut sich die Menschheit schwer damit, Probleme anzugehen. Während wir es schaffen, auf einem Millionen Kilometer entfernten Asteroiden eine Messsonde punktgenau zu landen (hier leistet die Mathematik ganze Arbeit), scheitern wir daran zu verhindern, dass jemand Menschen tötet, weil sie einen anderen Gott verehren als er selbst. Es fällt uns sehr schwer, gedankliche Unschärfen zu akzeptieren. Anders ausgedrückt: Unsere nichtwissenschaftlichen Welterfahrungen, indem sie mehr oder weniger weit unterhalb der intellektuellen Bewusstseinsschwelle stattfinden, scheinen das Zugeständnis nicht zuzulassen, dass das Denken über das Denken das Unschärfekriterium eigentlich genau erfüllt. Wir könnten also durchaus wissen, dass Esoterik, Religion, Philosophie usw. rein prinzipiell keine endgültigen Antworten auf alle unsere Fragen liefern können, weil wir gerade beim transzendierenden Denken eben auch nur wieder denken. All diese Denkgegenstände sind von der Sprache erschaffen, und sie sind nur mit Sprache erforschbar.

Nichtsdestoweniger entwickeln wir Gedankengebäude, die auf ebenfalls erdachten Fundamenten stehen. Und weil uns das im Grunde klar ist, definieren wir eben einige dieser Fundamente als uneingeschränkt und für alle Zeit gültig mit der Argumentation, dass Gesellschaften ohne zumindest einige solche Gewissheiten ins Chaos abzustürzen drohen. Obwohl der Mathematiker sich zwar sicher ist, dass alles, was man unendlich oft teilt, zu nichts wird, hört er dennoch jedem, der ihm etwas anderes zu beweisen versucht, erstmal aufmerksam zu. Der Ethiker dagegen wird – mit der Begründung, dass unser moralisches Weltgebäude ins Wanken geriete – keinesfalls zulassen, die Unantastbarkeit der Menschenwürde in Frage zu stellen. Ebenso wenig fiele es dem gläubigen Katholiken ein, aufgrund welcher Beweiskette auch immer daran zu zweifeln, dass ihn ewiges Leben erwartet, weil sich jemand vor 2000 Jahren für ihn hat ans Kreuz nageln lassen. Und kein Demokrat wäre  bereit, einer anderen Staatsform als der Demokratie eine Chance zu geben, weil nur sie die Voraussetzungen für eine freie Entfaltung der individuellen Persönlichkeit zu garantieren scheint.

Angesichts einer Menschheit, die in mehr oder weniger absehbarer Zukunft einen ganzen Planeten aus dem Gleichgewicht zu bringen droht, kommt nun eine vielleicht bisher zu wenig beachtete Interpretation der Unschärferelation hinzu. Seit die Menschheit global geworden ist, und indem ihre rein zahlenmäßige Ausdehnung buchstäblich Weltformat erreicht hat, ist das, was sie tut, und das, was solches Tun bewirkt, in derselben Größenordnung angekommen. Damit soll gesagt sein, dass unsere Behandlung dessen, was unser Handeln bewirkt, womöglich nicht mehr eindeutig steuerbar ist. Die Probleme, die wir lösen, und die neuen, die wir mit der Lösung erschaffen, werden in der Wirkung immer gleichwertiger, und laut Unschärferelation ist das Ergebnis dadurch prinzipiell unscharf. Es ist keine Sache von gutem Willen, mangelnder Planung oder ungenügender Rechengenauigkeit mehr.

Wir haben unser Zeitalter mit dem Begriff Anthropozän belegt, und damit bescheinigen wir uns den Tatbestand eines geochronologischen Einflusses der Menschheit. Dieser Einfluss ist weit überwiegend, ob wir es uns eingestehen oder nicht, unserer schieren Masse geschuldet. Wir müssen weniger werden, wenn die Konsequenzen der Unschärferelation unser Handeln nicht mehr beeinflussen sollen. Die Frage ist, ob und gegebenenfalls wie das unter den Rahmenbedingungen einer humanistischen Weltsicht geschehen kann, bevor das System Erde kollabiert.

Wem der Fatalismus dieser Sicht unerträglich erscheint, wird sich wohl kaum damit trösten lassen, dass diese Erde noch ein paar Milliarden Jahre Zeit hat, sich von uns wieder zu erholen, ehe sie endgültig von der Sonne verschlungen wird. Aber einen Trostversuch ist es allemal wert.

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3 Antworten zu Unscharfe Sprache

  1. Feodor sagt:

    Die aktuelle physikalsiche Theorie sagt voraus, dass es unmölich ist, ein Teilchen im üblichen Wortsinne zu beobachten. Insofern ist „beobachtetes Teilchen“ ein schönes Beispiel für unscharfe Sprache. Was sich beobachten lässt, sind vielmehr die Folgen von Wechselwirkungen, z.B. in einer Blasenkammer.

  2. Pingback: Kritische Masse | Hoppla!

  3. Frank Wohlgemuth sagt:

    Es gibt verschiedene Dinge, die mich an diesen Überlegungen stören:
    Zur Unschärferelation:
    Die (Heisenberg’sche) Unschärferelation sagt nicht nur, dass ich in der Quantenmechanik z.B. nicht gleichzeitig Ort und Impuls genau messen kann, sie sagt auch warum: Es kommt zu Wechselwirkungen zwischen Messobjekt und Messapparatur. Es geht also nicht nur darum, dass keine beliebige Genauigkeit erreicht werden kann. Wenn ich die Unschärferelation sinnvoll in andere Bereiche übertragen will, dann sollte ich Bereiche nehmen, in denen mit einer Messung gleichzeitig Einfluss auf das Objekt genommen wird.

    Man muss sich bewusst machen, dass dies nur im subatomaren Bereich gilt, wo das Beobachtete und das Mittel der Beobachtung in der gleichen Größenordnung sind. Der Fußball, dessen Flug verfolgt wird, schert sich wahrhaftig nur theoretisch um die auf ihn gerichteten Blicke.

    Der Fußball schert sich nicht einmal theoretisch um die auf ihn gerichteten Blicke. Was ihn theoretisch interessieren könnte, wäre das Licht, in diesem Fall die Standardsituation um überhaupt Fußball zu spielen. Der Beobachter greift aber in diesem Fall nicht in das Spiel ein, sondern benutzt die vorhandenen Umgebung. Der Blick, also eine Aufnahme von Daten, die ohne experimentelle Messung nach draußen dringen, ist aus physikalischer Perspektive kein Eingriff in das Spiel.

    Es gibt durchaus auch außerhalb der Physik Bereiche, in denen man sich des Einflusses der Messung auf das Messobjekt bewusst sein sollte, aus meinem Studium fallen mir sofort die Versuche aus der Tierphysiologie ein, in denen teilweise so viel Technik zwischen Objekt und den erhaltenen Messwerten stand, dass es schwierig war, zu beweisen, dass die Messwerte kein Ergebnis technischen Rauschens waren. (Der Dozent war damals nicht sehr erbaut von diesen Fragen, weil sie die Versuche aufhielten). Physiologische Forschung ist praktisch immer destruktiv, so dass man sich auch unabhängig vom technischen Rauschen immer fragen muss, ob das Objekt in der Apparatur noch viel mit dem Objekt im lebenden Wesen zu tun hat.

    Das Problem taucht überall da auf, wo wir komplexere Systeme untersuchen: Wenn der Soziologe also eine Umfrage macht, sollte er sich darüber im Klaren sein, dass die Umfrage selbst sein Objekt verändert – das ist der Grund, warum es in einigen Ländern verboten ist, direkt vor einer Wal noch Umfragen zu machen bzw. ihr Ergebnis zu veröffentlichen. Aber nicht nur eine Gesellschaft ist so ein System: Der Therapeut, der in der „Sabbeltherapie“ seinen Patienten befragt, weiß, dass er mit seinen Fragen Prozesse auslöst, die dafür sorgen können, dass sein Patient bei der nächsten Befragung prinzipiell schon ein anderer ist.

    Zur Sprache:

    Als die Menschheit das Sprechen erfand, war das zunächst nur ein praktisches Hilfsmittel, die Welt und ihre Dinge in dem Sinne handhabbarer zu machen, dass man nicht mehr auf alles, worüber man Informationen austauschen wollte, deuten oder es berühren musste. Erst im Laufe der Zeit entwickelte sich Sprache, die Zusammenhänge zwischen den benannten Dingen herstellte, und durch die fortwährende Erweiterung sprachlicher Zusammenhänge löste sich das Informationsübertragungsmittel Sprache zunehmend von diesem ursprünglichen Zweck. Es ist nicht mehr getan mit „Me Tarzan – you Jane“, weil es irgendwann beispielsweise Beziehungsfragen zu klären gilt.

    Mein erstes Problem ist schon ein sprachliches: Als der Mensch das Sprechen „erfand“, hatte er noch nicht den Geist, des es braucht, um etwas im heutigen Wortsinn „zu erfinden“ – der kam erst langsam mit der Entwicklung einer Sprache in der heutigen Bedeutung. Dementsprechend hatte das Sprechen auch keinen Zweck, sondern stellte in bestimmten Situationen einen Vorteil dar. Eine Möglichkeit wäre z.B. das Sprechen als Abfallprodukt der Didaktik des Steineklopfens.
    (Ich habe mir in einer Diskussion mit Eduard Kirschmann zu einem weniger guten Artikel im Spektrum mal grundsätzliche Gedanken zur Theorie der Sprachentwicklung gemacht:
    https://www.spektrum.de/magazin/gewinner-der-evolutionslotterie/1327776
    Um zu der Diskussion zu kommen, muss man bei „Schreiben Sie uns“ das + anklicken, um sie zu öffnen.
    Aber Vorsicht: Sie ist etwas länger)

    Sprache hatte also keinen Zweck, sondern höchstens Möglichkeiten, die genutzt wurden, dabei vorteilhaft wirkten und dabei mehr wurden. Als man dann irgendwann die Sprache benutzte, um den Geist auf sich selbst loszulassen, kam man natürlich in Bereiche, in denen man Parallelen zur Unschärferelation konstruieren kann, aber das Problem, an dem man dabei üblicherweise zu Fall kommt, ist weniger die Genauigkeit als die Rekursion, der Selbstbezug. Wittgenstein demonstriert das in seinem „Traktatus“.

    Ansonsten ist es so, dass es geradezu das Merkmal natürlicher Sprachen ist, ungenau zu sein, sonst wäre sie nicht handhabbar: In der natürlichen Sprache bekommt das Wort seine vollständige Bedeutung erst durch den Kontext, seine Bandbreite ist Folge eines historischen Prozesses erfolgreicher Kommunikation und keiner Übereinkunft. Das Wort mit einer präzisen Bedeutung, auf die man sich geeinigt hat, ist bereits ein Zeichen der Wissenschaft, die man in ihrer Entstehung auch generell als Sprache verstehen kann, die sich durch die kontrollierte Schaffung immer neuer Begriffe in immer größere Genauigkeiten versteigt.
    (Kleiner Hinweis zu einer besonderen Sprache, der Mathematik: „Das Infinitesimale“ hat keineswegs seine Anwendung nur in der Kosmologie, sondern ist das tägliche Brot aller Ingenieure. Integration und Ableitung sind ihre Standardoperationen. Dass die Anwendung spezieller Zeichen/Bedeutungen wie 0 und ∞ nicht immer Sinn ergibt, ist dabei nichts Besonderes; es ist ein Kennzeichen komplexer Sprachen, dass man darin auch Unsinn produzieren kann.)

    In ihrer Funktion ist Sprache aber von Beginn an – wie die lautliche Kommunikation verwandter Tiere – auch eine Darstellung der eigenen Gestimmtheit und damit ein Werkzeug zur Schaffung sozial geteilter Gestimmtheiten. Damit kann man eine Orgie, aber eben auch einen Krieg einleiten.

    Während wir es schaffen, auf einem Millionen Kilometer entfernten Asteroiden eine Messsonde punktgenau zu landen (hier leistet die Mathematik ganze Arbeit), scheitern wir daran zu verhindern, dass jemand Menschen tötet, weil sie einen anderen Gott verehren als er selbst. Es fällt uns sehr schwer, gedankliche Unschärfen zu akzeptieren.

    Das Phänomen ist bekannt, aber hat es wirklich etwas mit gedanklichen Unschärfen zu tun? Was wir nur ungern akzeptieren, sind Verunsicherungen, also Informationen, die unsere gefühlsmäßige Basis bedrohen. Um das am Beispiel Gott zu zeigen: Fragen Sie mal die Leute, was das überhaupt sein soll. Wenn man in einem sehr rigiden System aufgewachsen ist, existieren da normalerweise aufs Wort festgelegte Floskeln ohne hinterfragbaren Inhalt, die aber Sicherheit verleihen. In freieren Systemen beginnen die Leute dann sehr allgemein von etwas Übersinnlichem zu faseln, das aber bei genauerem Hinsehen bei jedem etwas anders aussieht. Die Sicherheit, die es verschafft, besteht eigentlich nur noch darin, in keinen Konflikt mit den Eltern einzutreten, was aber mit dem Verlust der absoluten Stellung des Vaters auch an Bedrohlichkeit zu verlieren scheint. In diesen Gesellschaften ist die Infragestellung teilweise nicht nur erlaubt, sondern scheinbar sogar erwünscht – allerdings kämpfen diese Gesellschaften auch mit Schwierigkeiten in der Weitergabe ihrer Tradition, besonders, da auch der Vaterarchetypus, auf dem sie aufgebaut sind, langsam verblasst, seit das Patriarchat nicht mehr allgemein akzeptiert ist.

    Es geht hier also weniger um Unschärfen, was wir wissen können und was nicht, als um das gefühlsmäßige Fundament, das wir in unserer Sozialisation erwerben. Und je gewalttätiger und angsteinflößender die Gesellschaft ist, in der wir aufwachsen, desto leichter führt die Infragestellung zu existenzieller Angst, die dann in Aggression umkippen kann. Dabei ist es ziemlich egal, ob diese gemeinsame gefühlsmäßige Basis nun als Gott oder das großrussische Reich oder eine Kombination von beidem vermittelt wurde – in der gewalttätigen russischen Gesellschaft werden Verunsicherungen dann mit einem Krieg beantwortet, von dem wir uns nie vorgestellt hätten, dass er so viele Befürworter findet.

    Der letzte Punkt in diesem Zusammenhang, der mich davon abhält, dieser Verallgemeinerung des Begriffes der Unschärferelation zu folgen: Religionen sind in ihrer Entstehung keine Gedankengebäude, sondern sondern die nachträglichen Rationalisierungen evolutionär entstandener Riten. Wir sind auch da noch weniger rational als wir uns gerne sehen.

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