Nach Berechnungen der Vereinten Nationen könnte jetzt, im November 2022, irgendwo auf der Welt der 8.000.000.000. Mensch geboren werden.
Es ist dies ein rein statistisches Ereignis, und anders als beispielsweise beim 1000. Verkehrstoten, der nach dem Festlegen eines Startdatums gewissermaßen per Strichliste exakt ermittelt werden kann, sind die Unsicherheiten bei der Ermittlung der Weltbevölkerung erheblich. Verwendet werden erdgeschichtliche Entwicklungszahlen (abhängig u.a. von einem mehr oder weniger willkürlich definierten Anfangswert), Tabellen mit Geburts- und Sterberaten, registrierte oder auch nur angenommene Migrationsbewegungen, Naturkatastrophen u.a.m. Statistik eben.
Dieses – wie jedes andere – statistische Ereignis lässt drei sehr verschiedene Blickwinkel zu. Einerseits ist es ein winziges Detail eines Massenphänomens, das für die statistische Aussage so gut wie nichts bedeutet. Andererseits ist es für den betroffenen Menschen von wahrhaftig existenzieller Bedeutung, denn es gäbe ihn nicht, wenn es nicht stattgefunden hätte. Drittens aber kann jedes statistische Ereignis ein dramatischer Wendepunkt sein. Der Volksmund spricht vom Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Diese Diskrepanz zwischen den Bedeutungen desselben Ereignisses ist im intuitiven menschlichen Weltverstehen nur schwer unterzubringen. Und wir begegnen dieser Diskrepanz immer wieder in den unterschiedlichsten Kontexten, je nachdem, was von einer Statistik abgebildet werden soll. Im Hoppla!-Blog ist dies ein vielbeleuchtetes Dauerthema.
Drei kleine Beispiele trotzdem nochmal hier. Bei jedem einzelnen Würfelwurf ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Zahl kommt, immer wieder gleich 1/6. Aber warum kommt eine Folge von Millionen 6ern hintereinander nie vor? Der Mathematiker rechnet uns vor, warum, aber intuitiv leuchtet es nicht unbedingt ein. Beim Wahlrecht ist es sozusagen umgekehrt: Ob ich bei einer Bundestagswahl diese meine Stimme abgebe oder nicht und wo ich das Kreuz mache, ist für das Gesamtwahlergebnis so gut wie irrelevant, denn bei Millionen abgegebenen Stimmzetteln gibt eine Stimme nicht den Ausschlag. Aber wenn jeder so argumentieren würde, geschähe für das große Ganze gar nichts. Und drittens: Die Wahrscheinlichkeit eines Lottogewinns ist etwa so groß wie die, beim Anhalten irgendwo auf einer Autofahrt von Hamburg nach München einen Geldkoffer zu finden. Erstaunlicherweise funktioniert Lotto dennoch, weil zwar jeder Mitmachende das eigentlich weiß, aber sein Wissen einfach ignoriert.
Eine der unterhaltsamsten, wenngleich nicht durchgehend unpolemischen Betrachtungen zum Widerspruch zwischen Massenphänomen und Individualerleben ist „Der Schwarze Schwan“ von Nassim Nicholas Taleb. Der Buchtitel bezieht sich auf die Entdeckung schwarzer Schwäne im Zuge der Entdeckung Australiens: Nach 5000 Jahren Menschheitsgeschichte mit immer nur weißen Schwänen konnte es schwarze eigentlich nicht geben. Das eigentliche Thema des Buches ist aber das, was im Untertitel steht: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse. Und auch dieser Zusatz lässt unausgedrückt, was in meinen Augen entscheidend ist, nämlich, dass diese Macht der großen Zahl zufällt. Je mehr sie wächst, umso wahrscheinlicher wird das Unwahrscheinliche.
Die große Zahl wird dann zu einem entscheidenden Faktor, wenn sie einem Schwellenwert zuerst näher kommt, um ihn dann irgendwann zu überschreiten. Der Begriff Kritische Masse meint genau das. Quantität verwandelt sich in eine neue Qualität. Meistzitiertes Beispiel in der Kosmologie ist der explosionsartige Übergang eines seit Jahrmilliarden gleichmäßig strahlenden Sterns in eine Nova oder gar Supernova. Sozusagen eine Schwellenwert-Etage tiefer ist unser Riesenplanet Jupiter angesiedelt. Er ist fast ein Stern, könnte man sagen, etwas mehr Masse müsste er noch ansparen, damit die inneren Gravitationskräfte ausreichen könnten, die für einen selbst strahlenden Stern nötigen Kernfusions-Kettenreaktionen auszulösen. Und auch eine der plausibelsten Erklärungen für das menschliche Bewusstsein geht von einem Schwellenereignis aus: Irgendwann hatte die schiere Anzahl von Synapsen „Masse“ genug, um schlichtes tierisches Lebens-Bewusstsein in komplexes menschliches Selbst-Bewusstsein zu überführen. Vorstufen zu einer ähnlichen Entwicklung lassen sich in neuronalen Netzen in der Kybernetik erahnen. Schwellenereignisse, wie sie von modernen Industriegesellschaften ausgelöst werden, sind äußerst aktuell im Rahmen des Klimawandels, aber auch als Finanzkrisen, Massenmigration oder zunehmende Funktionsstörungen in Justiz und Verwaltung. Und das nicht mehr kontrollierbare Chaos in der Internet-Kommunikation ist nun wirklich nicht mehr zu übersehen.
Ich nehme den Menschen wahr als ein Wesen, das nach seiner Herauslösung aus dem Tierreich durch sein Selbst-Bewusstsein von dem Gefühl tiefsten Gekränktseins besessen ist. Vordergründig beruht dieses Gefühl auf dem Wissen um seine Endlichkeit, und hier müssen seit Jahrtausenden Begräbnisrituale und Jenseitsideen herhalten, das entsprechende Ohnmachtsbewusstsein wenigstens durch Nach-Tod-Phantasien etwas abzufedern. Viel entscheidender ist meiner Auffassung nach aber die totale Missachtung von Mitbestimmungsrechten bei der Frage, ob ich überhaupt in der Welt sein will. Die Entstehung individuellen menschlichen Lebens findet ohne jegliche Möglichkeit zum Abgeben oder Verweigern einer Einverständniserklärung desjenigen statt, den sie doch am meisten betrifft. Das ist maximale Kränkung, mehr geht nicht. Gewiss gibt es auch hier und da die eine oder andere Idee, diesen Sachverhalt irgendwie wegzuwischen. Am prominentesten sind wohl sämtliche Wiedergeburtserklärungen, weil sie sowohl die Entstehungs- als auch die Abgangskränkung in einem Aufwasch abräumen. Aber Frieden mit seiner Geworfenheit, wie der Philosoph Martin Heidegger es nennt, hat der Mensch niemals gemacht, dazu fühlt er sich den Göttern, die er erfunden hat, zu nahe.
Dass sich die Masse Mensch einem kritischen Schwellenwert zumindest nähert (es gibt ernst zu nehmende Stimmen, für die dieser längst erreicht ist) macht sich in meiner Wahrnehmung in verschiedenster Form bemerkbar. Es ist mir wichtig, nochmals zu betonen, dass Schwellenwert-Überschreitungen, wie ich sie interpretiere, keine eigentlichen Krisen mehr sind. In unserem Sprachgebrauch wird Krise als eine vorübergehende Stress-Phase verstanden, die mit geeigneten Maßnahmen überwunden werden kann, und danach geht’s dann im Prinzip einfach nur weiter. In der Diskussion über Meinungsmache sagt Timm Grams:
„Dabei müssten wir nicht unser Verhalten innerhalb der Box ändern, sondern wir sollten darüber nachdenken, das Wertesystem, die Box selbst, zu verändern.“
An anderer Stelle auf dieser Site habe ich den sprachlichen Schwellenwert, befördert durchs Internet, in eine Logosphäre hineinprojiziert. Natürlich habe ich keine Ahnung, wohin die Weiterentwicklung dieser Logosphäre führen kann. Cloud-Intelligenz ist ja ein inzwischen geläufiger Begriff, der auf eine Art kollektives Bewusstsein hinweist. Und auf sozialer bzw. politischer Ebene ist die 8-Milliarden-Masse Mensch in meiner Wahrnehmung eben längst auf dem Weg zu einem Schwellenwert oder hat ihn sogar überschritten. Mit z.B. dem UNO-Format (ein Land, eine Stimme) haben wir einen gewissen Einfluss auf Weltgeschehen. Aber dass Russland, China oder die USA sich dauerhaft auf einer Stufe mit Luxemburg oder Singapur sehen wollen, ist schwer vorstellbar. Der Anspruch der UNO-Gründung war nach den beiden Weltkriegskatastrophen hehr und verständlich. Ebenso die Formulierung von individuellen Menschenrechten, das Anstreben einer Menschheit von lauter Gleichen und andere Utopien. Aber alle solche Utopien verschließen die Augen vor der qualitätsverändernden Masse Mensch. Als biologische Individuen taugen wir nicht für funktionierende Gemeinschaften, die die Überschaubarkeit der lokalen Gruppe weit überschritten haben. Weil wir schlau sind, können wir viel Erstaunliches hinkriegen. Aber für die praktische Organisation von 8 Milliarden Individuen wird es nicht reichen. Nicht mit den bisher versuchten Mitteln.
Also was können wir tun?
Ich habe keine Ahnung.
Sind Welt und Leben deswegen sinnlos?
Das finde ich nicht.
Muss die Menschheit an sich selbst scheitern?
Es sieht so aus.
Ist das schlimm?
Das kann man so sehen, muss man aber nicht.
„Als biologische Individuen taugen wir nicht für funktionierende Gemeinschaften, die die Überschaubarkeit der lokalen Gruppe weit überschritten haben.“
Das „biologische Individuum Mensch“ ist ein Gespenst, dass sehr oft erwähnt wird, zu dem einige Leute auch meinen zu forschen, wenn es dann z.B. heißt, dass wir dazu gebaut wären, mit maximal 400 anderen Individuen zusammenzuleben.
Ich halte das für eine Sicht, die von einem Menschenbild ausgeht, das falsch ist. Auch die überschaubare Gruppe hatte Regelbrecher und bedurfte deshalb der kulturellen Regeln, sonst wäre die Entwicklung nicht in die Allgegenwart dieser Regeln weitergegangen. Und der grandiose Erfolg der sprachlich tradierten Regeln seit der Entwicklung der Sprache, ein evolutionär sehr neues Ereignis, sagt mir, dass die Art Mensch schon lange vor der Möglichkeit des gemeinsamen Denkens zur kulturellen Steuerung des Verhaltens übergegangen war, also schon lange vor der Zeit der größeren Gruppen, also vor wahrscheinlich über 300 000 Jahren.
Um die Sache ganz kurz zu machen: Wir können nicht wirklich funktionieren, wenn wir vor jeder Handlung eine Analyse zur Rechtslage herzustellen versuchen. Der „Ausweg“, den das Wesen Mensch, dessen Verhalten wie das aller komplexeren Lebewesen, die nicht schon durch physikalisch-chemische Regelkreise erklärt werden können, regelbasiert ist, der aber im Gegensatz zu den anderen Tieren dieses Regelwerk individuell lernen muss, genommen hat, ist, dass er dieses Regelwerk nicht abstrakt lernt, was seit er über eine abstrakte Spache verfügt, möglich ist, sondern bereits im Jugendstadium in seine Gefühlswelt integriert. (btw: Vielleicht bin ich da alleine, aber ich halte dieses Gefühlslernen für die Hauptfunktion der meist in anderen Zusammenhängen bejubelten Empathie)
Worum es hier geht, ist also die Unterscheidung zwischen gut und böse, zwischen richtig und falsch, kurz die Moral. Dazu gehört auch die Gemeinschaft, für die diese Moral gilt, oder das Gefühl dafür, wer das Wir ist, in dem wir leben.
Und da möchte ich den Blick lenken auf die Gefühle des Wir, deren Entwicklung wir historisch erkennen können: Wir beginnt mit der Familie, geht über die Sippe in den Stamm Dann kommt die Sprachgemeinschaft, es wird vor vergleichsweise sehr kurzer Zeit die Nation geschaffen. Speziell in der Erkenntnis der Bedrohung des gesamten Lebensraums Erde beginnen wir, uns als Menschheit zu begreifen – und zu fühlen.
Ältere Übergänge zum nationsübegreifenden Wirgefühl sind z.B. in den ominösen „religiösen Gefühlen“ zu sehen, die auch in der Vergangenheit zu gemeinsamem Handeln befähigt haben, auch wenn das regelmäßig keine besonders schönen Erfolge hatte.
Ich wäre also sehr vorsichtig mit der Begrenztheit des biologischen Menschen, denn die Kultur – zu der auch das gehört, was wir Gefühle nennen – gehört zur Grundausstattung des biologischen Menschen, er ist ohne sie nicht mehr denkbar, auch nicht mehr lebensfähig. Das sagt nicht, dass ich davon ausgehe, dass das evolutionäre Experiment Mensch glückt. Aber wir sollten es, bevor wir untergehen, in seinem ganzen Ausmaß und seinen Möglichkeiten erkennen.
Ganz kurze Anmerkung:
Die beiden angeführten existenziellen Kränkungen halte ich für kulturelle Konstruktionen.
„Ich nehme den Menschen wahr als ein Wesen, das nach seiner Herauslösung aus dem Tierreich durch sein Selbst-Bewusstsein von dem Gefühl tiefsten Gekränktseins besessen ist. Vordergründig beruht dieses Gefühl auf dem Wissen um seine Endlichkeit, und hier müssen seit Jahrtausenden Begräbnisrituale und Jenseitsideen herhalten, das entsprechende Ohnmachtsbewusstsein wenigstens durch Nach-Tod-Phantasien etwas abzufedern.“
Nachtrag, um das etwas weniger kurz abzubügeln als in der ersten Antwort:
Ich versuche mal, mir mein eigenes Ende, also die Welt ohne mich, vorzustellen:
Da stehen die meine Freunde um eine Kiste mit verwesendem Fleisch um eine Loch im Erdboden auf dem Friedhof oder um eine Vase mit etwas Asche herum auf einem Schiff und jemand hält eine Rede, was für ein netter Kerl ich gewesen sei, und die, die mich besser kannten, werden heimlich die Augen verdrehen.
Das Sonderbare an dieser Vorstellung ist, dass ich trotzdem vorhanden bin, als Zuschauer aus den Wolken, der da gerade seinen eigenen Tod und damit auch seine Zukunft als gedankliche Zeitreise (siehe Suddendorf: Der Unterschied) erlebt.
Mit anderen Worten: das Ende der eigenen Existenz ist zwar im gedanklichen Kalkül für mich unumgänglich (zu mir gehört eine Erinnerung, also Daten: Was soll die nach dem Ende der Funktionsfähigkeit meines Gehirns prozessieren, und wie kommen die da hin? Außerdem: Wie müsste ich mir die genetisch evolutionäre Entwicklung dieser weiterlebenden Seele vorstellen, welchen Vorteil brächte sie in der Entwicklung?), aber ich bin trotzdem nicht in der Lage, es mir wirklich vorzustellen.
Ich halte deshalb die kulturübergreifende Existenz des Bildes von der unsterblichen Seele nicht für die Antwort auf eine Kränkung sondern für eine einfache Folge der praktischen Unvorstellbarkeit des eigenen Endes.
Frank Wohlgemuth
Mit dem meisten, was Sie zur kulturellen Menschheitsentwicklung sagen, rennen Sie bei mir offene Türen ein. Allerdings leiten Sie in manchen Details dann Aussagen ab, die mir nicht einleuchten, weil ich sie anders bewerte. Damit steht dann Ansichtssache gegen Ansichtssache. Nur ein Beispiel gleich zu Beginn: Das „biologische Individuum Mensch“ kann man für ein Gespenst halten oder nicht, je nachdem, was man für ein Menschenbild hat. Ich habe keine Ahnung, ob wir „dazu gebaut sind“, wie Sie sagen, mit maximal 400 anderen Individuen zusammenzuleben. Vielleicht sind’s eher nur 40, oder aber gar 4000? Aber schon bei dieser simplen Frage möchte ich auf meinen Thementitel „Kritische Masse“ hinweisen: Ich sehe schon einen Unterschied, ob eine menschliche Gruppe ein anstehendes Problem auf Stammesebene lösen muss (jeder kann etwas sagen, wird gehört und bestätigt oder widerlegt) oder auf nationaler Ebene (der Einzelne kommt nur noch durch einen Repräsentanten zu Wort, der eine gewisse Anzahl von Gleichgesinnten vertritt, so gut das eben geht), oder womöglich gar auf internationaler Ebene (siehe meine Einlassungen zur UNO), wo auch die Repräsentanten wieder nur Repräsentanten sind, nur eine Ebene höher.
Ich würde mich freuen, Ihre Meinung zu eben Fragen dieser Art zu erfahren, und ob ich da auch nur Gespenster sehe.
Übrigens ist mir natürlich klar, dass die „Geworfenheits-Kränkung“ ein philosophisches Konstrukt ist. Aber ist das z.B. die Menschenwürde nicht auch?
Wo ich da die 400 herhatte, weiß ich nicht – eigentlich meinte ich die Dunbar-Zahl. Robin Dunbar hatte in den 90ern eine Korrelation zwischen Hirngröße und der maximalen Anzahl der individuellen Bindungen in den Gruppen einer Art hergestellt und kam so beim Menschen auf 150.
Ich hoffe aber, es wurde deutlich, dass ich wenig davon halte, derartige „biologische“ Betrachtungen zum Menschen anzustellen. Anführungszeichen deshalb, weil es den Besonderheiten der Art Mensch nicht gerecht wird. Und das sage ich als Biologe, den es schon als Schüler genervt hat, wenn ich in Schul- oder später Lehrbüchern lesen durfte, dass der Mensch kein Tier sei. Nicht nur die allgemeine Kulturfähigkeit sondern auch die aktuelle Kultur sind beim Menschen mitzubetrachten, wennn es um die Einschätzung seiner Möglichkeiten geht, weil die Art Mensch nur zu verstehen ist, wenn man anerkennt, dass sie auf die genetische Evolution eine kulturelle oben draufgesetzt hat, die ihn viel mehr bestimmt als seine angeblich vorhandenen genetischen Grenzen, die er regelmäßig kulturell übersteuert.
Das ist die Eigenschaft, die den Menschen zum Menschen macht, sie macht all die anderen Dinge, die so gern als Besonderheiten des Menschen aufgezählt werden, erst möglich. Um das an einem Beispiel zu zeigen: Suddendorf zählt zu den Besonderheiten des Menschen seine Fähigkeit zu „Zeitreisen“. Die sind möglich, nachdem wir durch die kulturelle Ansammlung einer abstrakten Sprache die Möglichkeit hatten, das Vokabular zu entwickeln, diese „Reisen“ zu denken. Ob die Sprache irgendwelche genetischen Voraussetzungen hat, die andere Arten nicht haben, weiß ich nicht. Aber dass bereits ihre Entwicklung die Fähigkeit zur akkumulierenden Kultur braucht, die es sonst erkennbar bei keiner anderen Art existiert, ist offensichtlich, wird aber anscheinend nicht wirklich wahrgenommen. Es ist eine Eigenschaft, deren Anfänge in unserer Ahnenreihe vor ca 2,5 Mio Jahren erkennbar sind (pebble stone Kultur).
Und mit der Sprache (als gemeinsam nutzbares Denkzeug erst seit ca 100 000 Jahren existent) entstand dann letztlich auch unser Geist weniger genetisch als kulturell. Wenn Sie also von einer kritischen Masse an Nervenzellen schreiben, ab der Geist entsteht oder entstehen kann, ist das insofern offensichtlich, als es schwierig ist, ein SAP ERP auf einem C64 zu installieren, aber die eigentliche Entwicklung dieses Softwaresystems ist nicht an eine bestimmte Hardware gebunden und entstand in einer Anhäufung vieler kleiner Einheiten, die den eigentlichen Entwicklungsprozess darstellt – auch das ist Kultur.
Zur Dunbar-Zahl noch etwas relativ Aktuelles, was ich eben noch gefunden habe:
https://www.scinexx.de/news/biowissen/mythos-von-maximal-150-freundschaften-widerlegt/
Zu anderen Ansichten:
Sie regen zum Denken an. Der Selbstversuch zum eigenen Ende entstand vor etlichen Jahren in der Diskussion mit einem christlichen „Missionar“.
Reinhard Haller vertritt die Kränkungsthes in des wirksamen Mensch sein.
Auf der einen Seite kann ich es nachvollziehen und sehe es auc so.
Kann es deshalb nicht sein,dass daraus Eitelkeit und Arroganz als Individuum erwächst?
Mir macht es mehr den Eindruck,dass Gegnerschaft das treibende Element für die kulturelle Entwicklung massgeblich ist.
Das Geworfen Sein hat die Natur als Gegner und nicht nur da,sondern auch in seinen Artgenossen. Das Gesetz der grossen Zahlen,man mag den Begriff jetzt hier verwerflich finden, findet in der Überlegenheit der Rasse statt.
Eitelkeit und Arroganz mit Fähigkeiten und Fertigkeiten führt zu Ignoranz gegenüber scheinbar Unzivilisiertheit.
Es ist unvermeidbar,dass in Zivilisationen und Zivilität Repräsentanz auftaucht.
Letztendlich bleibt für mich das Überlegenheits-/Unterlegenheitsproblem,die Eitelkeit und Arroganz,die Hybris im Sein,gegenüber der Mitwelt.
Gegnerschaft,der Natur abringen, scheint mir die tiefste Kränkung und höchste Eitelkeit.
Vertretung ist dabei ebenso ein Begriff,mit dem ich mich sehr schwer tue.
40, 150, 4000: Auf die exakte Zahl kommt es doch gar nicht so sehr an. Ich gehe es jetzt einmal von einer anderen Seite an. Liberaler Staat und Markt haben die unweigerliche Tendenz zu wachsen. Das Regelwerk, das das Ganze zusammenhalten soll, wird immer umfangreicher, rigider und zunehmend undurchschaubar. Der Individualismus führt zum Dirigismus. Es kommt zur Entfremdung von Staat und Bürger. Das ist die Selbstzerstörung des Liberalismus, von der Patrick Deneen schreibt (Why Liberalism failed). Man kann es als Schwellenereignis sehen, wenn die Schwelle auch breit sein mag. Trump ist Symptom, nicht Ursache.
Ich sehe es geringfügig anders: Es kann weder eine exakte noch eine ungefähre Zahl geben.
Wir bilden uns zwar ein, rational zu handeln, werden aber in Wirklichkeit von Gefühlen gesteuert, die wir in der Tradition unserer Kultur erwerben. Wir beide meinen etwas unterschiedliches, wenn wir von Regelwerk reden: Ich meinte die Moral, Sie und Deneen sprechen von den Gesetzen, die immer undurchschaubarer werden (ich kenne sein Buch nicht, schließe das aus Ihren Angaben.)
Um mal den klassischen Kulturbegriff zu nehmen (normalerweise benutze ich den hier https://de.wikipedia.org/wiki/Kultur#Der_Kulturbegriff_in_der_Biologie):
Wenn wir in die Geschichte sehen, können wir auf viele Kulturen z.T. auch mit Siedlungen in Großstadtgröße (Ägypten, Mexiko, Indien…) sehen, die über Generationen stabil waren. Insofern halte ich diese Überlegungen zur maximalen Größe der für uns überschaubaren Gruppen als Stabilitätskriterium schon von da her für praktisch überholt.
Die Moral, und damit auch das Wir hat in all diesen Kulturen funktioniert. Der Liberalismus ist keine Kultur in diesem Sinn, sondern nur ein Wirtschaftsregelwerk, das auf der Sicht des Menschen als Individuum basiert. Als solches allein kann er nicht dauerhaft funktionieren. Er funktioniert in Aufbauphasen, in denen das Wir aus der Not entsteht, und explodiert, sobald dieses Wir zerfällt. Zu erkennen in der Geschichte der BRD: Nach dem Krieg waren zwar wesentliche Kapitalanhäufungen noch erhalten, aber die Einkommen waren noch lange nicht so breit gestreut wie heute. Gleichzeitig war das obere Ende der Progression mit einem Spitzensteuersatz um die 50% über einen langen Zeitraum auch aus Sicht der Spitzenverdiener anscheinend erträglich – das war kaum Wahlkampfthema, weil in der Not alle bereit waren, in das Wir zu investieren. Als die Not weg war und dann noch der Feind von außen, der gefühlsmäßig schon lange erodierte, wegfiel, kam es zu einer weitgehenden Individualisierung, eigenartige Konstruktionen wie Sozialneid nach unten kamen auf usw.
Meine Interpretation dieser Geschichte geht dahin, dass der liberale Staat und Markt gar keine Tendenz hat zu fallen oder bestehen zu bleiben. Es ist eine Beschreibung einer Gesellschaft, die zu unvollständig ist, um irgendwelche Vorhersagen zu machen, weil darin der eigentliche soziale Kit nicht enthalten ist, der die Gesellschaft am Leben hält – es fehlt die Basis des Wir, die dafür sorgt, dass der Einzelne seinen Individualismus dämpft, ohne das als Mangel zu empfinden.
Das war, nachdem die Stämme kaum noch erkennbar waren, die Religion, die durch die Kirchen eine Konstanz der Tradition garantierte. Der moderne Staat hat an ihrer Stelle die Schule gesetzt, hat aber deren Rolle in der Vermittlung einer gemeinsamen Gefühlsbasis nicht erkannt, so dass der Lehrplan sich auf die abfragbaren Gegenstände beschränkt, die heute als interkulturell angesehen werden. Die Schule entlässt heute Individuen und keine Bürger.
@Wohlgemuth
Es ist wohl so: „Die Schule entlässt heute Individuen und keine Bürger.“ Das zeigt, dass der Liberalismus nicht nur „ein Wirtschaftsregelwerk“ ist, sondern fester Bestandteil unserer westlichen Kultur.
Zu den Regeln zähle ich die übergeordneten moralischen Imperative, die zentralen Artikel des Grundgesetzes, weiterhin Gesetze und Verordnungen. Die übergeordneten Imperativen sind das Reziprozitätsprinzip (Mt 7, 12), der kategorischen Imperativ und auch die im Westen hochgeschätzten Rechte des Liberalismus: Freiheit, Leben und Eigentum (John Locke). In diesem Rahmen findet der Fortschritt statt, und das möglichst grenzenlos.
Ein zentraler Glaubenssatz des Westens wird in Artikel 14 Absatz 1 GG formuliert: Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Absatz 2 nimmt aus gutem Grund für die BRD diese Zusage teilweise wieder zurück: Eigentum verpflichtet.
Artikel 14 GG macht ein Spannungsfeld deutlich, in dem Verordnungen und Regelungen entstehen, durch die dann keiner mehr richtig durchblickt. Aktuelles Beispiel: Gaspreisdeckel. Verstaatlichungen im Energiemarkt. Noch nicht allzu lange her: Bankenrettung.
Meist läuft es auf eine Privatisierung der Gewinne und Sozialisierung der Verluste hinaus. Der Liberalismus zerstört sich selbst. Leider.
Ich kann nur zustimmen, wenn Sie schreiben: „Es fehlt die Basis des Wir, die dafür sorgt, dass der Einzelne seinen Individualismus dämpft, ohne das als Mangel zu empfinden.“
Und ja: Der Liberalismus und die daraus sich ergebende freie Marktwirtschaft ist auf Expansion aus. Wir kommen den Chinesen mit den Freiheitsrechten und erwarten die Öffnungen der Grenzen für unsere Produkte: Coca-Cola, Starbucks, Volkswagen, … Wenn der Handelspartner dann mit gleicher Münze zurückzahlt, dann kommen wir mit Handelsschranken, wie gerade eben beim Hamburger Hafen. Das ist nicht zu verurteilen, läuft aber nicht mehr unter der Flagge des Liberalismus.
@Timm Grams
Wir sind uns anscheinend in vielem einig – ich versuche, mich auf meinen Widerspruch zu beschränken:
Was sie implizit aufzeigen ist ein Verfassungspatriotismus, den ich auch für einen Teil der Lösung halte.
Ich vermute aber, dass dieses intellektuelle Konstrukt in dieser Form nicht massenwirksam ist, es spricht Sie auf der Gefühlsebene an, ich spüre Ihre persönliche Leidenschaft, aber für die Masse ist es ähnlich undurchsichtig wie die aktuelle Energiepolitik. Da frage ich den Lehrenden Grams, den ich nicht kenne: Sie hatten an den Universitäten einen ausgewählten Anteil der Jugend vor sich, in Ihren speziellen Themen sogar einen Teil, der weit überdurchschnittlich in der Lage ist, abstrakt zu denken und auch Anstrengung für dieses Denken in Kauf zu nehmen. Wie groß war unter denen der Anteil derer, die das, was Sie präsentiert haben, nicht nur gelernt, also nach-gedacht haben, sondern die in die Lage kamen, es selbst weiterzudenken und diese Leidenschaft selbst wieder weiterzugeben (müssen Sie nicht laut beantworten)?
Ich befürchte, dass die Wochenendspaziergänge in Ostdeutschland mit ihren Ritualen, wie den gemeinsam skandierten Parolen, den Fakenews, diesbezüglich erfolgreicher sind, selbst bei Menschen, die eigentlich verstehen könnten, dass sie sich an Unsinn beteiligen: Sie werden bei Ihrem Gefühl der Ohnmacht, der Unzufriedenheit abgeholt, der Inhalt der Nachricht spielt eigentlich keine Rolle. Auf diese Weise kam ein Boris Johnson an die Macht, ein Donald Trump usw. Man trifft sich bei Veranstaltungen, bei denen der Einzelne in der Masse aufgeht und sich wesentlich als ihr Teil empfindet, im Prinzip handelt es sich hier um eine mystische Verhaltensweise. Die funktioniert in dieser Form aber nur, wenn eine andere gefühlsbindende Traditionen in dieser Gemeinschaft nicht mehr existiert.
Sie weisen mit Ihrer Antwort mit Mt 7, 12 auf die Religion, von der wir nur feststellen können, dass sie bei uns auch nicht mehr „funktioniert“ – wir haben inzwischen nicht mehr die Hälfte der Bevölkerung in den Kirchen, und von denen die da noch drin sind, ist nur ein sehr kleiner Teil in der Lage, sein Christentum zu tradieren – um keine Missveständnisse aufkommen zu lassen: Ich bedaure das nicht, im Gegenteil. Ich empfehle in dem Zusammenhang die „Kirchenrepublik Deutschland“ von Carsten Frerk.
Noch ein Satz zu China: Da vergleichen Sie Obstkisten mit Obstplantagen. Coca-Cola, Starbucks Volkswagen sind im Wesentlichen Produkte. Was Produkte angeht, exportiert China mehr als es importiert – trotz des staatlichen Dumpings weitgehend ungehindert. Wenn China Produktionsstätten Anderer im eigenen Land zulässt, dann nur in einer Weise, dass sie das Know-How abgreifen können, ohne dafür zu zahlen, und die Produktion läuft letztlich immer unter chinesischer Regie – das geht in diesem System gar nicht anders. Eine bestimmende Funktion über einen chinesischen Hafen oder ein Teil davon ist nicht möglich. Hier war „der Westen“, auch Australien gehört dazu, lange blauäugig. Wenn sie hier von „mit gleicher Münze zurückzahlen“ sprechen, können sie sich nur auf die Zeiten des westlichen Kolonialismus beziehen.
@Frank Wohlgemuth
Verfassungspatriotismus ist nicht mein Ding. Im Hoppla!-Blog geht es mir nicht darum, für irgendetwas zu kämpfen oder zu missionieren. Als Skeptiker bin ich daran interessiert, innere Widersprüche von Denksystemen aufzuzeigen, die mit einem Endgültigkeits- oder Wahrheitsanspruch einhergehen. Zu meinem Entsetzen bin ich beim Liberalismus fündig geworden.
Der US-Politikwissenschaftler Francis Fukuyama sagt in einem Interview der FR (10.10.2022): „Der Neoliberalismus hat die Marktprinzipien in ein Extrem ausgeweitet, das für eine enorme Ungleichheit gesorgt hat. Zudem ist er für die Instabilität des globalen Finanzsystems verantwortlich.“ Und dabei hat Fukuyama 1989 den Liberalismus als das Ende der Geschichte ausgerufen.
@ Frank Wohlgemuth
Das genau sehe ich als Reaktion auf die Entfremdung von Bürger und Staat: „Man trifft sich bei Veranstaltungen, bei denen der Einzelne in der Masse aufgeht und sich wesentlich als ihr Teil empfindet“.
@Timm Grams
Es tut mir leid, wenn Sie es so verstanden haben, aber ich sehe Sie nicht als Missionar. Sonst hätte ich das anders formuliert, etwa statt „Was Sie implizit aufzeigen ..“Wofür Sie plädieren …“
Auf der anderen Seite ist es wohl nicht ganz abwegig, davon auszugehen, dass jemand, der nach Fehlern im System sucht, auch auf der Suche nach einem besseren System ist. Zum Missionar könnten Sie aber erst werden, wenn Sie sicher wären, die Lösung gefunden zu haben – das habe ich bei Ihnen aber bis jetzt nirgends gelesen.
Was ich in Ihren Texten aber lese, ist eine gewisse Leidenschaft für unsere Verfassung, die ich teile.
Mir scheint, wir suchen beide nach der Ursache, warum dieses System, das (in der normalen Bedeutung) das menschlichste ist, das wir je hatten, trotzdem nicht stabil ist. Allerdings komme ich von einer anderen Seite, nämlich der Verwunderung über bestimmte Eigenarten des Tieres Mensch.
Ihre Interpretation des mystischen Verhaltens, das ich beschreibe, geht davon aus, dass es je einen festen Bezug zwischen Bürger und diesem Staat gegeben hätte, von dem aus eine Entfremdung möglich wäre. Genau das ist es aber, was ich bezweifle. Die Verbindung, die die Menschen zu diesem Staat eingegangen sind, entstand nach dem Krieg aus der gemeinsamen Not. Nachdem die Not weg ist, ist da nur noch bei sehr wenigen etwas, den Idealisten in Sachen Demokratie. Die übrigen, die da aktiv sind, sind auf der Suche nach eigener Macht, oder zusätzlich wie Herr Spahn, der wenn er an der Macht ist, zeigt wie egal ihm die Verfassung ist (>Sterbehilfegesetz), unterwegs, um mit Hilfe einer Gottesfraktion die religiösen Weisungen Gesetz werden zu lassen. Wobei es unterschiedliche Kirchen gibt, die diese religösen Weisungen erteilen, die einen huldigen Göttern, die anderen dem Markt.
Auch wenn ich in der Geschichte zurückblicke, lassen sich die Demokratiebewegungen für mich eher als von der Not getragene Bewegungen denn als Weg zum abstrakten System Demokratie interpretieren. Sobald die Not gelindert oder von einer anderen verdrängt worden war, überließ man den Staat wieder den anderen.
Im Kern sind es doch die Konflikte,die inneren und äußeren,die uns begegnen,die wir selbst in die Welt setzen,die wir selbst lösen wollen/müssen, die durch uns- ich und wir- entstehen.
Insofern schließe ich an ‚Unterlassen‘ an.
Frank Wohlgemut
Es geht mir in meinem Aufsätzchen überhaupt nicht um Fragen der kulturgeschichtlichen Wege und Irrtümer und was sich eventuell daraus ableiten lässt hinsichtlich der Möglichkeiten, menschliche Gesellschaften zu organisieren. Mein Thema hier ist, ob eine – in meiner Wahrnehmung – ins Monströse gewachsene und weiter wachsende Menschheit, die auf einem endlichen Planeten im wahrsten Wortsinn ihren Platz sucht, mit den bisher erprobten Mitteln auf Dauer erfolgreich sein kann. Anders gefragt: Gibt es vielleicht einen rein zahlenmäßigen Grenzwert (die Erde hat eine eindeutig bezifferbare Größe), der prinzipiell „kritisch“ ist in dem Sinne, wie es beim Begriff Kritische Masse definiert ist? (Wo dieser Grenzwert liegt, ob er noch kommt oder vielleicht schon da war, weiß ich nicht. Die Zahl 8.000.000.000 ist nur der aktuelle Aufhänger.)
Was es nützen soll, diese Frage zu beantworten, sei dahingestellt. Aber: Gibt es keine Kritische Masse Mensch, dann geht’s halt irgendwie weiter. Gibt es sie doch, gibt’s nur einen Ausweg: Sie muss verkleinert werden. Wie das gehen soll, weiß ich ebenfalls nicht.
Da Sie die Frage an mich richten: Ich habe keine Ahnung, kann aber laut darüber nachdenken, Sie dürfen es auch freies Faseln nennen.
Ich habe zu dem Thema schon schlaue Leute gehört, die unter Zugrundelegung der potenziellen Anbauflächen und der Anwendung der entsprechenden Düngemittel genau ausgerechnet hatten, dass die Erde 16? Milliarden (schon länger her, dieser Vortrag) Menschen ernähren könnte, wenn wir das Verteilungsproblem in den Griff bekämen. Ich halte solche Prognosen für schräge, nicht nur, weil unklar ist, wie wir das Verteilungsproblem in den Griff bekommen sollen, ohne eine brutale Weltherrschaft zu installieren, sondern auch, weil wir keine Ahnung haben, wie lange unsere Produktionsflächen soetwas mitmachen – wir pokern bereits heute, weil wir die Entwicklung der Böden bei der Beanspruchung, der wir sie aussetzen, nicht mehr vorhersehen können.
Es gibt da außerdem nicht nur einen Grenzwert, es gibt viele (s.u.), die aber alle den Nachteil haben, dass wir, wenn wir versuchen, uns ihnen anzunähern, wahrscheinlich die Erfahrung machen werden, dass wir ihr Erreichen erst bemerken, wenn wir sie überschritten haben: In meiner Antwort auf John Solar in „Meinungsmache“ habe ich von einem Wahrnehmungsproblem geschrieben: Komplexe Systeme neigen dazu, die Wirkung von Störgrößen zu puffern, so dass die sichtbaren Stör-Effekte sehr klein sind – bis die Puffergrenze erreicht ist. Danach bricht der betroffene Regelkreis scheinbar plötzlich zusammen.
Es besteht ein Problem in der Definition dieses Grenzwertes: Wenn der Maßstab Nachhaltigkeit ist, also dass wir in der Lage sind, der nächsten Generation eine Erde ohne eine Verschlechterung der Biodiversität und der biologischen Produktivität zu übergeben, liegt dieser Grenzwert schon länger hinter uns.
Da wir noch weit von der gemeinsamen Handlungsfähigkeit entfernt sind, die Verteilungsprobleme uns noch erhalten bleiben, die Frage, wie groß der Anteil an Verhungerten sein darf, um uns in der Summe noch als ernährt zu bezeichnen. Man kann es auch allgemeiner formulieren: Wie weit muss die allgemeine Lebensqualität sinken, um uns dazu zu bringen, zu erklären, dass unsere Zahl zu groß ist? Der Mensch ist eine Art mit sehr variablen Ansprüchen.
Die unklare Entwicklung der Biosphäre mit dem Klima, der Wasserverteilung, der Stabilität der einzelnen Lebensräume habe ich bereits angesprochen. Ich kann Ihre Frage also nur als ein Bündel von Fragen zurückgeben. Das Einzige, was ich mit Bezug auf die erkennbar nicht umkehrbare Entwicklung der Biospähre sicher sagen kann, ist, dass dieser Grenzwert im Sinken begriffen ist. Und das ist unabhängig davon, wie wir ihn definieren.
Kritische Masse, Teil 2
Die Frage, ob womöglich die schiere Anzahl von Menschen das Leben auf diesem Planeten auf einen katastrophalen Kollaps zusteuern lässt, führt wie bei allen Mengenbetrachtungen zum Begriff der Untergruppe. Gemeint ist, dass Qualitätssprünge bei Wachstumsprozessen auch in unteren Zahlenbereichen beobachtbar sind.
Die Staatsform Demokratie fußt geradezu auf dem Untergruppenprinzip: Dass ein uneingeschränkter direkter Meinungsaustausch nur bis zu einer gewissen Menge von Individuen möglich ist, leuchtet sofort ein, zumal dann, wenn dem Einzelnen bezüglich seiner Meinungen nahezu völlige Freiheit zugestanden wird. Wollte sich nämlich jeder mit jedem beliebig aussprechen, würde der zeitliche Rahmen für eine solche Diskussion irgendwann gesprengt. Streiten ließe sich bestenfalls darüber, ob bei 100 oder 500 oder welcher Teilnehmerzahl auch immer eine solche Grenze liegt, bei 60 000 000 zum Beispiel (Anzahl der Wahlberechtigten in Deutschland) jedenfalls dürfte sie überschritten sein. Es ist demnach folgerichtig, dass Demokratien repräsentativ organisiert sind, indem sich Untergruppen (Parteien) bilden, die eine große Zahl von Bürgern mit halbwegs ähnlichen Meinungen in Parlamenten stellvertreten. Das ist 1.Klasse Staatsbürgerkunde, so weit, so trivial.
Weit weniger trivial und deshalb schnell unterschätzt ist das Untergruppen-Phänomen in zahlreichen anderen Bereichen organisierter Massengesellschaften. Gerade in jüngster Zeit greift etwa die Diskussion über Minderheiten immer vehementer um sich, und jede Minderheit ist eine Art Untergruppen-Prototyp. Damit soll gesagt sein, dass jede Minderheit, und sei sie noch so klein, selbst zu einer kritischen Masse anwachsen kann. Eine kleine Beispiel-Sequenz soll das illustrieren.
1. Das Down-Syndrom betrifft weltweit etwa einen von ca. 600 bis 800 Personen, also zwischen 0,0017 und 0,00125 Prozent. Rein statistisch hat also jede Dorfgemeinschaft dieser Größenordnung einen Mitbewohner mit Down-Syndrom, den man in vergangener Zeit als sogenannten Dorfdeppen einfach mitleben ließ, in der Regel sogar mit mehr oder weniger ausgeprägter Zuneigung akzeptierte. Ein solcher Mensch ist in dieser überschaubaren Umgebung eine singuläre Erscheinung, auf 80 000 000 Bundesdeutsche hochgerechnet werden daraus freilich mehr als 100 000 Menschen. Der Einzelfall erhält ein keinesfalls mehr unbedeutendes Gewicht.
2. Nach Angela Merkels „Wir schaffen das“ 2015 kamen etwa 1,2 Millionen Flüchtende nach Deutschland. Wären diese rein statistisch auf Deutschland verteilt worden, hätte unsere obige Dorfgemeinschaft rund 10 von ihnen aufnehmen müssen. 10 Einzelfälle in einer Gesamtheit von rund 700 ist eine Minderheit. Freilich lassen sich 1,2 Millionen, die in Familien- oder Dorfverbänden in völlig fremder Umgebung ankommen nicht statistisch verteilen, so dass es Gemeinden gab, in denen auf 2000 Einheimische vielleicht 100 oder mehr Flüchtende kamen. Der Einzelfall wird schwerer und schwerer und erreicht hier und da eine womöglich kritische Masse bezüglich dessen, welches Maß von Überfremdung vom Durchschnittsbürger widerspruchslos toleriert wird.
Es ließen sich beinahe beliebig viele Beispiele aufzählen, in denen gleichsam massenhaft summierte Einzelfälle zu so ernsthaften Faktoren werden, dass sie mit herkömmlichen Maßnahmen nicht mehr bewältigbar sind. Kritische Massen überall, noch ein paar Beispiele:
– Die Gerichtsbarkeit droht allein an der Anzahl von Verfahren zu ersticken, es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis Rechtsprechung Glückssache ist. In vielen Verwaltungsbereichen (Meldewesen, Sanierung, Bildung, Gesundheit, um nur einige zu nennen) ist es prinzipiell nicht viel anders.
– Die Börsenspekulationen agieren in Geldmengen-Räumen, die so weit von realen Werten entfernt sind, dass jede Finanzkrise zum totalen Zusammenbruch der Weltwirtschaft führen kann, mit unabsehbaren Folgen für alle.
– Die meisten Rohstoffe, auch Nahrung, werden immer knapper oder sind so ungleich in der Welt verteilt, dass ihre globale Verfügbarkeit rein logistisch nicht mehr gewährleistet ist. Konflikte, Kriege und Massenmigration verschärfen die Lage weltweit. Der Ukraine-Krieg z.B. hat das nur zu deutlich gemacht.
Aber die Menschheit kann nichts anderes als weiterwursteln, denn die womöglich entscheidende Kritische (Menschen-)Masse steht nicht zur Disposition. Die Erde muss an sie angepasst werden, andersherum darf es unter keinen Umständen kommen, jedenfalls nicht, solange wir glauben, an ersterem mit Weiterwursteln doch noch irgendwie festhalten zu können. Wir können uns noch nicht einmal eingestehen, dass die meisten Untergruppen, wir bezeichnen sie als Völker, bereits in kritische Größenordnungen vorgerückt sind. Der immer mehr entscheidende Faktor wird hier die zur Kritischen Masse angewachsene Korruption, innen- wie außenpolitisch. Sie ist so fest verankert in den Subsystemen (Politik, Wirtschaft, Religion, Militär, Wissenschaft, Kultur usw.), dass keine Kontrolle oder gar Korrektur mehr möglich scheint. Verlustaversion heißt der Schatten, über den wir hier kollektiv springen müssten, aber nicht können.
Also was können wir tun?
Ich habe keine Ahnung.
Sind Welt und Leben deswegen sinnlos?
Das finde ich nicht.
Muss die Menschheit an sich selbst scheitern?
Es sieht so aus.
Ist das schlimm?
Das kann man so sehen, muss man aber nicht.
Eine rechnerische Anmerkung vorweg:
Wenn ich aus einem Dezimalbruch eine Prozentzahl machen will, sollte ich das Komma um zwei Stellen nach rechts rücken. Die Wahrscheinlichkeit für ein Kind mit Trisomie 21 liegt also über alle Altersklassen der Gebärenden gemittelt zwischen 0,17 und 0,125%. Wegen des relativ hohen Anteils an Spätgebärenden liegt sie in Deutschland eher bei 0,2%.
Zum Flüchtlingsproblem:
Flüchtlinge werden für den aufnehmende Staat da zum Problem, wo sie es – bei einer Herkunft aus einer Kultur, die sich stark von der des Aufnehmerlandes unterscheidet, nicht schaffen, sich in die neue Gesellschaft einzugliedern, oder anders ausgedrückt, wo sie es durch Clusterbildung schaffen, Inseln der Herkunftskultur zu schaffen, in denen sie an dieser Kultur festhalten können. Dies führt nämlich dann auch dazu, dass auch die Kinder und Enkel in dieser Herkunftskultur sozialisiert werden und teilweise größere Intergrationsproblem haben als die ursprünglichen Immigranten.
Wir haben hier also ein Problem, weil auch Immigranten eine freie Wohnortwahl garantiert wird. Wenn es dauerhaft gelänge, die Wohnortwahl während der ersten Jahre staatlich zu organisieren und die Flüchtlinge in einer Gleichverteilung unter der ansässigen Bevölkerung zu verteilen, wären die Folgeprobleme wie z.B. die Nichtakzeptanz von Frauen in Führungsrollen oder als Lehrerinnen stark verringert.
Die „kritische Masse“ ist hier also die Menge der zusammenwohnenden Familien, ab der die Herkunftskultur zur Entwicklung einer gesellschaftlichen Parallelkultur führt.
Es gab übrigens vor kurzem eine Meldung aus Dänemark oder Schweden, die genau das zum Thema hatte und mit Zahlen belegte.
4 Semester Hochschulmathematik, und dann sowas. Irgendwann schein ich nicht aufgepasst zu haben. Peinlich.
Dennoch bleibe ich bei meinen prinzipiellen Kritische-Masse-Überlegungen.
hmmmm, die Lüge vom neuen Flüchtlingsstrom ein Bericht vom Studio Monitor
https://www.youtube.com/watch?v=rPQrrkZuNAg
Da ist doch überall so viel Bull Sh… Info unterwegs oder?
Aber das mit dem besseren verteilen der Flüchtlinge fände ich einerseits gut, damit nicht so Cluster entstehen, das hätte evtl. auch die Clan Kriminialität entschärft, aber in zeiten mit Internet Smartphone ist das doch schneller alles passe wie wir schauen können und wir sind halt ein freies Land…
@ Rainer Gebauer
Vermutlich gibt es eine „kritische Masse“ wie Sie es sehen. Wesentlichen Einfluss nehmen die kulturellen Gegebenheiten eine Art von „Psychisches Betriebssystem“, die Lebensmittelnutzung mit Ressourcenansprüchen, die mehr oder weniger friedliche „Optimierung“.
1. Ich nenne die ideologische, religiöse, philosophische individuelle Ausrichtung einfach das „Psychische Betriebssystem“, z.B. der Asiaten, Afrikaner, Amerikaner, Europäer,…
In Asien sind die Bevölkerungsdichten sehr hoch, die Menschen eher kooperativ. Der einzelne Mensch in der Gesellschaft strebt an, ja nicht „aufzufallen“. Die Menschen im Westen stehen für Konkurrenz, Individualismus, …
2. Die Verwertung der Lebensmittel und Nutzung der Ressourcen ist bei den Asiaten wesentlich besser, als z.B. im Westen. Sie kommen mit sehr geringen Mengen an Lebensmittel und Ressourcen aus. Ich habe gehört, dass Kriegsgefangene in Japan die 5 fachen Essensrationen der japanischen Kampftruppen bekommen haben sollen, dennoch an Hunger litten. Araber wiederum, haben eine erstklassige Wasserökonomie und kommen mit der Hitze gut zurecht.
3. Die sozial „verträgliche“ Optimierung. Das „anspruchsvolle Europa“ ist dabei, selbst die Bevölkerungszahl abzusenken. Letztlich tragen sogar gesellschaftliche Veränderungen z.B. (Homoehen,….) relativ human dazu bei. Die religiösen Konzepte der Araber bewirken das Gegenteil.
Kurz gesagt, die Welt könnte vielleicht 50 Milliarden Asiaten „ertragen“, aber kaum 10 Milliarden Europäer oder Amerikaner……