Der Krieg braucht Emotionen, der Frieden kühlen Kopf

Der Spiegel gibt seinem aktuellen Heft (23.4,2022) den Titel „Wovor haben Sie Angst, Herr Scholz?“

Hoppla! Das kann nur eine rhetorische Frage sein, denn der Bundeskanzler hat ja klar ausgedrückt, dass er eine Eskalation des Krieges in der Ukraine fürchtet und er vermeiden will, dass Deutschland und auch die NATO in den Konflikt hineingezogen werden. Das Unheil könnte durch die Lieferung von schweren Waffen größer werden. Ob die Furcht berechtigt ist – wer weiß das schon? Mir scheint das Zögern des Bundeskanzlers eine vernünftige Reaktion angesichts der Umstände zu sein.

Aber diese rhetorische Frage soll offenbar Druck erzeugen. Der Spiegel wird genauer: „Seit Tagen drängen Kiew, die Bündnispartner und Politiker Ihrer Koalition bis hin zur Außenministerin auf die Lieferung schwerer Waffen. Warum tun sie das nicht?“ Damit schwenkt der Spiegel auf die von einigen Meinungsmachern wie dem ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk lautstark vertretene Linie ein: möglichst schnell Panzer und anderes schweres Gerät in das Kriegsgebiet liefern. Wer das nicht tut, verrät die Werte des Westens. Denn: „Europas Freiheit wird in der Ukraine verteidigt.“ So jedenfalls gibt Paul Ronzheimer von der Bild-Zeitung eine derzeit virulente Erzählung wieder (16.1.2022). Der Krieg braucht Emotionen. Pathos.

Im Laufe der Diskussion meines letzten Artikels kommt es zu einer bemerkenswerten Entgleisung.

Sebastian Bartoschek stellt auf Facebook fest, „dass bewußtes menschliches Handeln aus Gefühlen erwächst. Ja, diese Gefühle sind in Abwägung zu bringen, und nicht ungebremst auszuleben. Ich habe auch weder von Michael Roth, Agnes Strack-Zimmermann, von Anton Hofreiter, oder gar von Andre Melnyk, oder Wolodymyr Selenskyj eine rein emotional bedingte Forderung, wie die Bombardierung von Moskau, aus Wut und Vergeltung, gehört.“ Und weiter: „Was ich aber gehört habe ist eine generelle Abwertung emotionaler Zustände. Vielleicht ist es eine typisch deutsche Eigenart: die Überzeugung, dass das beste Handeln kalt sei. Dass Abwägungen und Entscheidungen am besten sind, wenn sie unabhängig menschlicher Gefühle gefällt werden. Wenn man mit ihnen, unabhängig persönlicher Gefühle, einem höheren Ziel zuarbeitet. Diese Haltung hat viel Leid über Menschen durch deutsche Hand gebracht, und es führt derzeit Leid weiter.“

Den Artikel Kopf oder Bauch? erinnernd antworte ich: „Der Skeptiker hält sich in dieser Frage eher an Daniel Kahneman (schnelles/langsames Denken) und weniger an Gerd Gigerenzer (Bauchentscheidungen). Emotionen gegen das rationale Denken zu wenden, finde ich irgendwie unangemessen. Das Bemühen um rationale Bewältigung der Situation ist nicht notwendigerweise mit Gefühlsarmut verbunden.“

Bartoschek erspart sich Argumente und meint: „Haben wir´s langsam, Putintroll?“

Das ist feindselig und niederträchtig. Eine frei erfundene Anschuldigung, eine reine Gefühlsäußerung ohne sachliche Begründung, wird ins Feld geführt. Anlass ist eine im Grunde unbedeutende Meinungsverschiedenheit. Ungebremste Emotionen vertiefen Konflikte und schüren Hass. So entstehen Kriege.

Wir Bürger, im Allgemeinen keine Fachleute für globale Strategien und Militärwesen, sind der Propaganda ausgeliefert – der des Gegners und der der eigenen Seite  – einschließlich Gegenpropaganda. In der freien Welt haben wir freien Zugang zu den Medien. Deshalb sollte es uns gelingen, die Propaganda des Gegners zu entlarven. Schwieriger wird es bei der Propaganda in den eigenen Reihen. Die Propagandisten kennen nämlich die Regeln der liberalen Presse und nutzen sie. Ein wesentliches Element der Propaganda ist die Emotionalisierung. Wer nicht Opfer werden will, sollte seine Intuition durch Reflexion kontrollieren.

Propaganda als solche zu identifizieren, kann auf zwei Weisen gelingen: durch das Aufzeigen innerer Widersprüche und durch gut bestätigte falsifizierende Fakten. Manchmal gelingt das gut, manchmal weniger.

Ich bringe ein paar Beispiele dafür, wo meines Erachtens kritisches Denken angezeigt ist.

Bilder wirken unter Umgehung des kritischen Verstandes direkt aufs Gemüt. Warum also bringt man im öffentlich-rechtlichen Fernsehen Schreckensbilder aus den Kriegsgebieten mit dem Hinweis, dass diese nicht von unabhängiger Seite verifiziert sind? Was bei den Leuten hängen bleibt, sind die Bilder und die Schuldzuweisungen. Der Haftungsausschluss geht in der Gefühlswallung unter. Das ist voraussehbar und von den Redakteuren offenbar auch gewollt.

Die Stimmungslage wird in den Debatten genutzt. Ich frage nach Argumenten für Waffenlieferungen und bekomme als Antwort Videos von den Kriegsverbrechen. Wir sehen die herzzerreißenden Bilder aus der Ukraine und wissen: Dieses Sterben muss aufhören. Ob das am besten gelingt, wenn man Leopard-Panzer liefert, ist eine Frage, die aber unabhängig von den Schreckensbildern beantwortet werden muss.

Für Jahrzehnte galt: keine Waffen in Krisengebiete. Jetzt soll diese Regel nicht mehr gelten. Der Blick auf das Elend berührt uns. Die Bilder aus der Ukraine erregen unsere Empathie. Die Emotionen überwältigen uns und gewinnen die Oberhand über das rationale Denken, über die Reflexion. Dadurch öffnet sich das Einfallstor für Manipulation, Propaganda und Hetze. So können wir leicht auf die schiefe Bahn geraten und uns ins Verderben stürzen.

Wenn wir uns fragen, wie es zur Katastrophe kommen konnte oder wie wir aus diesem Elend wieder herausfinden können, dann hilft es uns nicht weiter, wenn wir uns ständig die Bilder des Elends vor Augen führen. Das mag gefühlskalt klingen. Die rationale Aufarbeitung aber ist der einzige gangbare Weg heraus aus der Katastrophe.

Mit der Emotionalisierung haben wir schon unschöne Erfahrungen gemacht. Peter Struck verlautbarte am 4. Dezember 2002 diese Begründung des Afghanistan-Einsatzes: „Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt.“ Das schmähliche Ende der Operation ist noch nicht lange her. Haben wir die Lehren daraus schon wieder vergessen? Heute heißt es unverdrossen „Europas Freiheit wird in der Ukraine verteidigt.“ Nein, wird sie nicht. Selenskyj hatte vor Kriegsbeginn in seinem Land stark an Beliebtheit eingebüßt, weil er unter anderem sein Wahlversprechen der Korruptionsbekämpfung nicht eingelöst hat. (Bereits vor drei Jahren, am 22.05.2019, schrieb Heiko Pleines diesen Kommentar: Wie sich die Ukraine unter Präsident Selenskyj entwickeln könnte.)

Olaf Scholz ist zuzutrauen, dass er einen kühlen Kopf bewahrt. Genau ein solcher wird momentan dringend gebraucht.

Hintergrundmaterial

Wir sollten uns noch einmal anschauen und anhören, was Wladimir Putin in der Vergangenheit vor der Weltöffentlichkeit gesagt hat. Darüber hinausgehende Spekulationen zu seinen Motive bringen in der augenblicklichen Situation keinen Zugewinn an Klarheit, meine ich.

Wladimir Putin, Präsident der Russischen Föderation. Wortprotokoll der Rede am 25. September 2001 vor dem Deutschen Bundestag:
https://www.bundestag.de/parlament/geschichte/gastredner/putin/putin_wort-244966

Am 9. Februar 2007 wird Putins Kehrtwende deutlich. Moskau duldet Amerika nicht mehr als einzige Weltmacht: „Eine monopolare Welt, das heißt: ein Machtzentrum, ein Kraftzentrum, ein Entscheidungszentrum. Dieses Modell ist für die Welt unannehmbar. Es ist vernichtend, am Ende auch für den Hegemon selbst.“
https://www.zeit.de/online/2007/07/Putin-Sicherheitskonferenz
http://www.ag-friedensforschung.de/themen/Sicherheitskonferenz/2007-putin-dt.html
https://www.karenina.de/wissen/geschichte/putins-brandrede-auf-der-msc-2007/
https://www.ardmediathek.de/video/dokumentationen/10-02-2007-putin-kritisiert-usa-politik/phoenix/Y3JpZDovL3Bob2VuaXguZGUvMjUyNDU1Mw

Im OSZE-Jahrbuch 2014, Baden-Baden 2015, S. 123-138, schreibt Steven Pifer (Botschafter der USA in der Ukraine von 1998 bis 2000) über die Beziehungen zwischen den USA und Russland in der Ära Obama: „Als Barack Obama im Januar 2009 Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wurde, waren die bilateralen Beziehungen zwischen den USA und Russland in der Folge des russisch-georgischen Konflikts von 2008 auf einem Tiefpunkt angelangt. Bereits vor dem Konflikt hatten sich die amerikanisch-russischen Beziehungen seit mehreren Jahren auf Talfahrt befunden; die beiden Länder stritten über strategische Rüstungskontrolle, Raketenabwehr und die Beziehungen der NATO zur Ukraine und zu Georgien.“

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Eine Antwort zu Der Krieg braucht Emotionen, der Frieden kühlen Kopf

  1. Frank Stößel sagt:

    Um Richtung und Kraft einer eigenen Emotion als Gegenspieler des eigenen rationalen Denkens in einer Aussage zu überprüfen, müsste man diese Aussage, wie nach dem Niederschreiben von Texten, noch einmal mit Abstand und Verstand reflektieren, bevor sie wie der Pfeil, der sich vom Bogen gelöst hat, zunächst unumkehrbar in die Welt hinaus gesendet wird. Dennoch kann sich wohl jede rational geformte Aussage emotional färben, wenn sich unsere Moral als Maß angesichts des schrecklichen Leids der anderen meldet. Deshalb ist die Besonnenheit, welche Olaf Scholz in der hoch-komplex-komplizierten Debatte um die Lieferung von „schweren Waffen“ in die Ukraine an den Tag legt, meines Erachtens nicht zu unterschätzen.

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