Ad hominem – unverzichtbar

Ad hominem nennt man Argumente, die auf die Glaubwürdigkeit der Quelle einer Behauptung und nicht auf deren Aussage selbst abzielen. Daran ist im Grunde nichts Schlechtes.

Ich erinnere mich an einen Vortrag eines berühmten, damals bereits emeritierten, Professors der allgemeinen Topologie, es muss 1975 gewesen sein. Er berichtete von einem Satz, an dessen Beweis sich schon viele Mathematiker lange Zeit ergebnislos abgearbeitet hatten. Jetzt sei die Forschung endlich abgeschlossen, der Satz widerlegt und das negative Ergebnis in einem Beweis niedergelegt, für den es zwei Buchbände brauchte. Diese Koryphäe auf dem Gebiet sagte nun, dass der Beweis eine Zumutung sei. Er habe nicht versucht ihn zu verstehen, aber er traue den Autoren. „Ich kenne sie gut.“ – Das ist ein typisches Ad-hominem-Argument. Verwerflich ist es nicht.

Quellen sind wichtig

Unser ganzes Wissen beruht letzlich auf Vertrauen: Vertrauen in Lehrer, Forscher, Lektoren, Redakteure, Journalisten, Moderatoren, Verlage. Kaum jemand hat Galileis Erkenntnisse über die Venusphasen oder Newtons Gesetze der Mechanik selbst nachgeprüft. Die wenigstens von uns werden die allgemeine Relativitätstheorie und die Quantenmechanik verstehen wollen. Wir vertrauen der Überlieferung und den Berichterstattern. Wenn uns neue spektakuläre Ergebnisse der Wissenschaft präsentiert werden, fragen wir am besten zuerst nach der Glaubwürdigkeit der Quelle. Es hat einen guten Grund, weshalb man in wissenschaftlichen Arbeiten auf einwandfreie Quellenangaben besteht. Und damit sind wir schnurstracks bei den Ad-hominem-Argumenten gelandet. Unvermeidlich.

In Skeptikernreisen wirft man dem Debattengegner gern vor, ad-hominem zu argumentieren, beispielsweise auch mir. Darin steckt der Vorwurf, dass der andere nicht auf das vorgebrachte Argument eingehe, sondern die Quelle angreife oder herabwürdige, um nicht auf das vorgebrachte Argument eingehen zu müssen.

Genau diesen negativen Sinn des Ad-hominem-Arguments finden wir bei Arthur Schopenhauer in Kunstgriff 16 seines Büchleins Die Kunst, Recht zu behalten:

Bei einer Behauptung des Gegners müssen wir suchen, ob sie nicht etwa irgendwie, nötigenfalls auch nur scheinbar, im Widerspruch steht mit irgend etwas, das er früher gesagt oder zugegeben hat, oder mit den Satzungen einer Schule oder Sekte, die er gelobt und gebilligt hat, oder mit dem Tun der Anhänger dieser Sekte, oder auch nur der unechten und scheinbaren Anhänger, oder mit seinem eigenen Tun und Lassen.

Die Doppelgesichtigkeit des Ad-hominem-Arguments zeigt uns Hubert Schleichert in seinem Buch Wie man mit Fundamentalisten diskutiert ohne den Verstand zu verlieren (1997/2004, S. 45):

Bei der Bewertung von Zeugenberichten über seltsame, wunderbare Ereignisse (von göttlichen Offenbarungen bis zu fliegenden Untertassen) sind zum Beispiel allgemeine Sätze wie die folgenden zu finden:
– Wunderberichte aller Art kommen regelmäßig von Exzentrikern, Drogensüchtigen, Psychopathen…
– Die Zeugen haben ein tiefes (eventuell unbewusstes) Bedürfnis nach Mysterien und Irrationalität.
– Die Berichte werden durch den Medienrummel stimuliert, Wunder geschehen nur dort, wo die Leute schon darauf warten.

Weiter schreibt Schleichert:

Gegen jeden skeptischen Einwand betreffs eines Wunderberichtes lässt sich natürlich auch eine Gegenthese aufstellen, so etwa: In der Regel sind es ehrenwerte, normale gesunde Menschen, die von dem wunderbaren Ereignis überwältigt und gerade zu vergewaltigt wurden.

Als Beispiel bringt er Piloten, die von fliegenden Untertassen berichten.

Also: Ad-hominem-Argumente sind nicht grundsätzlich verwerflich. Es kommt darauf an, ob die behauptete Glaubwürdigkeit bzw. Unglaubwürdigkeit der Quelle belegt werden kann.

Man kann es auch übertreiben

In meiner Abschlussvorlesung (Alles wurde ein erstes Mal gemacht) sagte ich:

Hundert kluge Köpfe bringen nicht hundertmal klügere Ideen zum Vorschein als einer allein. Der Geistesblitz ereignet sich notgedrungen in einem einzigen Kopf.

Ein Kollege sagte mir einmal: In seinem Fachgebiet würden die wissenschaftlichen Arbeiten meist von Autorenkollektiven hervorgebracht. Ich habe mir seinerzeit verkniffen, ihm zu sa­gen, dass ich Arbeiten mit mehr als zwei Autoren normalerweise nicht lese. Denn die Erfah­rung hat mich gelehrt, dass in solchen Arbeiten eigentlich nie etwas wirklich Interessantes zu finden ist.

Das ist die fundamentale Schwäche der Veröffentlichungen von Kollaborationen, Arbeitskreisen, Gremien und Diskussionsplattformen.

Ein Leser des Hoppla!-Blogs empfahl mir die Lektüre dieses Papiers des Amtes für Veröffentlichungen der Europäischen Union:

Politisches Verhalten verstehen: Wie Wissen und Vernunft zentrale Bedeutung für politische Entscheidungen erlangen

Daran haben 60 Fachleute verschiedener Fachgebieten mitgewirkt. Das Ergebnis ist danach. Die Veröffentlichung bewegt sich überwiegend an der Oberfläche und sollte sich wirklich etwas Bedeutsames darin finden, ist es unter einem Wust von Gemeinenplätzen verborgen. Leicht aufzufinden hingegen war diese Aussage:

Ergebnisse empirischer Forschungen in diesem immer noch verhältnismäßig neuen Gebiet deuten darauf hin, dass kollektive Intelligenz mehr ist als die minimale, maximale oder durchschnittliche Intelligenz der einzelnen Mitglieder einer Gruppe.

Ich denke, dass sie in dieser Allgemeinheit nicht stimmt.

Eine Sammlung von nützlichen Schlagwörtern für Politiker aber ist das Papier allemal.

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4 Antworten zu Ad hominem – unverzichtbar

  1. Rainer Gebauer sagt:

    Timm: Ich denke, dass sie in dieser Allgemeinheit nicht stimmt.

    Natürlich nicht, denn bekanntlich sind ja alle Verallgemeinerungen falsch.

    Ich habe den Begriff Schwarmintelligenz für mich inzwischen dahingehend definiert, dass auf ihn wohl auch nur die Binsenweisheit zutrifft, dass jede Ansammlung mehr sein kann als die Summe ihrer Teile, aber nicht zwangsläufig mehr sein muss.

    Wie war das noch? Jeder Mensch ist etwas Besonderes, und darin sind sich eben alle gleich.

  2. Timm Grams sagt:

    Rainer, Du hast recht. Genaugenommen ist die von mir aufgespießte Aussage sogar bedeutungsleer, kann also noch nicht einmal falsch sein. Das spricht auch nicht für das Papier.

    (Lasse mich kurz erklären, warum ich die Aussage für bedeutungsleer halte: Wer davon spricht, dass

    kollektive Intelligenz mehr ist als die minimale, maximale oder durchschnittliche Intelligenz der einzelnen Mitglieder einer Gruppe

    der sollte zunächst einmal sagen, was er unter „mehr“ versteht. Da von minimal, maximal und durchschnittlich die Rede ist, nehme ich an, dass von einer lineare Ordnung der Intelligenzen ausgegangen wird. Von einem Intelligenzmaß, das gleichermaßen auf Individuen wie auf Kollektive anwendbar ist, habe ich noch nichts gehört. Was soll denn der IQ eines Kollektivs sein?)

  3. Mossack Fonseca sagt:

    Ich glaube das heute Entwicklungen nicht mehr so ablaufen.

    Ein Geistesblitz eines einzelnen mag ja in der Vergangenheit tolle Dinge ermöglicht haben und wirds auch zukünftig geben, aber für die komplexen Probleme brauchts komplexe Lösungen und komplexe Zusammenarbeit…..

    Wenn heute Produkte entstehen die für die Energiewende Klimaschutz etc nötig sind, dann ist das kein Geistesblitz eines einzelnen mehr sondern ein komplexes Zusammenspiel von ganz vielen Gehirnen und Ausbildungen um am Ende ein tolles komplexes Produkt zu haben….

    Ich weiss nicht genau wie das funktioniert, ich weiss auch nicht genau wie sich das über die letzten Jahre so ermöglich hat, aber ich weiss das es so funktioniert.

    Wie könnte sonst Facebook, Amazon, Google, oder die ganze moderne Technik funktionieren, das macht doch nicht mehr einer allein……

    Eine Initial Idee ist noch im Kopf eines Menschen, aber dann????

    Die jungen dauervernetzten die denken und arbeiten ja auch schon ganz anders kooperativ…

  4. Timm Grams sagt:

    @ Mossack Fonseca

    Sie haben den Eindruck, dass heute der Geistesblitz an Bedeutung verliert. Könnte es daran liegen, dass heute das Marketing übernimmt? Die Beispiele, die Sie anführen, rufen in mir das Bild eines Heeres von hochqualifizierten Programmieren hervor, die die Ideen anderer so umsetzen, dass der Markt befriedigt wird.

    Erfinden geht anders. Dabei spielt der Zufallsfund, die glückliche Fügung (Serendipity), die Hauptrolle. Dann entstehen Produkte, die im Laufe der Zeit, in der Wechselwirkung von Produkt und Markt, verfeinert werden.

    Die Draisine oder Laufmaschine war ein Geistesblitz. Das Rennrad, das Mountainbike, das Klapprad mögen Ergebnisse von Teamarbeit sein. Ein herausstechendes Beispiel für Teamarbeit ist das Manhattan Projekt, das JR Oppenheimer geleitet hat. Nur so konnte die Atombombe zustande kommen. In FOCUS online lese ich:

    Im Bereich der Physik sind sich laut „Welt“ die Experten einig, dass die wissenschaftliche Leistung Oppenheimers nicht so groß ist, wie die anderer bedeutender Physiker, die dafür mit dem Nobelpreis geehrt wurden. Einige von ihnen, etwa Niels Bohr oder Albert Einstein, zählen heute zu den wichtigsten Forschern der Zunft und haben sich etwa mit dem Bohrschen Atommodell oder der Relativitätstheorie in Schulbüchern und der Geschichte verewigt.

    Ich habe nicht gehört, dass das Bohrsche Atommodell ein Ergebnis von Teamarbeit sei. Dasselbe gilt für die Relativitätstheorie. Und diese Ideen kommen selbstverständlich nicht aus dem Nichts. Die Transformationsgleichungen für die spezielle Relativitätstheorie hat Einstein von dem Mathematiker Hermann Minkowski übernommen. Soweit ich mich an mein Studium erinnere, war der entscheidende Schritt Einsteins, diese mathematischen Strukturen und Transformationen als Eigenschaften unserer Wirklichkeit zu begreifen. Die großen Entdecker und Erfinder stehen, nach einem Buchtitel von Umberto Eco, „Auf den Schultern von Riesen“ (2017/2019).

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