Zwei Empfehlungen und eine Warnung
Von zwei meiner Lieblingsbücher will ich berichten. Das erste – schon etwas angejahrt – ist „Das Einmaleins der Skepsis“ von Gerd Gigerenzer (2002). Es ist eine süffig formulierte und doch mathematisch überzeugende Darstellung dessen, wie unsere Intuition und alltäglichen Faustregeln (Heuristiken) uns zuweilen fehlleiten, und was wir mit etwas Logik und Mathematik dagegen tun können.
Das andere Buch ist neueren Datums (2010). Christian Hesse hat mit „Warum Mathematik glücklich macht“ 150 wunderbare mathematische Miniaturen geliefert, die auch dem mathematisch nicht übermäßig bewanderten Leser Lust auf Mathematik machen können. Der Titel ist wirklich nicht übertrieben.
Aber – hoppla! – eigentlich sind es ja 151 Miniaturen. Jedoch eine davon, die 17., sie trägt den Titel „Aus der Serie Regeln für die Faust“, ist mit erhöhter Vorsicht zu genießen. Hier finden wir nämlich einen Hinweis auf ein weiteres Buch von Gerd Gigerenzer: „Bauchentscheidungen“ aus dem Jahr 2007.
Hesse schreibt: „Die Psychologen Gigerenzer und Goldstein legten amerikanischen Studierenden an der Universität von Chicago folgende Frage vor: ‚Welche Stadt hat mehr Einwohner, San Diego oder San Antonio?’ Insgesamt 62% der amerikanischen Studenten gaben die richtige Antwort: San Diego. Das Experiment wurde anschließend in Deutschland wiederholt. Man würde vermuten, dass die Deutschen mit dieser Frage mehr Schwierigkeiten haben als die Amerikaner… Dennoch beantworteten alle befragten Deutschen – ja, 100% – die Frage richtig, obwohl sie weniger wussten. Ignoranz als Wettbewerbsvorteil? Paradox? Ja, und doch auch wieder nicht! Die Deutschen wendeten teils unbewusst die Rekognitionsheuristik an: Wenn du zwischen zwei Alternativen wählen kannst, von denen dir eine bekannt vorkommt und die andere nicht, dann entscheide dich für die bekannte.“
Wir reiben uns die Augen: Sind das nicht die Heuristiken, vor deren unkritischen Gebrauch Gigerenzer in seinem „Einmaleins“ gewarnt hat? Die Widersprüche zwischen den beiden Gigerenzer-Büchern sind derart offensichtlich, dass sich eine tiefere Analyse der Angelegenheit eigentlich erübrigt. Eine einfache Erklärung ist schnell gefunden: Hier will jemand nicht nur den Markt der Skeptiker bedienen, sondern auch den der Skepsis-Skeptiker. Der Markt der positiven Denkungsart ist allemal größer als der für kritisches und analytisches Denken. Und zum Kauf wird man schließlich ja nicht gezwungen.
Aber ein bisschen schmerzt es schon: Wir sehen, wie ein begnadeter Kommunikator auch noch die abwegigsten „Theorien“ unter das Volk bringen kann. Selbst die Zeitschrift Stern hatte den „Bauchentscheidungen“ seinerzeit einen großen Beitrag gewidmet (Stern 18/2007, S. 58-68). Darin unterstreicht Gigerenzer, dass unser Gehirn mit vielen Denkabkürzungen arbeite, die es ihm ermöglichten, „Ignoranz in Wissen zu verwandeln“.
Anekdotische Evidenz im Widerstreit
Ich greife ein Beispiel aus den Originalaufsätzen heraus, die in dem Sammelband „Simple Heuristics that make us smart“ (Gigerenzer, Todd and the ABC research Group, 1999) erschienen sind. Unter dem Titel „The Less-Is-More Effect“ wird die folgende Lage geschildert: Drei Brüder aus einem fremden Land, ich nenne sie A, B und C, bekommen eine Liste der 50 größten deutschen Städte vorgelegt. A weiß soviel wie nichts über Deutschland und kennt keine der Städte. B hat von der Hälfte der Städte schon einmal gehört und C sind alle diese Städte bekannt.
Nun werden den Dreien jeweils zwei Städte genannt, und sie sollen sagen, welche der Städte die größere der beiden ist, welche also mehr Einwohner hat als die andere. Sind beide Städte unbekannt, raten die Brüder und landen Treffer mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit. Ist nur eine der Städte bekannt, wählen sie nach der Rekognitionsheuristik die ihnen bekannte. Und wenn beide bekannt sind, aktivieren sie ihr Wissen über diese Städte und entscheiden dementsprechend. Die Rekognitionsheuristik möge in 80% aller Fälle richtig liegen, und im Fall, dass beide Städte bekannt sind, verhilft das Wissen über diese Städte zu einer Trefferwahrscheinlichkeit von 60%.
Das obere Bild zeigt die Trefferwahrscheinlichkeit in Abhängigkeit von der Zahl der bekannten Städte. Eingezeichnet sind die sich daraus ergebenden Trefferquoten der drei Brüder. Diese Darstellung findet man im Artikel von Gigerenzer „The Recognition Heuristic“.
Klare Schlussfolgerung: Zuviel Wissen bringt nix. Der Bruder B, der nur wenig weiß und sich ansonsten auf die Rekognitionsheuristik verlässt, ist am besten dran.
Aber – hoppla! – wer sagt denn, dass die Trefferwahrscheinlichkeit bei Wissen nur 60% beträgt? Könnten es nicht auch 70% sein? Oder – noch plausibler – 80% wie bei der Rekognitionsheuristik? Und siehe da, schon haben wir ein anderes Bild (das untere). Wissen schlägt Unwissen!
Der ganze Jammer der anekdotischen Evidenz liegt nun vor uns: Hat man einen schönen Beleg für seine Lieblingstheorie, kommt ein anderer mit einem Gegenbeispiel daher, und macht das wunderbare Gebäude wieder kaputt.
Die Rekognitionheuristik hat also ihre Grenzen. Wenn wir etwas über die Anwendbarkeit der Heuristik wissen wollen, brauchen wir eine umfassende Kenntnis der Problemlage, insbesondere müssen uns die Trefferwahrscheinlichkeiten für die verschiedenen Wissensstufen zumindest näherungsweise bekannt sein. Der (gar nicht so verwunderte) Leser erkennt: Wenn ich erst mühsam und unter Nutzung umfassender Informationen errechnen muss, ob ich mich auf meine (dann gar nicht mehr vorhandene) Dummheit verlassen kann, bringt die ganze Heuristik nichts.
Bauchgefühle in der Praxis
Natürlich gibt es Fälle, in denen man auf schmaler Wissensbasis einen Treffer landet („Ein blindes Huhn findet auch einmal ein Korn“). Und manchmal bleibt uns auch gar nicht die Zeit für wohlüberlegte Entscheidungen. Dann sind wir auf unser Bauchgefühl angewiesen. In Alltagssituation funktionieren unsere Heuristiken ja auch ziemlich gut. Sonst hätten wir nicht bis heute überlebt.
Durch die Auswahl passender und die „Theorie“ bestätigender Beispiele erwecken Gigerenzer und seine Mitstreiter jedoch den Eindruck, dass Unwissenheit grundsätzlich clever ist, auch wenn die Situation nicht ganz alltäglich und die Ressourcen für wohlüberlegtes Handeln groß genug sind. Ein paar Beispiele sollen die Grenzen der Heuristiken deutlich machen und zeigen, dass in sehr vielen Fällen sorgfältiges Abwägen und die kritische Analyse mehr Erfolg versprechen.
Am besten, Sie testen die Verlässlichkeit Ihres Bauchgefühls selbst einmal anhand einer kleinen Aufgabe. Sagen Sie „aus dem Bauch heraus“, welche Stadt näher am Nordpol liegt: Berlin oder London? Wenn Sie sich über die Antwort im Klaren sind, schauen Sie auf einer Weltkarte nach. Wundern Sie sich?
Und hier eine zweite Sache: Im Doppelmord-Prozess gegen O. J. Simpson ging es auch um die Frage, inwieweit die Gewalttätigkeit des Angeklagten die Mordanklage stützt. Die Ankläger führten Simpsons Hang zur Gewalt gegenüber seiner Frau als wichtigen Hinweis an, der einen Mord an seiner Frau als wahrscheinlich erscheinen lasse. Der Verteidiger Alan Dershowitz hielt dem entgegen, dass nur wenige dieser Gewalttäter auch zu Mördern an ihren Frauen würden.
Ich lege einmal Zahlen in den damals genannten Größenordnungen zu Grunde: Es möge bekannt sein, dass unter 10 000 Männern, die ihre Frau schlagen, im Mittel einer auch zum Mörder an ihr wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein solcher Gewalttäter auch Mörder wird, ist demnach gleich 1/10 000. Das Bauchgefühl sagt uns: Gewalttätigkeit ist kein starker Hinweis auf die Schuld des Angeklagten.
Aber denken wir besser einmal nach, denn hier geht es ja um Leben oder Tod. Eigentlich geht es gar nicht um die Frage, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein „Schläger“ seine Frau schließlich ermordet. Was den Richter interessieren sollte, ist, mit welcher Wahrscheinlichkeit bei einem Mord der gewalttätige Ehemann als Täter in Frage kommt.
Die Antwort ist nicht ohne etwas Rechnung und Analyse zu haben. In Grundzügen geht die Rechnung so: In einer Gesamtheit von 100 000 Paaren mit gewalttätigem Ehemann werden im Laufe eines Jahres etwa 10 der Frauen durch ihren Ehemann ermordet. Aber Statistiken zeigen, dass die Zahl der Frauen, die einem Mord zum Opfer fallen, ohne dass der Ehemann der Täter ist, etwa ebenso groß ist. Durch Gewalt in der Ehe ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Ehefrau einem Mord zum Opfer fällt, deutlich erhöht, bei den angenommenen Zahlen auf das Doppelte.
Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Ehemann tatsächlich der Täter ist, liegt bei 50% und nicht etwa bei 1:10 000. Die Gewalttätigkeit des Ehemanns ist also sehr wohl ein starker Hinweis auf die Täterschaft, anders als zunächst „aus dem Bauch heraus“ vermutet.
Im Artikel „Glaube und Wahrheit“ (Der Spiegel 22/2011, S. 56-67) geht es um mehrere Gerichtsverfahren der jüngsten Vergangenheit, insbesondere um den Kachelmann-Prozess. Ein Gutachter und Psychologe wird zitiert, der meint, dass das schlimmste Hindernis auf dem Weg zur Wahrheit der Bauch sei: „Man muss sein Bauchgefühl immer über den Haufen werfen.“ An die Stelle müsse die wissenschaftliche Analyse treten.
Zum Schluss noch etwas aus der Politik: Der frühere US-Präsident George W. Bush ist bekanntlich jemand, der sich vornehmlich auf sein Bauchgefühl verlässt. Er mag dafür andere Namen haben: Intuition, Eingebung, Gott. Nach eigenem Bekunden brauchte er für seine politischen Entscheidungen keinen Rat, auch nicht von seinem Vater, denn er hatte dafür ja „a higher father“, wie er selbst sagte. Leider.
In seinem kürzlich erschienen Buch „Thinking Fast and Slow“ ist dem großen Meister der psychologischen Entscheidungslehre, Daniel Kahneman, das antiaufklärerische Treiben von Gerd Gigerenzer samt Mitarbeitern nur eine kleine und dennoch vernichtende Randbemerkung wert: „Much of the research that supports fast and frugal heuristics uses statistical simulation to show that they could work in some real-life situations, but the evidence for the psychological reality of these heuristics remains thin and contested… A weakness of the theory is that, from what we know of the mind, there is no need for heuristics to be frugal. The brain processes vast amounts of information in parallel, and the mind can be fast and accurate without ignoring information. On the contrary, skill is more often an ability to deal with large amounts of information quickly and efficiently.“ (Daniel Kahneman: Thinking Fast and Slow. New York 2011, S. 457 f.)