Verschaukelt

Im Hoppla!-Artikel Federalist 10 schreibe ich davon, wie bereits die Gründerväter der westlichen Demokratie bemüht waren, die Masse der Bevölkerung von der Macht fernzuhalten. Tatsächlich aber lassen wir uns gerne einlullen mit einer Propaganda, die das westliche Wertesystem lobpreist und dessen Kosten verschweigt. Alfred Grosser sagte bei einem Auftritt hier in Fulda vor vielen Jahren: „Ich will schon wissen, mit welcher Soße ich verspeist werde.“ Und in diesem Punkt ist unsere offene Gesellschaft großzügig, denn sie muss ja den Schein wahren. Wenn wir die Augen offen halten, können wir sehen, wie wir verschaukelt werden. Das Einzige, was uns abverlangt wird, ist, Bequemlichkeit und Denkfaulheit zu überwinden.

Der Verein Bund der Steuerzahler berichtet über das Vorhaben der Stadt Fulda, dem Schlossturm eine Krone aus Stahl aufzusetzen – für insgesamt 600.000 €. Von Verschwendung von Steuergeldern ist die Rede. Da wird der Bürger hellhörig und fühlt sich gut vertreten. Die Fuldaer Zeitung berichtet am 27.07.2024 von einer Reaktion der Stadt:

Stadtbaurat Daniel Schreiner scherte sich jedoch eher wenig um diese Einschätzung: Schließlich sei der Verein weder eine stattliche [gemeint ist wohl „staatliche“] noch eine neutrale Organisation, erklärte er damals.

Mein Kommentar dazu:

Die Demokratie lebt von der Illusion, das Volk habe etwas zu sagen. Wir danken dem Politiker, der uns die Augen öffnet, indem er uns zeigt, dass ihn Volkes Meinung nicht schert. Stadtbaurat Daniel Schreiner ist da vorbildlich: Er verteidigt die Krone für den Schlossturm, indem er die Kritiker, nämlich den Bund der Steuerzahler, herabwürdigt und nicht etwa, indem er sachliche Argumente für das Stahlding vorbringt.

Das ist das Schöne an unserer offenen Gesellschaft: Wir können sehen, wie wir verladen werden, wenn wir das überhaupt sehen wollen.

In den 60er Jahren hat man ziemlich klar gesehen, wohin die Reise geht:

Johannes Agnoli: Die Transformation der Demokratie. 1967

Mit dem extrem rechten Populismus in den USA und in Europa geht die Rückbildung der Demokratie in ein tiefes Tal:

Noam Chomsky, C. J. Polychroniou: Illegitimate Authority. 2023

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22 Antworten zu Verschaukelt

  1. Realo sagt:

    Ich meine, der Vorteil der Demokratie liegt weniger daran, dass man „mitreden“ kann, das scheint praktisch unmöglich bei 80 Millionen Menschen/Meinungen.

    Der Vorteil scheint, dass der „Einzelne“ weniger, eigentlich gar nicht mehr, der „Willkür der Herrschenden“ ausgesetzt ist. Das konnte einem früher den Kopf kosten….

    Ein Nachteil wäre, dass einzelne Menschen, bis hin zu kleinen Gruppen meinen, sie hätten die „Wahrheit gepachtet“ und ein Recht hätten, ihre Meinung auch durchzusetzen und sogar Politiker bedrohen.

    Oder womöglich Politiker die Situation nutzen und der Demokratie „an den Kragen“ gehen.

    • Timm Grams sagt:

      Dass in einer volkreichen Demokratie nicht jeder Beachtung und Gehör finden kann, zumindest nicht in dem von ihm gewünschten Ausmaß, ist uns allen wohl klar. Tatsächlich haben wir aber auf der anderen Seite das Versprechen der Volksherrschaft (John Locke). Dieses Paradoxon aufzulösen mit Parlamentarismus und Propaganda, bringt die Gefahr mit sich, dass von der Demokratie letztlich nur eine leere Hülle bleibt.

      Sie weisen auf das Rechtsstaatsprinzip hin:

      Der Vorteil scheint, dass der „Einzelne“ weniger, eigentlich gar nicht mehr, der „Willkür der Herrschenden“ ausgesetzt ist. Das konnte einem früher den Kopf kosten…

      Dafür, dass das so bleibt, müssten wir eine Menge tun. Ganz glatt läuft es nämlich nicht, wie Notstandsgesetzgebung, Radikalenerlass und das EU-Gesetz über digitale Dienste zeigen.

      Aktuell relevantes Quellenmaterial: Regulation (EU) 2022/2065 of the European Parliament and of the Council of 19 October 2022 on a Single Market For Digital Services

      Die radikale Rechte hat, so weh das auch tut, tatsächlich einen Punkt.

  2. Rainer Gebauer sagt:

    Vielleicht habe ich hier schon einmal auf das 2020 erschienene Buch „Alles unter dem Himmel“ hingewiesen, wenn ja, ist es lange genug her, dass ich es nochmals tun möchte. Der zeitgenössische chinesische Philosoph Zhao Tingyang hat es geschrieben. Es wurde auch im Spiegel besprochen und empfohlen.

    Der Titel ist die Übersetzung des Begriffs Tianxia, der schon bei Laotse und Kongfutsi auftaucht. Wenn man über die Grenzen und Gefahren der Demokratie einmal ganz anders nachdenken und eventuelle Alternativen betrachten möchte, bekommt man hier bedenkenswerte Anregungen. Es gibt auch einige Links dazu, so dass man es nicht notwendigerweise ganz lesen muss.

  3. Timm Grams sagt:

    @ Rainer

    Zhao Tingyang formuliert bereits in der Einführung zu seinem Buch eine starke These, die vermutlich die Basis seines gesamten Gedankengebäudes ist:

    Offensichtlich kann Konflikt sich nicht automatisch in Kooperation verkehren, es sei denn, es existiert von Beginn an irgendein Grundelement, ein Gen der Kooperation.

    Das klingt ermutigend, ist meines Erachtens aber leider falsch. Die Evolutionsbiologie lehrt uns, dass alles Leben das Ergebnis von Konkurrenzkämpfen ist. Diese bringen alle möglichen Lebensformen und Verhaltensweisen hervor und eben auch die Kooperation. Wie das ohne Vorbild möglich ist, habe ich mit einem Simulationsprogramm zur Evolution der Kooperation gezeigt. Ich habe es im Buch Klüger irren ausführlich und im skeptiker-Aufsatz Ist das Gute göttlich oder Ergebnis der Evolution? kurz beschrieben. Damit solche Kooperationen entstehen, braucht es den Konkurrenzkampf. Das klingt leider nicht so gut, ist aber realistisch.

    Auch wenn die Prämisse falsch sein mag, die Schlussfolgerungen im Buch Alles unter dem Himmel können stimmen. Das eine oder andere klingt faszinierend. Ich werde mich weiter damit beschäftigen. Da warten Denkabenteuer auf mich. Danke für die Anregung.

  4. Rainer Gebauer sagt:

    @ Timm

    Ich bin absolut bei dir, dass die Idee eines Kooperations-Gens viele Fragezeichen stehen lässt. Ich habe auch keinerlei Idee, wie und ob überhaupt heutige Massengesellschaften mit dem Tianxia-Ansatz irgendwie zielgerichtet gesteuert werden können.

    Was mich an Tingyangs Gedankenwelt fasziniert, ist der Spielraum für neue und uns fremde politische Ansätze, wenn man die humanistische Prämisse der freien Persönlichkeitsentfaltung weglässt oder zumindest einschränkt. Irgendwie glaube ich immer noch daran, dass es möglich sein könnte, dem Individuum Verzicht abzuverlangen im Austausch mit Sicherheit, ohne dass es sich dadurch unterdrückt oder gegängelt fühlt.

    Die Demokratien der modernen westlichen Massengesellschaften versuchen es immer erst mit Appellen, weil Verbote ja Wähler abspenstig machen könnten. Dass die Verbote später meist ohnehin unverzichtbar werden, wird ignoriert, erzeugt dann aber Frust und Enttäuschung.

    Die Demokratie im Rahmen der lokalen Gruppe, kann funktionieren, das hat sich bei einigen indigenen Stammeskulturen Amerikas und Australiens nachweisen lassen. Unser Problem ist die repräsentative Demokratie, aber in Massengesellschaften geht es halt nicht anders, wie es scheint.

  5. Realo sagt:

    @ Timm Grams 2. August 2024 um 12:53 Uhr

    Zitat: „Dafür, dass das so bleibt, müssten wir eine Menge tun. Ganz glatt läuft es nämlich nicht, wie Notstandsgesetzgebung, Radikalenerlass und das EU-Gesetz über digitale Dienste zeigen.“

    Ich meine, es kommt auf die behutsame Interpretation der Gesetzeslage und die psychologisch geschickte Umsetzung an. Ganz besonders bewundert habe ich deswegen die ehemalige Bundeskanzlerin Dr. Merkel. Für mich war sie so etwas wie die „oberste Staatspsychiaterin“.

    Dass es nicht zu empfehlen ist, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, sehe ich auch so. Psychologen versuchen, mit großem Verständnis verschiedene (politische) Positionen möglichst realistisch zu sehen und Kompromisse zu finden. Gewalt erzeugt Gegengewalt….

    Die politischen Parteien sollten möglichst Konsens fähig, zumindest Kompromiss fähig agieren.

    • Timm Grams sagt:

      Auch Angela Merkel hat ihren Beitrag zur „Transformation der Demokratie“ geleistet, nämlich die Vokabel „alternativlos“, das Unwort des Jahres 2010. Die Wirkung des Wortes mag gering sein, zu fürchten ist die Denke, die dahinter steckt: Der Politiker setzt sich selbst die Krone auf und nicht etwa irgendeinem Schlossturm.

  6. Mussi sagt:

    @ Gebauer

    Wollen Sie Gesellschaften steuern, dann gibt es nur ein Mittel: Geld.
    Gerade da ist die chinesische vorbildlich, hat das amerikanische Modell kopiert.

    • Realo sagt:

      @ Mussi 3. August 2024 um 08:22 Uhr

      Zitat: „Wollen Sie Gesellschaften steuern, dann gibt es nur ein Mittel: Geld.
      Gerade da ist die chinesische vorbildlich, hat das amerikanische Modell kopiert.“

      Das sehe ich auch so. Vermutlich will Trump dieses Konzept noch mehr fördern und Welt weit ausbauen.

      „Werthaltiges Geld“ (und auch Arbeit) scheinen der „beste Köder“ den es überhaupt gibt.

  7. Realo sagt:

    @ Timm Grams 3. August 2024 um 01:58 Uhr

    Das Vokabel „alternativlos“ hat Frau Merkel im Zusammenhang mit den „Griechenlandhilfen“ genutzt. Nachträglich kann man leicht argumentieren, aber es war kein „Fass ohne Boden“, was befürchtet werden musste. Griechenland scheint wieder erfolgreich „auf die Beine“ gekommen zu sein, wie es heute scheint.

    Extrem heikel war die Flüchtlingsfrage. Einerseits stünde sie als „inhuman“ da, hätte sie die Flüchtlinge ehemals abgewiesen. (Stichwort: Das weinende Flüchtlingsmädchen) Andererseits wurde die Situation, von den hauptsächlich moslemischen „Flüchtlingen“, sofort praktisch zur „Invasion“ ausgenutzt….

    Eine restriktivere Politik haben zum Schaden der in D lebenden Menschen die Medien unmöglich gemacht.

    Es geht um „Schwäche“ oder um „brutale Ausübung der Macht“. Ich meine, Frau Merkel hat die „gefährlich Balance“ erfolgreich geschafft. Man kann es natürlich auch anders sehen….

    • Timm Grams sagt:

      Zur Politik von Angela Merkel habe ich im Hoppla!-Blog nicht Stellung bezogen und werde es auch zukünftig nicht tun. Auch Zweckmäßigkeit und Schönheit der Turmhaube habe ich an keiner Stelle bewertet. Mein Thema ist die Metaebene: Wie funktioniert Manipulation? Wo lauern Denkfallen? Wie gehen wir miteinander um? Gibt es Zusammenhänge, die sich nicht sofort offenbaren?

      Es lohnt sich, darüber nachzudenken, wie es zum A im Parteinamen AfD gekommen ist.

      Nachtrag (4.8.24): Stephan Hebel bietet Einsichten.

  8. Mussi sagt:

    @ Realo

    Es ist nur grotesk, dass so wie wir Geld nutzen, die Erde zerstören.

  9. Realo sagt:

    Zitat: „Es lohnt sich, darüber nachzudenken, wie es zum A im Parteinamen AfD gekommen ist.“

    Hauptsächlich der Prof. B. Lucke wollte eine „Alternative Partei“, offensichtlich gegen die „Alternativlose“ Frau Merkel gründen.

    Das scheint eher „schief gegangen“.

    Die neue Partei wurde sehr schnell von „nationalen Rechten gekapert“ und die neue Partei ist jetzt noch „Alternativloser“ als es Merkels CDU je war….

    Wenn sie erst „am Ruder“ ist, wird es überhaupt keine „Alternativen“ mehr geben….

  10. Realo sagt:

    @ Mussi 3. August 2024 um 17:43 Uhr

    Zitat: „Es ist nur grotesk, dass so wie wir Geld nutzen, die Erde zerstören.“

    Das ist vermutlich nicht vermeidbar, zumal Menschen zwingend, manche Gruppen (z.B. Asiaten, weniger, andere mehr) Ressourcen verbrauchen. Irgendwann dürften die Grenzen des Bevölkerungswachstums, aus welchen Gründen immer, erreicht werden und es nur noch „bergab“ gehen….

    Es könnte höchstens sein, dass Gruppen resilienter sind, z.B. gegen die Erderwärmung, den sozialen Druck, ….. es länger „aushalten“, andere sich früher „verabschieden“, bzw. mit „einen Tritt in den Allerwertesten“ vorzeitig ins „Aus“ befördert werden.

  11. Timm Grams sagt:

    Das Antwort-Ranking 2024 des Vereins Abgeordnetenwatch weist aus, dass die folgenden Abgeordneten (willkürlich von mir ausgewählt) jeweils mehr als 100 Anfragen erhalten und alle beantwortet haben: Buschmann (1083), Strack-Zimmermann (814), Bas (360), Nouripour (286), Bartsch (204), Roth, M (139), von Storch (139), von Notz (137), Özdemir (125), Dürr (123), Stegner (119), Ziemiak (101). Am Ende der Liste, mit null Antworten, finden wir: Gauland (10), Ramsauer (17), Laschet (21), Amthor (36), Chrupalla (45), Röttgen (46), Roth, C (63), Lemke (70), Stark-Watzinger (75), Esken (79), Kühnert (104), Spahn (121), Weidel (162), Merz (190), Scholz (524), Baerbock (547), Lauterbach (705).

  12. Mussi sagt:

    @ Realo

    So wie Sie das sehen, ist nicht mehr Fatalismus, sondern Vorsatz.

  13. Realo sagt:

    @ Mussi 4. August 2024 um 21:06 Uhr

    Es ist Realismus!

  14. Mussi sagt:

    @ Realo

    Sie nehmen es hin. Das ist ziemlich dumm. Das charakterisiert das Problem der Opportunisten.

    [Moderator: Vorsicht, Ad-hominem.]

  15. Realo sagt:

    @ Mussi 5. August 2024 um 08:56 Uhr

    Glauben Sie ernsthaft die Welt retten zu können????

    [Moderator: Bitte zurück zu Sachargumenten.]

  16. Mussi sagt:

    @ Realo

    Ja.
    Weil Generationen kommen, die nicht starrsinnig und borniert hinterherlaufen und einem ’so ist es‘ (was auch immer das heißen soll) nicht mehr glauben.

  17. Realo sagt:

    @ Mussi 5. August 2024 um 11:19 Uhr

    Zitat: „Ja.
    Weil Generationen kommen, die nicht starrsinnig und borniert hinterherlaufen und einem ’so ist es‘ (was auch immer das heißen soll) nicht mehr glauben.“

    Da gebe ich Ihnen recht.

    Von niedlichen, sprechenden, immer klugen Tieren und natürlich von der „Pippi Langstrumpf“, die bekannt ist für ihre unkonventionelle und freigeistige Art, leben und agieren die „Nachkommenden“ ganz nach dem Motto “Ich mach’ mir die Welt, wie sie mir gefällt”.

    Das spiegelt die Einstellung der Jungen wider, und sie glauben ernsthaft, dass sie die Welt nach ihren eigenen Vorstellungen und Regeln gestalten könnten.

    Wegen unserer Demokratie hatte Merkel keinen Spielraum. Sie konnte die „Ankommenden“ (2015) nicht zurückweisen, andererseits haben die Moslems sofort die Situation beinhart für ihre Invasion ausgenutzt. Merkel konnte sich nur auf den „Türkei Deal“ einlassen, was manche als „hinterhältig“ sehen.

    Statt mit „eiserner Hand“, hat sie mit „sanften Pfoten“ agiert. Durchaus der Zeit angemessen….

    Moslems wollen keine Integration und auch nicht unsere Sprache lernen, sich nicht unsere Leitkultur „aufzwingen“ lassen, zumal umgekehrt wir Ihre „einzig wahre Religion“ übernehmen müssten. Aus ihrer Sicht hätten sie es gut mit uns gemeint.

    Manche „Messer Moslems“ werden schon etwas „ungeduldig“, weil wir so „verstockt“ sind und nichts in ihrem Sinne weiter geht. Im Musterland der Demokratie (GB) sehen wir gerade auf der Straße wo das hinführt….

  18. Mussi sagt:

    @ Realo

    Und jetzt Gegendemonstrationen gegen Extremismus!

    Ein Freund von mir hat diesen Sommer eine Radtour durch Norwegen gemacht und dortige Gastfreundschaft kennen gelernt: Unsere Lebensbedingungen verlangen, dass wir uns gegenseitig helfen!
    Ein Sinn, der wiederkommen wird.

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