Argumentationsweisen rechts außen

Argumentationsweisen und insbesondere Propaganda sind zentrale Themen dieses Blogs. Der Spiegel (5/2024, S. 23) hat mich auf eine mögliche Fundgrube für Derartiges aufmerksam gemacht: das Buch Systemfrage – vom Scheitern der Republik und dem Tag danach. Es ist vom Sozialwissenschaftler Manfred Kleine-Hartlage, von dem das Buch außerdem verrät, dass er als rechter Islam- und Globalisierungskritiker bekannt ist. Björn Höcke hat eine Leseempfehlung für dieses Buch ausgesprochen (Facebook, 31. 01 22).

Ich werde mich auf den Argumentationsstil konzentrieren und die politischen Aussagen nur zitieren, sofern sie für die Erläuterung der Meinungsbeeinflussung erforderlich sind. Eine moralische Bewertung ist grundsätzlich nicht beabsichtigt. Es dürfte klar sein, dass es sich in den meisten Fällen im Propaganda handelt. Eine inhaltliche Analyse solcher Aussagen ist meistens aussichtslos, da ein einheitlicher Interpretationsrahmen nicht zur Verfügung steht. Es geht also nicht um wahr oder falsch. Der Propagandist behauptet, wiederholt, emotionalisiert und er verzichtet auf Begründungen. Beispiele bieten Donald Trump und Kellyanne Conway mit ihren alternativen Fakten. Siehe auch das Word of the Year 2022 Gaslighting. Ich werde mich auf die formale Analyse der Argumentationsmuster beschränken.

Etikettierung

Der Verfasser des Buches bekennt sich zum Grundgesetz, insbesondere zu Artikel 20 und dem darin festgelegten Widerstandsrecht:

(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. […]
(4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

Wer nun meint, dieses Widerstandsrecht richte sich gegen die etwa 400 Personen, die am 29. August 2020 versuchten, das Reichstagsgebäude in Berlin zu stürmen, oder gegen die Reichsbürger um Heinrich XIII. Prinz Reuß, der wird eines Besseren belehrt (S. 214):

Dieser Verfassungskern soll gerade gegen die Usurpationen von Machthaben verteidigt werden, die ihre Ämter auf eine formal verfassungskonforme, materiell aber verfassungswidrige Weise erlangt haben oder ausüben – insbesondere, wenn Sie sie in einer Weise ausüben, die die freiheitlichdemokratische Grundordnung zerstört.

Das Etikett Verfassungsfeind wird also denjenigen angeheftet, die der Artikel eigentlich schützen soll. Für diese Umetikettierung gibt es Anlässe: Eurokrise, Fukushima, Flüchtlingskrise, Klimapolitik, Corona, NetzDG. Ob eine Meinungsbeeinflussung durch Umetikettierung gerechtfertigt ist oder nicht, steht hier nicht zur Debatte. Ich hatte damals bei der Debatte um das Netzdurchsetzungsgesetz auch ein äußerst mulmiges Gefühl. Das NetzDG schafft ja keine neuen Straftatbestände, es dient der Überwachung und Durchsetzung. Den Zensurvorwurf konnte ich nicht entkräften.

Ich war der Meinung, der Umgang mit Hassbotschaften beispielsweise sollte sich im WWW selbst regeln. Totalkontrolle habe ich während meiner Kindheit in der DDR und durch meine Mitgliedschaft in der GWUP fürchten gelernt. Ich habe im WWW, auch im Rahmen dieses Hoppla!-Blogs, einiges an Beschimpfungen aushalten müssen: „Lassen sie sich mal auf ihre geistige Gesundheit untersuchen!“, „Vorbereitung von Völkermord“, „Putintroll“.

Die Notwendigkeit der Resilienz ist eine neue Erfahrung. Mit der Zeit ändern sich die Gepflogenheiten, so ist das nun mal. Nicht zu empfehlen ist, Gleiches mit Gleichem zu vergelten.

Kausalitätserwartung

Dem Buch zufolge liegt dies im Argen:

Praktisch niemandem geht es besser – aber vielen schlechter – dadurch, daß der Euro eingeführt und „gerettet“, Migranten in Millionenstärke ins Land gelassen, Zensurgesetze, Atomausstieg, Windräder, Lockdown und De-facto-Impfzwang befohlen wurden, von Gender Mainstreaming, Auslandseinsätzen der Bundeswehr und surrealistischen Datenschutzvorgaben selbst für Kleinstunternehmen ganz zu schweigen.

Nun ist es eine angeborene Neigung des Menschen, für alles eine Ursache zu suchen. Für das Unglück auf dieser Welt braucht es einen Schuldigen. Der ist hier schnell gefunden. Es ist das Kartell, die in ihre Echokammer eingeschlossene politische Klasse der BRD (S.81), die

die Interessen des eigenen Volkes und sogar des von ihr geführten Staates grundsätzlich hinter der Verwirklichung globalistischer Utopien und hinter den Interessen von Machtkonglomeraten hintanstellt, die für sich beanspruchen, „die Menschheit“ oder wenigstens „Europa“ zu repräsentieren, insbesondere also UNO und EU-Institutionen.

Das ist eine ausgewachsene Verschwörungstheorie; die Beantwortung der Frage, ob diese wahr oder falsch ist, überlasse ich der Diskussion.

Kontrastbetonung

Zur Klimadebatte finden wir dies (S. 43):

Es ist in höchstem Maße unplausibel, um nicht zu sagen absurd zu glauben, dass die Welt untergehen soll, wenn der Anteil eines in der Natur von vorkommenden Gases und der Zusammensetzung der Atmosphäre von zwei Zehntausendstel auf vier Zehntausendstel steigt. In der Erdgeschichte sind schon ganz andere Schwankungen sowohl des CO2- Gehalts als auch der mittleren Lufttemperatur vorgekommen […] Noch absurder für jeden Menschen, der sich schon einmal mit komplexen Systemen beschäftigt hat, ist die Vorstellung, man könne bei einem System wie der Ökologie willkürlich eine einzelne Zielvariable (die mittlere Lufttemperatur) herausgreifen und diese durch eine einzige Einflussvariable (nämlich den CO2-Gehalt der Luft) manipulieren.

Die Ergebnisse der Klimaforschung und deren Maßstäbe werden also grundsätzlich angezweifelt. Die derart kritisierte „Klima-Theologie“ wird so beschrieben (S. 45):

Wer nämlich für sich in Anspruch nimmt, nicht weniger als den Weltuntergang zu verhindern, verschafft nicht nur seinen Anliegen dadurch naturgemäß die Pole Position auf der Rangliste der politischen Relevanz, sondern stempelt jeden Andersdenkenden zum Feind der Menschheit […] Die manichäische Schwarzmalerei der Klimajünger, die sich in einen apokalyptischen Endkampf des schlechthin „Guten“ mit dem schlechthin „Bösen“ verstrickt wähnen, gehört zu jenem Giftcocktail, der die politische Kultur, auf der eine liberale Demokratie beruht, in bemerkenswerter kurze Zeit zerstört hat.

Diese starke Polarisierung kommt unserem Hang zur Kontrastbetonung entgegen.

Es gibt noch einiges zu diesem Buch zu sagen. Aber die Grundmuster der Argumentation dürften bereits klar geworden sein.

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51 Antworten zu Argumentationsweisen rechts außen

  1. Mussi sagt:

    Die Frage ist doch wohl eher im Sinne der Soziobiologie, anschließend, warum Verdrehung funktioniert.
    Zumindest bei ca. 1/4 der Bevölkerung. Die sehen das als wirklich. Warum?

  2. Pablo sagt:

    Wieso ist das eine Verschwörungstheorie?

  3. Realo sagt:

    Ich meine, der Hang zur Kontrastbetonung ist nicht grundsätzlich schlecht. Jedenfalls dann, wenn man nach „Optima“ sucht, für möglichst viele Menschen und „Abfederung“ der Maßnahmen für diejenigen die bei der Problemlösung „Verlierer“ sind.

    Die Klimawissenschaftler sollten sich auf ihr Fach beschränken. Wichtige Informationen liefern, damit andere Fachgebiete die Probleme lösen können. Ein „Klimareligion“ zu begründen, ist keine gute Idee.

    [Moderator: gekürzt]

  4. Bernd sagt:

    Ich bin der Meinung, dass diese Argumentationsweisen (der Propaganda), die weniger von einer Logik als vielmehr von einer Emotion gesteuert sind, letztlich nur von der Evolutionsbiologie her eine Erklärung finden können. Es ist die aktuelle Evolution des Menschen.
    […]
    Während Sprache und Logik in der kulturellen Evolution und hier vor allem in der Wissensschaft zentral und maßgebend sind, sind sie das für die extrem Konservativen nicht. Lügen ist kein Problem, Wahlen werden sowieso verachtet, d.h. sie sind höchstens Mittel zum Zweck und wenn sie verloren werden, sind sie „gestohlen worden”. Sprache und Logik dienen nur dazu, das emotionale Ziel durchzusetzen, d.h. sie werden nur gebraucht, um dieses Ziel zu erreichen. Daher redet man mit den Extremen ständig aneinander vorbei – und daher haben diese Extremen grundsätzlich kein Problem damit, ihre Ziele mit Gewalt durchzusetzen. Der Instinkt, von dem sie gesteuert werden, beruht auf der animalischen Gewalt, dem Recht des Stärkeren. Diese Menschen wollen sich nicht kulturell weiterentwickeln, zumindest nicht über den Rahmen hinaus, den dieser emotional so vertraute Instinkt setzt – und sie wollen die heute vollzogene kulturelle Entwicklung wieder dahingehend rückgängig machen. Mit Argumenten und dem demokratischen Dialog allein wird man da nicht gegen ankommen, denn es handelt sich hier um zwei völlig verschiedene Argumentationsweisen. Das ist so die aktuelle Evolution des Menschen mit seiner „Chimärennatur”, diese Evolution befindet sich gerade in einer ihrer heikelsten Phasen (im Tier-Mensch-Übergangsfeld).

    [Moderator: gekürzt.]

    • Bernd sagt:

      Wie in den Diskussionen der vorangegangenen Artikel sehe ich auch dieses Problem der Argumentationsweisen und Propaganda von der Evolution her, genauer gesagt von Wilsons „Chimärennatur” des Menschen her, in der die genetisch angeborenen Instinkte unsere neuronale Intelligenz oftmals „steuern”. Ein typischer Fall dieser völligen Steuerung sind dann genau diese Argumentationsweisen von Trump, AFD usw., d.h. der animalische Instinkt der Gruppenidentität, in der die eigene Gruppe über das Recht des Stärkeren absolut in den Vordergrund gesetzt wird, steuert das Verhalten zulasten von Kultur, Zivilisation, Demokratie, Gerechtigkeit, Fairness usw.

      Dazu möchte ich noch ein weiteres Argument von Wilson anbringen, das erklärt, warum sich die politischen Spektren in allen Gesellschaften gleichen, mitsamt den extremen Rändern, d.h. selbst in Norwegen gibt es Extremisten wie den Massenmörder Breivig. Wilson zitiert in seinem Buch „Die soziale Eroberung der Erde” eine breit angelegte Studie, der nach die Persönlichkeitstypen von Menschen in allen 49 getesteten Kulturen annähernd im selben Ausmaß variierten, d.h. es gibt in allen Völkern oder Kulturen genetisch bedingte Charaktereigenschaften, wie die von extrovertiert und introvertiert, wobei diese „Varianz gleichbleibend groß ausfällt und über Populationen hinweg im selben Ausmaß universell ist”. (Wilson 2013, S. 129).

      Meiner Meinung nach ist das eine bewährte Strategie der Evolution, die schon bei Säugetieren vorhanden ist, indem es zur größtmöglichen Flexibilität in jeder Gruppe etwa mutigere und vorsichtigere Charaktere bei den Individuen gibt. Beim Menschen macht sich das dadurch bemerkbar, dass die politischen Spektren sich eben in allen heutigen Gesellschaften gleichen, d.h. es gibt sozial und kulturell fortschrittlichere Menschen oder Parteien und eben die konservativen, mitsamt den Extremen. Somit ist die Zusammensetzung einer Gruppe oder Gesellschaft bzw. ihr Verhaltensrepertoire genau wie die Instinkte genetisch vorgegeben – leider bis heute so, dass die Extremen immer noch Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele einsetzen.
      Wie unsere Geschichte zeigte, kann das unter bestimmten Umständen auf die gesamte Gesellschaft durchschlagen. Und heute geht es wieder in diese Richtung, nicht nur bei uns, sondern auch in den USA, in denen die Extremen die konservative Partei praktisch schon übernommen haben, und mit Gewalt das Kapitol stürmten. Die Widerstände gegen den kulturellen Fortschritt kommen also nicht aus dem Nichts, sondern sie haben konkrete, sehr alte evolutionäre Gründe, und die sollte man kennen, um diese Widerstände klein zu halten und um zu wissen, wie man damit umzugehen hat.

    • Timm Grams sagt:

      @ Bernd

      Der Satz

      Der animalische Instinkt der Gruppenidentität, in der die eigene Gruppe über das Recht des Stärkeren absolut in den Vordergrund gesetzt wird, steuert das Verhalten zulasten von Kultur, Zivilisation, Demokratie, Gerechtigkeit, Fairness usw.

      sagt etwas über die möglichen Beweggründe für eine bestimmte Argumentation. Mir ging es weniger um die inhaltliche Seite der Argumente, sondern hauptsächlich um die Argumentationsmuster, sozusagen um die Grammatik unter Hintanstellung der Bedeutung. Aber auch diese Argumentationsmuster lassen sich biologisch deuten. Ihnen liegen angeborene Neigungen zugrunde. Tatsächlich orientiere ich mich bei meiner Aufgliederung
      • Etikettierung,
      • Kausalitätserwartung und
      • Kontrastbetonung
      an meinem System der Denkfallen, in dem die angeborenen Lehrmeister die Hauptrolle spielen.

  5. Realo sagt:

    @ Bernd 8. Februar 2024 um 16:38 Uhr

    Ich sehe die Entwicklung wie Sie.

    Allerdings meine ich, dass es 2 wesentliche, die Situation mildernde Einflüsse gegeben hat.

    Der erste war, dass sich das Judentum etabliert hat. Statt „Recht des Stärkeren“, „die Stärke des Rechts“. Allerdings mit der Folge, dass sich, salopp, die Juden gegenseitig das „Gesetzbuch“ um die „Ohren geschlagen“ haben. Das dürfte einerseits die geistigen und kreativen Fähigkeiten der Juden besonders gefördert haben.

    Andererseits aber auch zu Fehlentwicklungen geführt haben.
    Der 2. Einfluss war, frei nach einer Interpretation die ich einmal gehört habe, dass eine zunächst kleine Gruppe der Juden, die sehr zahlreichen, auch für das Zusammenleben und die Produktivität schädlichen, absurden „Streitereien“ nicht mehr ertragen wollte. Sie entwickelten den sensationellen „Werbegag des Jahrtausends“: „Wenn dir einer einen Schlag auf die rechte Wange gibt, halte ihm auch noch die linke hin“.

    Das Christentum führte durchaus zu einer weiteren, positiven Entkoppelung von den archaischen Instinkten.

    Vermutlich führt die neuzeitliche „Zersplitterung“ in immer mehr, oder gar keine Religionen/Ideologien mehr, zur Rückkehr in alte, oder womöglich weitere neue Ausprägungen von Instinkten.

    Die Frage ist auch, wie der Einfluss der technischen Entwicklungen, z.B. KI, sein wird.

  6. Bernd sagt:

    @Timm

    Es ist wahrscheinlich so, dass wir ein Problem von zwei verschiedenen Perspektiven oder von verschiedenen Verständnissystemen („System der Denkfallen”) her sehen und verstehen. Muss ja kein Nachteil sein, so wie nur das binokulare Sehen die Wahrnehmung von Dreidimensionalität ermöglicht.
    Das angepeilte Objekt kann dabei in meinem Verständnis nur die aktuelle Entwicklung oder eben Evolution des Menschen sein, wobei ich das von einer Zusammenschau (als „System”) von Wilson und Lorenz her sehe, d.h. ich setze ein zweites Evolutionssystem voraus, das Informationen neuronal statt genetisch codiert. Das ergibt darin die von Wilson so genannte „Chimärennatur” des Menschen.

    Von da aus jetzt zu dem konkreten Phänomen von Trump, AFD usw., die die aktuelle kulturelle Evolution wieder zu altbewährten und emotional vertrauten Strukturen zurückdrehen wollen, also wieder ethnisch streng voneinander abgegrenzte nationale Identitäten, keine Demokratie, sondern ein starker Führer, mit dem sich die jeweils eigene Gruppe gegenüber anderen Gruppen als überlegen (genetisch fit) durchsetzen kann.
    Dass dieses Phänomen überall an Kraft gewinnt, in den USA vielleicht demnächst wieder an die Macht kommt, könnte für mich die Folge der von mir in meinem letzten Beitrag angesprochenen, altbewährten Strategie der Evolution sein, die darin einer der „angeborenen Lehrmeister” wäre. Diese Strategie der Evolution würde darin bestehen, die Persönlichkeitsmerkmale der Individuen einer Gruppe möglichst breit zu streuen, um flexibel auf neue Herausforderungen reagieren zu können. Was wäre die aktuelle Herausforderung, angesichts dessen die extrem Konservativen an Zulauf und Macht gewinnen?

    Der Archäologe und Historiker Ian Morris hat sich in seinem Buch „Wer regiert die Welt?” mit dem Entstehen und Verfall von Gesellschaften seit der letzten Eiszeit beschäftigt, und sieht von daher die aktuelle Entwicklung des Menschen sehr kritisch, besonders was das Tempo der Veränderungen angeht. Von daher die provokante Frage, ob diese extrem Konservativen vielleicht in gewisser Hinsicht recht haben (so dass sich darin die altbewährte Strategie der Vielfalt und Flexibilität der Evolution als „angeborener Lehrmeister” selbst heute noch bestätigt)? Die extrem Konservativen hätten dann nicht in ihren Inhalten recht, nämlich wieder vollständig zur Struktur der im Grunde noch animalischen Gruppen oder Stämme zurückzukehren, aber als Protest-Argumentationsmuster, nämlich dass mit der aktuellen Evolution etwas schief oder falsch läuft.
    Läuft die aktuelle kulturelle Evolution des Menschen in eine Sackgasse, weil sie einerseits extrem beschleunigt verläuft und andererseits in ihrer materiellen Ausrichtung falsch gewichtet ist, was sich in der Begrenztheit des Ökosystems fatal auswirkt (Klimawandel)?

  7. Timm Grams sagt:

    @Bernd
    Jetzt sind wir, über das Thema des Artikels hinausgreifend, in einer Diskussion der Absichten gelandet, die hinter den Argumenten stecken. Sie schreiben:

    Zu dem konkreten Phänomen von Trump, AFD usw., die die aktuelle kulturelle Evolution wieder zu altbewährten und emotional vertrauten Strukturen zurückdrehen wollen, also wieder ethnisch streng voneinander abgegrenzte nationale Identitäten, keine Demokratie, sondern ein starker Führer, mit dem sich die jeweils eigene Gruppe gegenüber anderen Gruppen als überlegen (genetisch fit) durchsetzen kann

    Damit unterstellen Sie so etwas wie „Zurück zur Natur“, also eine durchaus rational begründete Bewegung. Das passt mir irgendwie nicht zu dem, was ich von Trump gehört und gelesen habe. Bei AfD und Höcke bin ich mir auch nicht so sicher.

    Ich kann mir vorstellen, dass es allein um persönliche Macht geht. Dieser Machttrieb mag angeboren sein, ebenso wie der Trieb, sich in einer Gruppe zusammen zu tun. Aber der konkrete Anlass für eine Gruppenbildung liegt vermutlich weniger tief. Der Gruppenzusammenhalt wird durch eine Erzählung (neudeutsch Narrativ) bewirkt. Eine solche Erzählung kann beliebig verrückt sein. Donald Trumps Erzählung vom Deep State (QAnon) ähnelt derjenigen vom Kartell der Politiker.

    • Bernd sagt:

      @Timm

      „Zurück zur Natur“, nur im Sinne der im Zitat genannten Strukturen. Die brauchen dabei nicht einmal „rational“ oder begrifflich beschrieben werden, sondern es liegt in der Emotionalität dieses Instinkts, dass konkurrierende Gruppen mit dem Recht des Stärkeren bekämpft werden. Gewalt auszuüben liegt im wahrsten Sinne des Wortes in der DNA dieses Instinkts, etwa bei uns (bisher nur) als Einschüchterung von Kommunalpolitikern oder als Sturm auf das Kapitol in den USA.

      Ich nehme an, dass der Gruppenzusammenhalt durch ein Narrativ gegeben sein kann, aber auch durch die Hautfarbe, die Sprache, Kleidung usw. Entscheidend ist, dass irgendwie ein konstantes Unterscheidungsmerkmal existiert (bei Trump meiner Meinung nach vor allem die Weißen in den USA), an dem die Gruppenidentität festgemacht werden kann, im Grunde ist es egal, was das ist.
      Die Gewalt, die dabei nach außen herrscht, herrscht insofern auch nach innen, indem, wie es so treffend heißt, alles „gleichgeschaltet“ wird. Wer gegen diese Gleichschaltung verstößt, wird ausgeschlossen. Es gibt in so einer Gruppe oder Gesellschaft keine Pluralität oder Vielfalt, sondern nur Einfalt.
      Diese Strukturen und Eigenschaften erkenne ich nicht nur bei Trump und der AFD, sondern bei allen autoritär geführten Gesellschaften.

  8. Realo sagt:

    @ Timm Grams 8. Februar 2024 um 22:45 Uhr

    Ich meine, bei den „Argumentationsweisen rechts außen“ kommt es Ihnen, wenn ich Sie richtig verstanden habe, auf die „Metaebene“ an.

    Ihre 3 wesentlichen Argumentationsmuster, eigentlich auch Kommunikationsmuster, lassen sich natürlich auch biologisch deuten, ihnen liegen offensichtlich angeborene Neigungen zugrunde.
    • Etikettierung,
    • Kausalitätserwartung und
    • Kontrastbetonung
    Sie dürften fast immer zutreffen. Selbst bei einer „Kommunikation“ mit der „Nachbarkatze“, was den „Vogelschutz“ im Garten betrifft.

    Natürlich gehe auch ich von verschiedenen Perspektiven oder von verschiedenen Verständnissystemen aus. „Offene“ oder „verborgene“ Beweggründe für eine bestimmte Argumentation liegen bei mir, wegen meiner besonderen „Prägung“, eher auf psychologischer Ebene, die eine Erweiterung der „sachlichen“ Ebene ist.

    Ein zweites Evolutionssystem, „Meme“, die Informationen neuronal statt genetisch codieren, ist naheliegend.

    Mit welchen Informationen das System „belegt“ ist, ob sie die „Realität“ abbilden oder „Hirngespinste“ sind, ist eine andere Frage. Das erkennt man meistens erst nachher. Es fragt sich auch, wie lange Regierungswechsel (bei uns) noch friedlich ablaufen.

    Nach dem Krieg (1945) war es so, dass Politiker ins Gefängnis kamen und andere aus dem Gefängnis (oder KZ) in die Regierung kamen….
    „Wahrheiten“ wurden zu „Lügen“ und „Lügen“ die neue „Wahrheit“….

    Trump könnte ein „Friedensengel“ werden, oder auch nicht.

    Keine Art hatte jemals die Möglichkeit, selbst etwas gegen ihr „Aussterben“ zu unternehmen. Bei der Menschheit besteht sogar die Gefahr, sich selbst zu eliminieren.

    • Timm Grams sagt:

      Klar, mir geht es um die Metaebene. Die Idee dahinter: Das Wissen um die Metakommunikation (Paul Watzlawick: Menschliche Kommunikation, 1969/2000) immunisiert gegen Manipulation.

    • Bernd sagt:

      @Realo: „Mit welchen Informationen das System ‚belegt’ ist, ob sie die ‚Realität’ abbilden oder ‚Hirngespinste’ sind, ist eine andere Frage. Das erkennt man meistens erst nachher.”

      Das trifft natürlich besonders hinsichtlich der aktuellen Evolution des Menschen zu. Nur ist es so, dass Theorien, hier die der Evolution, auch schon hinsichtlich der vergangenen Evolution überprüft werden können. Das gilt besonders für die erste Anwendung als Eugenik. Bis zum zweiten Weltkrieg wurde das begeistert angewendet. Noch im Jahr 1946 erklärte etwa der Ökonom John Maynard Keynes, von 1937 bis 1944 Direktor der britischen Eugenics Society, die Eugenik zum wichtigsten und ehrlichsten Zweig der Soziologie. Es dauerte dann „nachher” über 50 Jahre, bis auch die britische Eugenics Society ihren Namen zum zweiten Mal änderte und sich endlich entschieden nicht nur nominell von der Eugenik distanzierte – ohne allerdings aufzuarbeiten, warum diese Theorie und Anwendung eigentlich scheiterte.

      Das gilt dann auch für die Soziobiologie. Vorwürfe des Rassismus werden strikt bestritten, und wenn Wilson die Soziobiologie aus anderen Gründen falsifiziert, wird das nicht diskutiert und aufgearbeitet, sondern diese Kritik wird praktisch wie in der Kirche einfach auf den Index gesetzt, obwohl Wilson es war, der die Soziobiologie als neues Paradigma einst begründete. So etwas nenne ich Dogmatik.

      Falsche Theorien werden in der modernen Wissenschaft klassischerweise durch das Experiment erkannt, wobei im Fall evolutionärer Theorien die aktuelle und weitere Evolution des Menschen nun selbst das Experiment ist. Genauso also wie in der Anwendung als Eugenik, nur dass die Konsequenzen heute völlig andere sind als in diesem ersten Fall, man denke hier nur an einen mit Massenvernichtungswaffen geführten dritten Weltkrieg oder an den Klimawandel, der demnächst vielleicht Auswirkungen auf den Golfstrom hat. Doch im Verständnis der Soziobiologie sind das alles nur so etwas wie Hirngespinste, weil Evolution nur in Verbindung mit den Genen denkbar ist, und so in diesem Verständnis nichts mit der aktuellen Entwicklung des Menschen zu tun haben kann. Dass Evolution auch ohne genetische Veränderungen möglich sein soll, das kann in diesem Verständnis nicht sein, das widerspricht ja Darwin und übersteigt zudem das eigene Vorstellungsvermögen. Wie soll das denn möglich sein? Wenn Wilson daher mit seinem neuen Ansatz zur Evolution des Menschen sagt: „Der Aufstieg zur Zivilisation, von egalitären Verbänden und Siedlungen über Stammesfürstentum zum Staat, ging durch kulturelle Evolution vor sich, nicht auf Grund genetischer Veränderungen“ (Wilson 2013, S. 125 f), so kann er daher nur (wie in einer Besprechung seines Buches in „Spektrum der Wissenschaft” vom 31.08.2013 mit dem Titel „Hybris einer Forscherlegende“) ein „begnadeter Popularisierer” oder „Simplifizierer” sein, „der oft ins Ungefähre abdriftet”. Mit anderen Worten ist die Annahme einer kulturellen, von den Genen unabhängigen Evolution ein „Hirngespinst”, mit dem man sich erst gar nicht erst näher beschäftigt.

      Was ich damit sagen will, es ist sehr wohl möglich, falsche Theorien schon vor ihrer Anwendung oder ihrer eintretenden praktischen Konsequenzen als solche zu erkennen und nicht erst „nachher”. Das trifft gerade auf die Evolutionstheorie und besonders die Soziobiologie zu. Doch wenn, wie es Wilson seinen Kritikern konkret vorwirft, diese im „Stammesdenken” und wohl auch noch anderen Instinkten verhaftet sind, werden diese den eigenen Status und Rang begründenden Theorien natürlich nicht kritisch überprüft, sondern dogmatisch verteidigt, genau wie in der Religion. Dann muss man tatsächlich auf den Ausgang des „Experimentes” warten, welche derjenigen Theorien oder Theologien, von denen der Mensch sich in seinem Verhalten und Sein bis heute leiten lässt, sich in seiner weiteren Evolution in der Praxis falsifizieren.

  9. Realo sagt:

    @ Timm Grams 9. Februar 2024 um 16:08 Uhr

    Zitat: „Aber der konkrete Anlass für eine Gruppenbildung liegt vermutlich weniger tief. Der Gruppenzusammenhalt wird durch eine Erzählung (neudeutsch Narrativ) bewirkt. Eine solche Erzählung kann beliebig verrückt sein.“

    Das sehe ich auch so. Ich vermute, der Grund für eine „Gruppenbildung“ liegt darin, dass sich eine Gruppe von Mitgliedern mit annähernd gleichen Interessen, besser vor der „Ausbeutung“ durch einen oder mehrere „Überlegene“, aber auch vor „Naturkräften“ schützen kann, als einzelne Menschen. Umgekehrt wurde auch versucht „Solidarisierungen“ (Gewerkschaften) zu unterbinden.

    Die auf die auf die Gruppe bezogenen „Narrative“ sind zweckmäßig für die „Gleichschaltung“ und die „Stabilisierung“ der Gruppe. Einerseits um grundlegende „Denkpfade“ (neuronale synaptische Verknüpfungen im Gehirn anzulegen), zu bahnen und stabil zu halten. Gemäß der Hebbschen Lernregel werden die synaptischen Verknüpfungen bei den Aktivierungen verstärkt oder als Strukturerweiterung neu gebildet.
    Andererseits aber auch um zu vermeiden, dass sich Gruppen feindliche Narrative „einnisten“ könnten, wenn nicht oft genug „aufgefrischt“ wird. Die klaren Strukturen fördern die Existenzfähigkeit der Gruppe.

    Es soll sich auch so verhalten, dass z.B. Ordensleute („Nonnenstudie“) wegen der intensiven Lern- und Trainingsprozesse ein „stabileres Gehirn“ haben, auch weniger von Alzheimer betroffen sind, obwohl sie im Gehirn Plaques aufweisen wie der Durchschnitt der Bevölkerung. Geistige Tätigkeit ist extrem wichtig für die geistige Fitness im Alter.

    Ich finde bei Trump bemerkenswert, dass er sich erfolgreich gegen die „Bevormundung“ und „Manipulation“ durch die Medien wehrt, die vielen der täglich manipulierten Menschen, besonders in Amerika, zum Hals heraus hängt. Die vielen Einwanderer in die USA bewirken eine Explosion der Wohnungskosten, aber auch eine Spaltung der Gesellschaft, beides bahnt sich übrigens auch bei uns an.

    Bei uns ist auch noch die „ideologische Besserwisserei“, hauptsächlich der Grünen, ein Problem, neuerdings z.B. die „Fleischsteuer“. Dies scheint es so in anderen Ländern kaum zu geben.

    • Bernd sagt:

      @Realo: “Ich finde bei Trump bemerkenswert, dass er sich erfolgreich gegen die „Bevormundung“ und „Manipulation“ durch die Medien wehrt, die vielen der täglich manipulierten Menschen, besonders in Amerika, zum Hals heraus hängt.“

      Und ich finde diese Aussage bemerkenswert.

  10. Bernd sagt:

    @Timm
    Können Sie mit Ihrem System der Denkfallen die Falsifizierung der Soziobiologie von Wilson nachvollziehen, begründen und bestätigen?
    Und auch wo in der Eugenik der Denkfehler lag, so dass sie scheitern musste?
    Und schließlich, gibt es von Ihrem System her schon bei Darwin Denkfehler, zumal er selbst bei der Evolution des Menschen von „dunklen Rätseln“ gesprochen hatte?

    • Timm Grams sagt:

      @ Bernd

      Diese Diskussion gehört eigentlich zum vorhergehenden Artikel. Greifen wir also den Gedankenfaden auf. Zur Soziobiologie schreibt die Wikipedia:

      Inzwischen übt der Soziobiologe und Namensgeber der Soziobiologie, Edward O. Wilson, selbst eine scharfe Kritik an der Soziobiologie, indem er die Gesamtfitness-Theorie für nicht wissenschaftlich begründet hält.

      Dieser Satz wird durch das nachfolgende Wilson-Zitat nicht belegt. Er ist falsch.

      Wilson wendet sich in seinem Buch von 2012 nicht gegen die von ihm geschaffene Soziobiologie, in der sowohl die Verwandtschaftselektion als auch die Gruppenselektion ihren Platz haben. Falsifiziert hat er sie schon gar nicht. Sein Angriff geht gegen das „alte Paradigma der sozialen Evolution“, das allein die Verwandtschaftsselektion als Erklärung zulässt und das die Bedeutung von Hamiltons Ungleichung überbewertet.

      Für Wilson spielt sich die Evolution auf (wenigstens) zwei Ebenen ab, auf der Ebene der Gene einerseits und der Kultur andererseits. Bei jeder zu untersuchenden Verhaltensweise stellt sich die Frage, welcher Teil wohl angeboren un welcher der Erziehung zuzuschreiben ist. Im Kapitel 6 seines Buches geht es Wilson um die Mehrebenenselektion.

      Ein System der Denkfallen ist eine Taxonomie. Damit kann man nichts beweisen, belegen oder falsifizieren, nur die Gedanken ordnen.

  11. Realo sagt:

    @ Bernd 10. Februar 2024 um 13:20 Uhr

    Ein Problem ist, dass die Evolution über die Zeit sehr komplex verläuft.

    Die Eugenik wurde von den Nazis desavouiert, weil sie letztlich z.B. „Kampfmaschinen“ züchten wollten. Dann gäbe es womöglich einen Wettbewerb unter Wissenschaftlern, wer die besten „Zuchtergebnisse“ aufweist. Z.B. eine „Spezialzüchtung“, extrem kraftvoll, befolgt bedingungslos jeden Befehl, ist anspruchslos, etwas geistesschwach, stellt keine Fragen und hat keine Angst…..

    Dass man derartiges „dogmatisch abgedreht“ hat, wundert mich nicht.

    Bei Menschen sind Experimente nicht nur wegen der ethischen Grenzen, problematisch. Z.B. auch wegen der langen „Generationenspanne“ (rund 30 Jahre).
    Tiermodelle dürften zu wenig aussagekräftig sein, weil abhängig vom Modell, „alles möglich“ ist.

    Es geht einfach nicht ohne „Dogmatik“, ähnlich wie bei „Schiedsrichterentscheidungen“ beim Fußball.

    Zitat:

    Der Aufstieg zur Zivilisation, von egalitären Verbänden und Siedlungen über Stammesfürstentum zum Staat, ging durch kulturelle Evolution vor sich, nicht auf Grund genetischer Veränderungen.

    Das wir kaum jemand bestreiten. Den Sachverhalt kann man aber erst jetzt, „nachher“ erkennen, das dürfte kaum jemand so vorausgesehen haben. Außerdem ist es auch denkbar, dass in Zukunft nicht mehr „Staaten“ (wo die Bürger „aussterben“) sondern Familienclans oder Banden eine größere Rolle spielen.

    Wie das „Experiment Menschheit“ ausgeht, wissen Sie erst, wenn „alles aus ist“ und dann sind Sie vermutlich nicht mehr „dabei“….

  12. Mussi sagt:

    @ Grams

    Syntax ist von Symantik nicht zu trennen.
    Es dürfte eher das Verbindende zu hinterfragen zu sein.

    • Bernd sagt:

      @Timm
      Ich bin zunächst einmal, was ja der Anlass der „Wissenschaftskriege” um die Soziobiologie war, der Meinung, dass die Soziobiologie rassistisch ist. Von daher passt es für mich hier im Thema „rechtsaußen” schon.
      Des Weiteren hatte ich ja von meinem ersten Kontakt an hier immer wieder von der Falsifizierung der Soziobiologie durch Wilson gesprochen und, da kein Widerspruch kam, bin ich eigentlich davon ausgegangen, dass das hier auch so verstanden wird. Da das aber jetzt ganz offensichtlich nicht so ist, bin ich dankbar dafür, dass das endlich zur Sprache kommt, so dass man nicht ständig aneinander vorbeiredet.

      Überrascht bin ich darüber hinaus auch deswegen, weil ich bisher immer davon ausgegangen war, dass die Falsifizierung in der Soziobiologie deswegen nicht anerkannt wird, weil Wilson seinen Kritikern „Stammesdenken” (SPIEGEL-Artikel) vorgeworfen hat, sprich, wenn Wilson die Grundlage seines „Stammes”, die Identität dieser Gruppe, angreift und falsifiziert (und damit nachträglich der Gegenseite in den „Wissenschaftskriegen” recht gibt), erfüllt er damit zwar das Ideal der Wissenschaft, doch von der Emotionalität der (Stammes)-Instinkte her, ist das Verrat. Jeder Soziobiologe, der Wilson recht gibt, verlässt damit ebenfalls die Grundlage und Grundidentität dieser Gruppe – so dass dieses Thema am besten totgeschwiegen wird.

      Dass Sie als jemand außerhalb der Soziobiologie (ich nehme einmal an, dass dahin auch ansonsten keinerlei emotionale Beziehungen bestehen) und zusätzlich als ich sage einmal Denkfehler-Experte die klaren Aussagen von Wilson in seinem Buch (ich benutze die deutsche Version von 2013) nicht als Falsifizierung verstehen, da muss ich ehrlich gesagt schon erst einmal schlucken. Das verleiht dem Ganzen noch eine andere Dimension. Aber umso wichtiger ist die Diskussion darum, denn ich möchte gern die Kräfte näher kennenlernen, die hier am Werke sind – oder mich eben durch gute Argumente widerlegen lassen.

      Die Argumentation, die Sie nun vorbringen, kenne ich. Sie findet sich im Buch „Soziobiologie” von Eckart Voland, das gerade im letzten Jahr wieder neu aufgelegt wurde. Dort heißt es:
      „Gleichwohl ist es im Verlauf der soziobiologischen Theorieentwicklung zu einer Art Wiederbelebung der Gruppenselektionstheorie gekommen, die ausgerechnet von Edward O. Wilson, einem der einflussreichsten Popularisierer der Soziobiologie maßgeblich mit vorangetrieben wurde.” (Voland 2023, S. 9)
      Demnach hat Wilson die Soziobiologie also gar nicht für „gescheitert” erklärt, wie es im Wikipedia-Zitat klar gesagt wird (und an anderer Stelle: „Die schöne Theorie hat ohnehin nie gut funktioniert, aber jetzt ist sie in sich zusammengestürzt.“ Wilson 2013, S. 68), sondern Wilson hat demnach „im Verlauf der soziobiologischen Theorieentwicklung” nur die Gruppenselektion „wiederbelebt”. Dieses Argumentation widerspricht sich allerdings selbst, denn bei Voland heißt es auch, dass die „gen-zentrierte Wirkweise”, also die durch die Verwandtenselektion geschaffene Gesamtfitness, „in krassem Widerspruch” zur Gruppenselektion steht (vgl. Voland 2023, S. 7 f). Der Grund für diesen krassen Widerspruch liegt darin, weil das altruistische Verhalten von Individuen nur auf eine Art erklärt werden kann, entweder zugunsten der Gruppe und der Gruppenselektion rein in der Darwin-Fitness oder als Altruismus der Verwandtenselektion in der dadurch neuen, zusätzlichen genetischen (Gesamt)Fitness.

      Wie Sie richtig schreiben, geht Wilsons „Angriff gegen das ‚alte Paradigma der sozialen Evolution’, das allein die Verwandtschaftsselektion als Erklärung zulässt und das die Bedeutung von Hamiltons Ungleichung überbewertet.” Doch dass es daneben noch eine zusätzliche Theorie geben soll, in der „sowohl die Verwandtschaftselektion als auch die Gruppenselektion ihren Platz haben”, ist falsch. Denn bei Wilson heißt es sehr klar:
      „So gesehen stellt sich vernünftigerweise folgende Frage: Wenn es eine allgemeine Theorie gibt, die für alle Fälle funktioniert (natürliche Multilevel-Selektion), und eine Theorie, die nur für bestimmte Fälle funktioniert (Verwandtenselektion), und wenn in den wenigen Fällen, in denen die zweite Theorie funktioniert, diese mit der allgemeinen Theorie der Multilevel-Selektion übereinstimmt – warum behalten wir dann nicht einfach überall die allgemeine Theorie bei?“ (Wilson 2013, „Die soziale Eroberung der Erde“, S. 213)
      Und diese „allgemeine Theorie” ist die althergebrachte Darwin-Fitness, die altruistisches Verhalten allein als Gruppenselektion (bzw. Multilevel-Selektion) erklärt. Verwandtschaftselektion gibt es in dieser Theorie nicht.

  13. Bernd sagt:

    Der Vollständigkeit halber noch das bei Wikipedia angeführte Wilson-Zitat:

    „Das alte Paradigma der sozialen Evolution, das nach vier Jahrzehnten fast schon Heiligenstatus genießt, ist damit gescheitert. Seine Argumentation von der Verwandtenselektion als Prozess über Hamiltons Ungleichung als Bedingung für Kooperation bis zur Gesamtfitness als darwinschem Status der Koloniemitglieder funktioniert nicht. Wenn es bei Tieren überhaupt zur Verwandtenselektion kommt, dann nur bei einer schwachen Form der Selektion, die ausschließlich unter leicht verletzbaren Sonderbedingungen auftritt. Als Gegenstand einer allgemeinen Theorie ist die Gesamtfitness ein trügerisches mathematisches Konstrukt; unter keinen Umständen lässt es sich so fassen, dass es wirkliche biologische Bedeutung erhält. Auch für den Nachvollzug der Evolutionsdynamik genetisch bedingter sozialer Systeme ist es unbrauchbar“ (Wilson 2013, „Die soziale Eroberung der Erde“, S. 221 f).

  14. Timm Grams sagt:

    @ Bernd

    Die Ablösung vom alten Paradigma ist Edward Osborne Wilson offenbar nicht ganz leicht gefallen. Seine Äußerungen dazu sind in ihrer Tendenz teilweise widersprüchlich. Zunächst einmal die Bestätigung durch Wilson selbst, dass er die Theorie der Verwandtschaftselektion nicht knallhart als falsch oder richtig bewertet (Literaturanmerkungen zum 6. Kapitel seines Buches The Social Conquest of Earth):

    I was one of the scientists promoting kin selection as central in the origin of eusociality and human evolution […] To the extent I emphasized it, I now believe, I was wrong.

    Wilson nimmt demnach eine Mittelposition zwischen der Nature- und der Nurture-Fraktion ein.

    Im Positivismusstreit in den späten 60er Jahren ging es auch um die Wertfreiheit der Wissenschaft. Die Nature-Nurture-Kontroverse nährt den Verdacht, dass sie ein unerreichbares Ideal bleiben wird. Jede der Seiten vertritt eine Weltanschauung: Einerseits die Realisten und Marktliberalen wie Ayn Rand, für die die gesellschaftlichen Ungleichheiten eben angeboren sind, und andererseits die Progressiven bis hin zu den Kommunisten, die der Gesellschaft zutrauen, den Menschen qua Erziehung zu einem besseren zu machen.

    Wer eines der Lager verlässt ist für einen Zurückgelassenen wie Dawkins eben ein Verräter, selbst wenn er eine gemäßigte Position vertritt. Ich halte es für möglich, dass die Radikalität des Richard Dawkins – mit umgekehrtem Vorzeichen zwar – auf Edward Wilson abgefärbt hat.

    Damit haben wir uns wieder dem Thema des Artikels genähert: Argumentationsweisen rechts außen. Kontrastbetonung.

  15. Realo sagt:

    @ Timm Grams 11. Februar 2024 um 13:40 Uhr

    Ich habe eine ganz lockere Sicht zur Theorie der Verwandtschaftselektion. Die beruht auf „zufällige“ einzelnen Beobachtungen, sind nicht planmäßig statistisch erhoben.

    Einerseits haben „Familienclans“ eng kooperiert. Andererseits habe ich keine „härteren“ Streitereien beobachtet als unter „Brüdern“. Sowohl unter Jugendlichen (10 – 15 Jahre), als auch unter Erwachsenen. (Gemeinsame Betriebe, Erbschaften,…). Natürlich auch noch die typischen „Bruderkriege“.

    Es könnte die Frage sein, ob „Verwandte“ kooperativ z.B. mehr Ressourcen schaffen, oder vernichten?

    Bestimmte Verhaltensmuster scheinen eher genetisch, andere memetisch, das würde ich aus meinen nicht wissenschaftlichen Beobachtungen bestätigen.

    Zitat:

    Jede der Seiten vertritt eine Weltanschauung: Einerseits die Realisten und Marktliberalen, für die die gesellschaftlichen Ungleichheiten eben angeboren sind, und andererseits die Progressiven bis hin zu den Kommunisten, die der Gesellschaft zutrauen, den Menschen qua Erziehung zu einem besseren zu machen.

    Ich meine, beide Seiten vertreten ihre jeweilige Sicht. Aus der realen Situation das Beste zu machen, darauf kommt es an. „Ungleichheiten“ haben auch sehr positive Aspekte, weil die Gesellschaft das als wertvolle Ressource nutzen kann. Ich meine das „Spezialistentum“.

    Z.B. Säuglingsschwestern finden unter 20 schreienden Babys recht instinktsicher dasjenige heraus, bei dem die Windel gewechselt werden müssen. Dachdecker, Gerüstbauer, Kranführer, Maurer, LKW Fahrer, …. Angestellte mit Kundenkontakt, oder Fachleute die schnell Fehler finden müssen,…. alle haben besondere Fähigkeiten die gefördert werden sollten und die besonders in unserer Gesellschaft recht gut genutzt werden.

    Der Fehler scheint, manche Wissenschaftler wollen zu stark „generalisieren“, z.B. bei der „Verwandtschaftselektion“. Aussagen haben nur eine begrenzte Gültigkeit, ähnlich wie in der Informatik (z.B. lokale oder globale Variable).

  16. Bernd sagt:

    @Realo sagt:

    „Ungleichheiten“ haben auch sehr positive Aspekte, weil die Gesellschaft das als wertvolle Ressource nutzen kann. Ich meine das „Spezialistentum“.
    Z.B. Säuglingsschwestern finden unter 20 schreienden Babys recht instinktsicher dasjenige heraus, bei dem die Windel gewechselt werden müssen. Dachdecker, Gerüstbauer, Kranführer, Maurer, LKW Fahrer, …. Angestellte mit Kundenkontakt, oder Fachleute die schnell Fehler finden müssen,…. alle haben besondere Fähigkeiten die gefördert werden sollten und die besonders in unserer Gesellschaft recht gut genutzt werden.

    Dann sollte man auch konsequent sein und Arbeiterkindern keine höhere Bildung ermöglichen, ganz zu schweigen von Menschen, die aus Völkern mit noch minderwertigeren Genen kommen, erkennbar an der primitiven Kultur, die sie in ihrer Geschichte nur hervorgebracht hatten. Um die unserer hohen Kultur entsprechenden fitten Gene zu schützen, wären dazu dringend eugenische Maßnahmen vonnöten.

  17. John Solar sagt:

    Sind wir hier bei Neurechten Kommentaren gelandet?

    Das oben geschriebene:

    spiegelt extrem rechte oder neurechte Ideologien wider, die stark von eugenischen Theorien beeinflusst sind.
    Eugenik ist die Praxis oder der Glaube, die genetische Qualität der menschlichen Bevölkerung verbessern zu können, oft durch Interventionen wie Sterilisation oder selektive Fortpflanzung, um als unerwünscht betrachtete Merkmale zu eliminieren. Diese Ideologien befürworten oft die Vorstellung von genetischer oder kultureller Überlegenheit bestimmter Gruppen und die Unterdrückung oder Ausschließung anderer auf der Basis von Merkmalen, die als minderwertig betrachtet werden.

    Es ist wichtig zu betonen, dass solche Ansichten wissenschaftlich diskreditiert und moralisch verwerflich sind. Moderne genetische Forschung und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse lehnen die Vorstellung von „überlegenen“ oder „minderwertigen“ Genen ab und erkennen die immense Komplexität genetischer und kultureller Faktoren in der menschlichen Entwicklung an.

    Die Geschichte hat gezeigt, dass eugenische Politiken zu schweren Menschenrechtsverletzungen geführt haben, insbesondere im Nazi-Deutschland, aber auch in anderen Ländern, einschließlich Zwangssterilisationen und anderen Formen staatlicher Gewalt gegen als „unerwünscht“ betrachtete Bevölkerungsgruppen.

    Die Förderung von Bildungszugang und Chancengleichheit für alle Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft oder genetischen Merkmalen, ist ein zentrales Prinzip demokratischer und offener Gesellschaften.

    Bildung ist ein Schlüssel zur Ermächtigung von Individuen und zur Förderung sozialer Mobilität sowie zur Überwindung von Ungleichheiten. Der Zugang zu Bildung für alle, einschließlich Arbeiterkinder und Menschen aus verschiedenen kulturellen Hintergründen, trägt zur Stärkung der sozialen Kohäsion und zur Förderung eines inklusiven gesellschaftlichen Wohlstands bei.

    Ich habe so einen unreflektierten Sch…. in meiner Jugend am Esstisch auch mal wiedergegeben, wurde aber sofort von den Kindern am Tisch eingebremst und mir wurde ziemlich schnell klar gemacht, wie unpassend und falsch meine Aussagen sind!

    So etwas öffentlich in einem Blog von sich zu geben ist aber schon nochmal eine andere Nummer, man könnte Sich ja nochmal vorher schlau machen bevor man solch Gedankengut absondert.

    • Timm Grams sagt:

      Sie beziehen sich vermutlich auf Bernd. Ihr Kommentar zeigt mir wieder einmal, dass Ironie im Internet nicht funktioniert.

      Bernds Ironie können Sie als solche erkennen, wenn Sie in diesem Gesprächsfaden etwas nach oben blättern. Ich zitiere:

      Das gilt dann auch für die Soziobiologie. Vorwürfe des Rassismus werden strikt bestritten, und wenn Wilson die Soziobiologie aus anderen Gründen falsifiziert, wird das nicht diskutiert und aufgearbeitet, sondern diese Kritik wird praktisch wie in der Kirche einfach auf den Index gesetzt, obwohl Wilson es war, der die Soziobiologie als neues Paradigma einst begründete. So etwas nenne ich Dogmatik.

      Bernd bezieht meines Erachtens hier ganz klar die Nurture-Position. Diese ist der Eugenik entgegengesetzt. Dass er die Soziobiologie mit der Nature-Position identifiziert, ist zwischen uns strittig.

      Wie Bernd wende ich mich gegen die Eugenik und gegen die Rassenlehre. Von dem Teil der Soziobiologie, der als Begründung dieser Lehren dienen könnte, nämlich der Gesamtfitnesstheorie, hat sich Edward Osborne Wilson distanziert, nicht aber von der Soziobiologie insgesamt.

    • John Solar sagt:

      Ja korrekt,
      bezog mich auf Bernds Kommentar, und richtig –>
      Funktioniert nicht, weil man meistens nicht denn gesamten Diskussionsfaden mitnimmt und komplett von Anfang durch liest.

      Ich mache Ironie in Kommentaren deshalb immer Kenntlich mit zumindest einem

      /Ironie Off.

      Auf den Rest ihres Kommentars und eures Threads gehe ich nicht ein, ist mir zu hoch, müsste ich mich zu tief reinlesen..

      Lasse ich euch euren Spass…

      Profs und Ing und Informatiker und Biologen in Rente unter sich… was da rauskommt is manchmal schon sehr interessant…
      Wink Wink….

      P.S.

      Ich muss noch arbeiten… kann mir solch Gedanken Spiele Diskussionsrunden nur am Rand erlauben….

    • Bernd sagt:

      @John Solar
      Wie Timm schon sagte, es war tatsächlich Ironie. [Moderator: gekürzt]

  18. Bernd sagt:

    @Timm
    „Wer eines der Lager verlässt ist für einen Zurückgelassenen wie Dawkins eben ein Verräter, selbst wenn er eine gemäßigte Position vertritt.”

    Ja, aber hier muss man sich klar machen, um was es geht und mit welchen Mitteln hier gekämpft wird. Zunächst einmal gilt in aller Klarheit, dass Wilson, der mit seinem Buch „Sociobiology” die Soziobiologie im Jahr 1975 begründete, sie ca. 40 Jahre später falsifizierte. („Und doch war die Gesamtfitnesstheorie nicht nur falsch, sondern grundlegend falsch“, Wilson 2015, „Der Sinn des menschlichen Lebens”, S. 75). Das war der Paukenschlag, der Dawkins zu dem vernichtenden Urteil und Ratschlag veranlasste, das Buch „Die soziale Eroberung der Erde” von Wilson ungelesen fortzuschleudern, und zwar mit Wucht.

    Dieser Vorgang ist in etwa so, als hätte analog zu den durch die Soziobiologie ausgelösten „Wissenschaftskriegen” in einem angenommenen Wissenschaftskrieg zwischen Christen und Atheisten der Papst plötzlich aufgrund neuer theologischer Erkenntnisse verkündet, es würde gar keinen personalen und seienden Gott geben. Die anderen Christen würden sagen, dass das so nicht sein kann und sein darf. Sie würden diesen Papst absetzen und seine Verkündigung verfälschen oder manipulieren – und genau das hat zumindest Eckart Voland in seinem in Deutschland wohl als Standardwerk angesehenen Buch „Soziobiologie” getan, und zwar mit dem schon von mir zitierten Satz: „Gleichwohl ist es im Verlauf der soziobiologischen Theorieentwicklung zu einer Art Wiederbelebung der Gruppenselektionstheorie gekommen, die ausgerechnet von Edward O. Wilson, einem der einflussreichsten Popularisierer der Soziobiologie maßgeblich mit vorangetrieben wurde.” (Voland 2023, S. 9) Gleichzeitig wird im sehr umfangreichen Literaturverzeichnis von Voland das Buch von Wilson auch in der Auflage von 2023 nicht einmal aufgeführt. Ein unbefangener Leser muss so zu dem Schluss kommen, dass Wilson die Soziobiologie nicht falsifiziert hat, sondern dass er „im Verlauf der soziobiologischen Theorieentwicklung” lediglich die Gruppenselektion wiederbelebt hat.

    Diese betrügerische Manipulation hatte ja auch Erfolg. Ich bin seit ca. 20 Jahren Mitglied der biologischen Austauschliste MVE-Liste.de (MVE = Menschliches Verhalten aus evolutionärer Perspektive), die sich ausdrücklich auf das soziobiologische Paradigma beruft. Auch hier wurde das eigentliche Problem um Wilson totgeschwiegen, nicht einmal auf seinen Tod wurde irgendwie eingegangen. Als ich mir dann die Freiheit nahm, nach dem Tod von Wilson einen Nachruf auf ihn an alle Mitglieder zu verschicken, wurde mir sofort mit rechtlichen Schritten gedroht. In allen anderen Nachrufen auf ihn, die ich gelesen habe, fand seine Falsifizierung der Soziobiologie und sein darauf gründender neuer Ansatz zur Evolution des Menschen nicht einmal mehr eine Erwähnung.

    Man muss sich dabei auch klar machen, worum es bei dieser betrügerischen Manipulation in der Wissenschaft ebenfalls geht, nämlich einerseits um die Wurzel des Rassismus in der Evolutionsbiologie (weil Kultur hier als genetisch verankert und damit als die Individuen von Geburt an determinierend angesehen wird, was die Eugenik rechtfertigt) und vor allem darum, heute die aktuelle Entwicklung des Menschen überhaupt als weitergehende, jetzt kulturelle Evolution zu erkennen. Also das, was Wilson so prägnant in seiner Aussage ausgedrückt hat:
    „Wir sind ein evolutionäres Mischwesen, eine Chimärennatur, wir leben dank unserer Intelligenz, die von den Bedürfnissen des tierischen Instinkts gesteuert wird. Deswegen zerstören wir gedankenlos die Biosphäre und damit unsere eigenen Aussichten auf dauerhafte Existenz.“ (Wilson 2013, S. 23).

    Für die Soziobiologie spielen die aktuellen existentiellen Probleme des Menschen dagegen keinerlei Rolle, sie kann keinen Bezug dieser Probleme zu ihrem gen-zentrierten Evolutionsverständnis herstellen. Ich nehme an, sie sehen diese Gefahren klammheimlich eher als Chance, dass sich in dieser Selektion endlich wieder die genetisch Fitten durchsetzen und so der fatalen Vermischung mit minderwertigen Genen in den heutigen Gesellschaften ein Ende gesetzt wird.

  19. Timm Grams sagt:

    @ Bernd

    Nach wie vor finde ich es als nicht zulässige Verallgemeinerung, wenn man die Falsifizierung der Gesamtfitnesstheorie zu einer Falsifizierung der Soziobiologie erklärt. In seinem Werk Soziobiologie beschreibt Wilson sowohl die Verwandtschaftsselektion als auch die Gruppenselektion. (Eines dieser Modelle der Gruppenselektion habe ich in meinem Kurs Umweltsimulation mit Tabellenkalkulation unter dem Stichwort Metapopulation behandelt.) Damit gehört die Gruppenselektion zu den Grundlagen der Soziobiologie.

    Freilich hat Wilson die Wirkung der Gruppenselektion auf die Entstehung sozialen Verhaltens damals als gering erachtet. Genau das ist es, was ich in meinem vorhergehenden Beitrag als Irrtum des E. O. Wilson bezeichnet habe. Er hat ihn, wie beschrieben, selbst korrigiert.

    Es ist übertrieben und für mich ein Fall von Kontrastbetonung, wenn man diese Korrektur zu einer Widerlegung der Soziobiologie erklärt – womit wir dann doch wieder beim Thema dieses Artikels gelandet sind.

    • Bernd sagt:

      @Timm
      Das Verständnis von Wilson in den 1970er Jahren zur Frage und dem Verhältnis von Verwandten- und Gruppenselektion kenne ich nicht (können Sie mir dazu aussagekräftige Belegstellen oder Zitate nennen, weil mich das natürlich interessiert?). Aber sein Verständnis nach dem Jahr 2010 geht für mich sehr klar aus seinen Büchern hervor und besonders aus dem schon genannten Zitat:
      „So gesehen stellt sich vernünftigerweise folgende Frage: Wenn es eine allgemeine Theorie gibt, die für alle Fälle funktioniert (natürliche Multilevel-Selektion), und eine Theorie, die nur für bestimmte Fälle funktioniert (Verwandtenselektion), und wenn in den wenigen Fällen, in denen die zweite Theorie funktioniert, diese mit der allgemeinen Theorie der Multilevel-Selektion übereinstimmt – warum behalten wir dann nicht einfach überall die allgemeine Theorie bei?“ (Wilson 2013, „Die soziale Eroberung der Erde“, S. 213)

      Ich bin in diesem Punkt durchaus der Auffassung, die Voland wie schon einmal genannt in seinem Soziobiologie-Buch erwähnt, nämlich dass die „Gruppenselektion” (vgl. Voland 2023, S. 7 f) mit der Verwandtenselektion der Soziobiologie „in krassem Widerspruch” (Voland 2023, S. 7) steht bzw. dass sie einander ausschließen, weil das altruistische Verhalten nur auf eine Art erklärt werden kann, entweder wie seit Darwin zugunsten der Gruppe und der Gruppenselektion als altbekannte Darwin-Fitness oder als Altruismus der Verwandtenselektion als neue, zusätzliche genetische Fitness, was dann die Gesamtfitness ergibt.
      In meinem Verständnis meint Wilson mit „allgemeiner Theorie” im obigen Zitat eben die, die seit Darwin besteht, in der es nur die Gruppenselektion gibt, aber keine Verwandtenselektion. Ob Soziobiologie ohne Verwandtenselektion noch eine Daseinsberechtigung besitzt, weiß ich jetzt nicht.

      Worum es meinem Verständnis nach aber eigentlich geht, ist der neue Ansatz von Wilson zur Evolution des Menschen, der auf seiner Falsifizierung der Verwandtenselektion folgt bzw. damit direkt verbunden ist. Denn sowohl Gruppenselektion als auch Verwandtenselektion betreffen die genetische Evolution. Die ist aber für Wilson für die kulturelle Evolution oder Zivilisation des Menschen gar nicht mehr maßgebend, denn: „Der Aufstieg zur Zivilisation, von egalitären Verbänden und Siedlungen über Stammesfürstentum zum Staat, ging durch kulturelle Evolution vor sich, nicht auf Grund genetischer Veränderungen.“ (Wilson 2013, S. 125 f)

  20. Realo sagt:

    @ Bernd 12. Februar 2024 um 20:06 Uhr

    Zitat: „Wie Timm schon sagte, es war tatsächlich Ironie.“

    Daran habe ich auch gedacht. Aber auch daran, dass Sie am Faschingssonntag vielleicht zu viel Schnaps abbekommen haben.

    • Bernd sagt:

      Ich hatte noch eine Erklärung der Ironie geschrieben, doch diese Erklärung ist leider nicht zugelassen bzw. bis auf einen Satz gekürzt worden.

      [Moderator: Ich versuche Willkür auszuschließen und halte mich so gut ich kann an die selbstverfassten Leitlinien.]

  21. Timm Grams sagt:

    @ Bernd 12.2.2024 19:57 Uhr

    Sie zitieren Wilson (Die soziale Eroberung der Erde, 2013, S. 213):

    So gesehen stellt sich vernünftigerweise folgende Frage: Wenn es eine allgemeine Theorie gibt, die für alle Fälle funktioniert (natürliche Multilevel-Selektion), und eine Theorie, die nur für bestimmte Fälle funktioniert (Verwandtenselektion), und wenn in den wenigen Fällen, in denen die zweite Theorie funktioniert, diese mit der allgemeinen Theorie der Multilevel-Selektion übereinstimmt – warum behalten wir dann nicht einfach überall die allgemeine Theorie bei?

    Das klingt so gar nicht nach einer Widerlegung der Verwandtschaftselektion. Sie wird sogar in die allgemeinere Theorie eingebettet.

    Der Grund dafür ist ziemlich naheliegend. Er liegt in der Beantwortung der Frage, wie ein Altruist den würdigen Empfänger seiner Wohltaten erkennen kann: Er ist Gruppenmitglied.

    Wenn es um die Frage geht, wie Edward Osborne Wilson in den 1970er Jahren das Verhältnis von Verwandten- und Gruppenselektion gesehen hat, dann ist die beste Quelle wohl sein Buch Sociobiology (1975/2000).

    Die Größe der Gruppe macht, ob Verwandtschaftsselektion (kin selection) wirkt oder ob die Selektion ganze Gruppen betrifft (interdemic selection):

    Pure kin and pure interdemic selection are the two poles at the end of a gradient of selection on ever enlarging nested sets of related individuals[…] The transition zone between
    kin selection and interdemic selection for most species probably occurs when the group is large enough to contain somewhere on the order of 10 to 100 individuals. At that range one reaches the upper limit of family size and passes to groups of families.

    Soweit Wilson (Sociobiology, 1975/2000, S. 107). Er schreibt auch, dass die effektive Gruppengröße sich danach richtet, an wie viele Mitglieder sich ein Tier erinnern kann.

    Dann studiert Wilson zwei Modelle der Selektion ganzer Gruppen (interdemic selection) ohne Einbeziehung der Verwandtschaftselektion (Sociobiology, 1975/2000, S. 106-117). In den Modellen werden auch Annahmen gemacht, die der Hypothese der Verwandtschaftsselektion direkt widersprechen: Für die Teilpopulationen eines der Modelle (Levins) wird abnehmender Altruismus postuliert. Wie sagen wir Ingenieure doch treffend: Mist rein, Mist raus.

    Wilsons Schlussfolgerungen beziehen sich auf genau diese beiden Modelle und nichts anderes (S. 113 f.):

    In summary, deductions from the two models agree that evolution of an altruist gene by means of pure interdemic selection, based on differential population extinktion, is an improbable event[…] In these cases one must favor alternative hypotheses that involve either kin selection or individual selection.

    Wilson hat sich 1975 also von den falschen Annahmen über die Selektion ganzer Gruppen verabschiedet, nicht aber von der Gruppenselektion ganz allgemein. Dazu nun ein längeres Zitat aus Sociobiology ( S. 117):

    Imagine a network of individuals linked by kinship within a population. These blood relatives cooperate or bestow altruistic favours on one another in a way that increases the average genetic fitness of the members of the network as a whole, even when this behavior reduces the individual fitness of certain members of the group. […] The essential condition is that they jointly behave in a way that benefits the group as a whole, while remaining in relatively close contact with the remainder of the population. This enhancement of kin-network welfare in the midst of a population is called kin selection.

    Wenn Eckart Voland behauptet, dass Gruppenselektion mit der Verwandtenselektion der Soziobiologie in krassem Widerspruch stehe, dann hört sich das wie ein Bekenntnis an und nicht wie eine Erkenntnis. Wilson jedenfalls definiert die Gruppenselektion so, dass sie die Verwandtenselektion umfasst.

    Ihrem letzten Absatz ist zuzustimmen: Allein aufgrund des Evolutionstempos ist die kulturelle Evolution die gegenüber der genetischen Evolution dominierende – zumindest im geschichtlichen Zeitraum, beginnend mit der Erfindung der Schrift.

    • Bernd sagt:

      @Timm
      Vielen Dank für die entsprechenden Zitate aus „Sociobiology”. Ich muss sie mir noch näher ansehen, doch steht jetzt schon fest, dass sie nur für die Entwicklung maßgebend sind, die Wilson seitdem durchgemacht hat und die von der Gründung der Soziobiologie zu ihrer Falsifizierung führte.

      Entscheidend ist jedoch (da Wilson ja selbst zugibt, sich früher geirrt zu haben), dass Sie aus dem Zitat seines Buches nach dem Jahr 2010 etwas ganz anderes herauslesen als ich. Wenn eine Theorie nur „für bestimmte Fälle funktioniert”, so heißt das für mich, dass sie in den anderen Fällen falsch und damit insgesamt als Theorie unbrauchbar ist.
      Die geozentrische Theorie „funktioniert auch für bestimmte Fälle”, nämlich für die Fälle, in denen der eigene Standpunkt als absolut bzw. stillstehend vorausgesetzt wird. Die heliozentrische Theorie „funktioniert dagegen für alle Fälle” (innerhalb des Sonnensystems), d.h. sie erklärt auch die scheinbaren Epizykel der Planeten. Jetzt zu folgern, dass die geozentrische Theorie, da sie ja für bestimmte Fälle funktioniert, in die allgemeine, heliozentrische Theorie eingebettet ist, halte ich im wissenschaftlichen Rahmen für nicht vertretbar, d.h. die geozentrische Theorie ist im wissenschaftlichen Verständnis vielmehr schlicht und einfach falsch.
      Ein anderes Beispiel wäre die Forensik. Ein Zeugen-Hinweis, dass der Täter etwa einen blauen Mantel getragen hat, berechtigt nicht dazu, den erstbesten Verdächtigen mit einem blauen Mantel als Täter festzunehmen und mit der weiteren Suche aufzuhören, auch wenn dieser Verdächtige dem eigenen Gefühl nach noch so sehr wie ein Verbrecher aussieht. Es ist vielmehr intensiv nach weiteren Hinweisen, Beweisen oder Indizien zu suchen und es dürfen dabei keinerlei Widersprüche auftreten. Sofern auch nur ein nicht zu beseitigender Widerspruch vorhanden ist oder gefunden wird, ist die gesamte Theorie, dass dies der Täter ist, sofort fallenzulassen. Denn beim wirklichen Täter stimmen restlos alle Hinweise, Beweise oder Indizien widerspruchsfrei überein. Und genauso muss es bei einer wissenschaftlichen Theorie sein.

      Warum wird die Theorie der Soziobiologie bzw. Verwandtenselektion nicht fallengelassen, obwohl Wilson mit Kollegen sie in Teilen falsifiziert hat (und das Wilsons Vorwurf nach nicht widerlegt worden ist)?
      „Die Theorie vom egoistischen Gen wirkt zunächst ganz und gar vernünftig. In der Tat galt sie den meisten Evolutionsbiologen gleichsam als Dogma – zumindest bis 2010. Dann wiesen Martin Nowak, Corina Tarnita und ich nach, dass die Theorie der Gesamtfitness, häufig auch als Theorie der Verwandtenselektion bezeichnet, sowohl mathematisch als auch biologisch fehlerhaft ist.” (Wilson 2013, S. 174)
      Weil hier Gefühle, Emotionen oder eben Instinkte im Spiel sind. Wilson verortet sie im „Stammesdenken”. Ich glaube aber zwischenzeitlich, dass da noch mehr hintersteht. Was fasziniert die Evolutionsbiologen, die die göttliche Schöpfungstheorie und damit weitestgehend auch den Glauben an einen Gott selbst widerlegt haben, so sehr an der Verwandtenselektion, also daran, dass die eigene altruistische Hilfe (als Form des kulturellen Geistes, Willens und Selbstbewusstseins) die genetische Fitness angeblich verändern kann, also die überindividuellen Gene selbst? Das frage ich mich inzwischen mehr und mehr.

  22. Timm Grams sagt:

    @ Bernd 13. Februar 2024 13:44 Uhr

    Sie neigen, wie ich früher auch, zur Kontrastbetonung, Popperianer eben. Inzwischen ist bei mir eine Prise Relativismus dazu gekommen: Wir wissen zwar, dass die Relativitätstheorie allgemein gilt, doch der Ingenieur ist schon froh, wenn er die newtonschen Gesetze verstanden hat und richtig anwenden kann. Die Newtonsche Theorie mag im strengen Sinne falsifiziert sein. Aber nützlich ist sie – seit über 300 Jahren. Mit dem Begriff Falsifizierung gehe ich inzwischen wesentlich vorsichtiger um. Auch Karl Raimund Popper hat die Sache differenzierter gesehen als einige seiner Jünger.

    Die Evolutionslehre ist insgesamt viel zu unbestimmt, als dass man hier von Falsifizierung sprechen könnte. Es geht schon damit los, dass in kaum einem Fall die Gruppengrenzen klar zu definieren sind oder dass sie gar durch das zu untersuchende Verhalten der Gruppe bestimmt werden (Sociobiology, 1975/2000, S. 261):

    Territory should be defined as an area occupied more or less exclusively by animals or groups of animals by means of repulsion through overt aggression or advertisement.

    Dass eine vergleichsweise große Ordnung herrscht wie beim verteidigbaren Nest und bei den Insekten, ist ein eher rarer Fall. In die Region der Falsifizierbarkeit kommt man eigentlich erst, wenn es um konkrete Populationen geht.

    E. O. Wilson hat in den Schriften, die ich von ihm kenne, immer wieder einmal die Gewichte verschoben, sogar innerhalb seines Buches Sociobiology. Letztlich ist der Nature-Nurture-Streit ein Meinungsstreit, in dem es eher um Weltanschauungen geht; er hat mit Wissenschaft im popperschen Sinn nur wenig zu tun. Das sieht man auch an der Verbissenheit, mit der dieser Streit geführt wird.

    Falsifizierung ist ein Begriff im Rahmen der Logik der Forschung. Im vorliegenden Fall ist er aus rein logischen Gründen fehl am Platz. Wilson hat 1975 vermutet, dass die Hypothese der Gruppenselektion keine ausreichende Erklärungskraft besitzt und dass man nach Alternativen Ausschau halten müsse. Als solche hat er damals die Individualselektion und die Verwandtschaftsselektion ins Spiel gebracht. Mit der Rehabilitierung der Gruppenselektion ist zwar die Bedeutung der Verwandtschaftsselektion zurückgestuft. Von einer Falsifizierung kann nicht die Rede sein, sonst hätte Wilson sie nicht in sein Theoriegebäude der Multilevel-Selektion inkorporieren können.

    • Bernd sagt:

      @Timm
      Timm sagt: „Mit der Rehabilitierung der Gruppenselektion ist zwar die Bedeutung der Verwandtschaftsselektion zurückgestuft. Von einer Falsifizierung kann nicht die Rede sein, sonst hätte Wilson sie nicht in sein Theoriegebäude der Multilevel-Selektion inkorporieren können.”

      Jetzt haben wir doch endlich ein klares Ergebnis. Es tut mir leid, durch ständiges Nachfragen und Wiederholungen in der Diskussion genervt zu haben, aber dieses Ergebnis herauszuarbeiten, war mir wichtig, auch wenn oder gerade weil es dabei auch um die Grundlagen des menschlichen Sprachverständnisses geht. Denn es hat sich herausgestellt, dass man sich nicht nur über die Bedeutung einer einzelnen Aussage einigen kann, sondern sogar über die Aussage eines ganzen Buches.

      Um es zusammenzufassen. Für mich hat Wilson die Verwandtenselektion seit 2010 und vor allem in seinem Buch „Die soziale Eroberung der Erde” eindeutig und komplett falsifiziert, ganz nach der von mir glaube ich auch schon mehrfach vorgebrachten Aussage: „Die schöne Theorie hat ohnehin nie gut funktioniert, aber jetzt ist sie in sich zusammengestürzt.“ (Wilson 2013, S. 68)
      Sie lesen aus diesem Buch dagegen heraus, dass Wilson die Verwandtenselektion nicht falsifiziert, sondern höchstens zurückgestuft hat. Sie existiert weiter in seinem „Theoriegebäude der Multilevel-Selektion”.

      Es geht darin zumindest für mich nicht nur um eine rein theoretische Haarspalterei, sondern ganz nach den „Wissenschaftskriegen” um die Soziobiologie um die Frage, ob die Soziobiologie rassistisch ist und darüber hinaus heute vor allem darum, ob die aktuelle kulturelle Evolution des Menschen mit all ihren großen Problemen als weitergehende Evolution erkannt werden kann oder eben nicht. In diesen beiden Fragen habe ich wie gesagt jetzt bezüglich der Soziobiologie Klarheit gewonnen. Dafür vielen Dank, denn ich liebe klare Ergebnisse.

    • Timm Grams sagt:

      Der Dawkins-Wilson-Streit um die Verwandtschaftselektion hat mich etwas vom Wesentlichen gelenkt: Was an unserem Verhalten ist vererbt und was erlernt? Möglicherweise ist diese Themaverschiebung auch die Quelle des Streits. Gut, dass wir trotzdem diesen Stand erreicht haben.

  23. Mussi sagt:

    @ Bernd

    Mir ist schleierhaft, warum Sie die Kulturelle Evolution immer so hervorheben.
    Mir macht, wie Timm Grams mit dem Beginn der Schrift sagt, dass Konformismus das prägende Element dieser Entwicklung ist. Mit ausbeuterischer Tendenz durch Technik und egoistischen Vorgehen zum Wohlstand gegen die natürlichen ökologischen Grundlagen von Leben.
    Das ist für mich keine Kulturelle Evolution im Sinne eines geistigen Fortschritts. Sondern wir stellen gerade mit Geist fest, dass uns das Ganze an ökologische Kippunkte und Grenzen des Erdsystems bringt.
    Kulturelle Evolution könnte man auch als Gruppenselektion der Eleminierung von Genen verstehen.
    Meinung oder/und Erkenntnis?

    • Bernd sagt:

      @Mussi

      Ich bin ein Anhänger von Wilsons neuem Ansatz zur Evolution des Menschen, weil darin Kultur nicht genetisch erworben und verankert ist. Genau deswegen besitzt der Mensch bei Wilson eine Chimären-Natur bzw. eine dichotome Natur.

      So gut wie alle Probleme des Menschen gründen von daher darauf, dass die Kultur-Evolution von den nicht mehr angepassten Instinkten des Menschen sozusagen missbraucht wird. Diese nicht mehr angepassten Instinkte sind insbesondere die der Aggression, besonders als Krieg (mit den durch die kulturell-technische Evolution ermöglichten Massenvernichtungswaffen) sowie das exzessive „Jagen und Sammeln” von materiellen Werten zur Befriedigung von Macht und Rang.

      Das eigentliche Wesen der kulturellen Evolution liegt jedoch im geistigen oder eben kulturellen Bereich. Die materiellen Werte, die dazu nötig sind, sind schon lange erreicht. Da der Mensch aber nicht die kulturelle Evolution als geistige Evolution selbst verfolgt, sondern sie vornehmlich zur Befriedigung seiner Instinkte benutzt, kommt es zu Problemen mit der Umwelt usw.
      In dieser Weise verstehe ich es und deswegen hebe ich die kulturelle Evolution (im Sinne von Wilson) immer hervor. Die herrschende Soziobiologie kennt dabei die kulturelle Evolution als nicht-genetische Evolution gar nicht, d.h. sie kennt kulturelle Evolution nur als genetische Evolution, was darin stets einen Rassismus nach sich zieht. In diesem Dogma ist sie gefangen, so wie die Religion in ihren Dogmen an übernatürliche Wesen und Kräfte.

  24. Rainer Gebauer sagt:

    Mir kommt bei allen Vergleichen bzw. vermeintlichen Parallelen hinsichtlich kultureller und biologischer Evolution ein wesentlicher Aspekt zu kurz: Die biologische Evolution ist nach allem, was ich weiß, ein im wahrsten Wortsinn zielloser Prozess. Es gibt keinen Punkt in der Zukunft, auf den hingesteuert werden soll, allein der Weg ist das Ziel. Mit der kulturellen Evolution des Menschen jedoch verhält es sich ein bisschen anders, weil die Teilnehmenden Menschen sind und sich in der Lage wähnen, diesen Weg zumindest ansatzweise in eine für sie vermeintlich vorteilhafte Richtung lenken zu können. Alle unsere sogenannten Werte (wie unterschiedlich sie in den verschiedenen Kulturen auch sein mögen) sind in meinen Augen der Versuch, Leitplanken zu installieren, von denen wir wissen, dass nicht einmal wir selbst uns auf sie verlassen können. Und den „Rest der Welt“, also die weiter ziellos weitertreibende biologische Evolution, interessieren sie ohnehin nicht.
    Es ist also gut und schön, dass wir die Welt „besser“ machen wollen, für den Augenblick und in gewissen Zusammenhängen gelingt das ja auch. Aber jede Hoffnung, dass das Anthropozän von uns selbst in eine wie auch immer geartete goldene Zukunft gesteuert werden kann, halte ich für eine Utopie. Lasst uns weiter unsere Apfelbäumchen pflanzen, schaden wird es der Welt so wenig wie nützen.

    • Bernd sagt:

      @Rainer Gebauer
      Rainer sagt: „Mit der kulturellen Evolution des Menschen jedoch verhält es sich ein bisschen anders, weil die Teilnehmenden Menschen sind und sich in der Lage wähnen, diesen Weg zumindest ansatzweise in eine für sie vermeintlich vorteilhafte Richtung lenken zu können.”

      Ja, genau darum geht es meinem Verständnis nach. Wir haben in der kulturellen Evolution ja viel erreicht. Den Menschen der Steinzeit würde die heutige Welt wie ein Paradies erscheinen. Doch es gibt darin eben auch gleichzeitig vielfältige Probleme, wie die beiden großen Katastrophen des letzten Jahrhunderts oder wie die aktuellen Kriege, der Klimawandel usw.
      Die Theorie, die dafür geeignet ist, diese Probleme zu lösen, ist für mich einzig die Evolutionstheorie. Doch sie ist leider nicht dazu fähig, die aktuelle Entwicklung des Menschen überhaupt als weitergehende, jetzt kulturelle Evolution zu erkennen, sondern sie ist ihrem Dogma der Gen-Zentriertheit verhaftet, in dem Kultur ebenfalls als Ergebnis der genetischen Evolution und so als genetisch verankert verstanden wird. Für mich ist die Evolutionsbiologie, wie es der Vorfall um Wilson zeigt, nicht reformierbar, sie lebt wie die Theologie in einer Blase ohne wirklichen Bezug zur aktuellen Entwicklung.

  25. Timm Grams sagt:

    Mehrfach wurde in diesem Diskussionsfaden Wilsons Aussage zur Verwandtschaftsselektion zitiert:

    Die schöne Theorie hat ohnehin nie gut funktioniert, aber jetzt ist sie in sich zusammengestürzt.

    Im Original (The Social Conquest of Earth 2022, S. 51):

    The foundations of the general theory of inclusive fitness based on the assumption of kin selection have crumbled, while evidence for it has grown equivocal at best. The beautiful theory never worked well anyway, and now it has collapsed.

    Diese Aussage kann man als Bericht über die Falsifizierung der „schönen Theorie“ lesen. Soweit ich sehen kann, hat Wilson eine solche Falsifizierung nicht veröffentlicht. Für mich ist dieser Satz Wilsons eine Einschätzung des Erfolgs seiner Bemühungen, die Theorie der inklusiven Fitness von dem Thron zu stoßen, auf den Dawkins sie gehievt hat. Der Satz ist nach meiner Einschätzung eine Übertreibung.

    Wir bleiben also beim Thema Kontrastbetonung. Diese Argumentationsweise gibt’s rechts und links außen.

  26. Bernd sagt:

    Das gesamte Buch ist die Veröffentlichung der Falsifizierung. Ob man den Sachverhalt dabei „Falsifizierung“ nennt oder „in sich zusammengestürzt“ oder wie im folgenden Zitat „gescheitert“, „nicht funktionierend“ oder „unbrauchbar“ ist doch irrelevant.

    „Das alte Paradigma der sozialen Evolution, das nach vier Jahrzehnten fast schon Heiligenstatus genießt, ist damit gescheitert. Seine Argumentation von der Verwandtenselektion als Prozess über Hamiltons Ungleichung als Bedingung für Kooperation bis zur Gesamtfitness als darwinschem Status der Koloniemitglieder funktioniert nicht. Wenn es bei Tieren überhaupt zur Verwandtenselektion kommt, dann nur bei einer schwachen Form der Selektion, die ausschließlich unter leicht verletzbaren Sonderbedingungen auftritt. Als Gegenstand einer allgemeinen Theorie ist die Gesamtfitness ein trügerisches mathematisches Konstrukt; unter keinen Umständen lässt es sich so fassen, dass es wirkliche biologische Bedeutung erhält. Auch für den Nachvollzug der Evolutionsdynamik genetisch bedingter sozialer Systeme ist es unbrauchbar“ (Wilson 2013, „Die soziale Eroberung der Erde“, S. 221 f).

  27. Bernd sagt:

    Ich denke die nachfolgende Darstellung der Entstehung und Widerlegung der Gesamtfitnesstheorie (Gesamtfitness gleich altbekannte genetische Darwin- oder direkte Fitness plus neue genetische Fitness der Verwandtenselektion) durch Wilson selbst in seinem Buch „Der Sinn des menschlichen Lebens” (2015) könnte hilfreich sein:

    „Anfangs fand ich die Theorie der Gesamtfitness, reduziert auf wenige Fälle der Verwandtenselektion, die sich vielleicht in der Natur untersuchen ließen, höchst verlockend. 1965, ein Jahr nach Hamiltons Fachartikel, verteidigte ich die Theorie bei einer Konferenz der Londoner Royal Entomological Society. Hamilton selbst saß an diesem Abend neben mir. In meinen beiden Büchern, mit denen ich die Disziplin der Soziobiologie begründete, The Insect Societies (1971) und Sociobiology: The New Synthesis (1975), diente mir die Verwandtenselektion als zentrales Argument für die genetische Begründung fortgeschrittenen Sozialverhaltens, und ihre Bedeutsamkeit stellte ich auf eine Ebene mit Kaste, Kommunikation und den anderen Hauptthemen der Soziobiologie. 1976 machte der wortgewandte Wissenschaftsjournalist Richard Dawkins den Gedanken mit seinem Bestseller Das egoistische Gen (dt. 1978) beim breiten Publikum bekannt. Bald fanden sich Verwandtenselektion und Varianten der Gesamtfitnesstheorie in Schulbüchern und Zeitungsartikeln über die soziale Evolution. Dreißig Jahre lang wurden allgemeine und abstrakte Erweiterungen der Theorie der Verwandtenselektion getestet, insbesondere an Ameisen und anderen sozialen Insekten, und scheinbar bestätigte sie sich in Untersuchungen über Rangordnungen, Konfliktverhalten und Geschlechtsinvestitionen.
    Um das Jahr 2000 hatten die Verwandtenselektion und ihre Erweiterung, die Gesamtfitness, den Stellenwert eines Dogmas erreicht. Fachautoren bekannten sich in ihren Artikeln reihenweise zu der Theorie, selbst wenn die Daten, um die es gerade ging, nur ganz entfernt damit zu tun hatten. Ganze akademische Karrieren bauten darauf auf, internationale Auszeichnungen wurden dafür vergeben.
    Und doch war die Gesamtfitnesstheorie nicht nur falsch, sondern grundlegend falsch. Im Rückblick zeigt sich, dass sich bereits in den Neunzigerjahren zwei fatale Risse aufgetan hatten, die allmählich immer weiter aufklafften.” (Wilson 2015, S. 74-75)
    […]
    „Warum kam es bei einem nach außen hin unzugänglichen Thema der theoretischen Biologie zu derart erbitterten Lagerkämpfen? Weil es sich um einen grundlegenden Zusammenhang handelt und weil schon außerordentlich viel in den Versuch investiert worden war, das Problem zu lösen. Allerdings sah die Gesamtfitness allmählich aus wie ein Kartenhaus. Zog man auch nur ein Element heraus, dann drohte das Ganze in sich zusammenzustürzen. Die Reputation stand auf dem Spiel. Ein Paradigmenwechsel lag in der Luft – eine Seltenheit in der Evolutionsbiologie.
    2010 wurde die Dominanz der Gesamtfitnesstheorie schließlich durchbrochen. Nachdem ich zehn Jahre lang in der kleinen, aber immer noch stummen Gruppe von Gegnern gekämpft hatte, tat ich mich mit zwei Harvard-Kollegen aus Mathematik und theoretischer Biologie zusammen, Martin Nowak und Corina Tarnita, um die Gesamtfitness von Kopf bis Fuß neu durchzurechnen. Nowak und Tarnita hatten unabhängig voneinander festgestellt, dass die Grundhypothesen der Gesamtfitnesstheorie anfechtbar waren, und ich hatte nachgewiesen, dass die Daten aus der Feldforschung, die die Theorie stützten, sich genauso gut oder sogar besser über die direkte natürliche Selektion erklären ließen – wie im oben erwähnten Fall der Geschlechterzuweisung bei Ameisen.
    Unsere gemeinsame Veröffentlichung erschien am 26. August 2010 als Titelgeschichte der renommierten Zeitschrift Nature. Da die Herausgeber natürlich von der Kontroverse wussten, waren sie mit ungewöhnlicher Vorsicht vorgegangen. Einer von ihnen, der mit dem Thema und der Form der mathematischen Analyse vertraut war, reiste eigens aus London nach Harvard zu einer außerordentlichen Besprechung mit Nowak, Tarnita und mir. Er gab ein positives Gutachten ab, woraufhin das Manuskript drei weiteren anonymen Experten zur Bewertung vorlag. Als es schließlich veröffentlicht wurde, kam es, wie wir erwartet hatten, zu einem vulkanartigen Ausbruch von Protestgeschrei – genau das, was Journalisten lieben. Nicht weniger als 137 Biologen, die sich in Forschung oder Lehre für die Gesamtfitnesstheorie einsetzten, unterzeichneten eine Protesterklärung, die im Folgejahr in Nature veröffentlicht wurde. Als ich 2012 in meinem Buch Die soziale Eroberung der Erde (dt. 2013) Teile meiner Argumente wiederholte, reagierte Richard Dawkins mit der leidenschaftlichen Empörung des wahren Gläubigen. In seiner Rezension für das britische Magazin Prospect riet er, einfach nicht zu lesen, was ich geschrieben hatte, sondern das ganze Buch wegzuwerfen, und das «mit kräftigem Schwung».
    Dabei hat seither niemand Nowaks und Tarnitas mathematische Analyse widerlegt, so wenig wie meine Argumentation, in der ich bei der Interpretation der Daten aus der Feldforschung der Standardtheorie den Vorzug vor der Gesamtfitnesstheorie gebe.” (Wilson 2015, S. 77-79)

  28. Mussi sagt:

    @ Bernd

    Sie müssen nur das Problem mit dem Geld-/Eigentumsystem lösen, dann haben Sie eine explosionshafte kulturelle Evolution!

    • Bernd sagt:

      Ich bevorzuge ein anderes „nur“, weil das an die Wurzel aller Probleme und Chancen geht: Ein Bewusstsein über unsere rein natürliche, evolutionäre Herkunft mit ihren Gesetzmäßigkeiten, besonders der unserer einzigartigen dichotomen oder „Chimären‘-Natur.

  29. John Solar sagt:

    Hier passt ja perfekt das jüngste Mailab Video dazu (ja, ich weiss, die hatt auch schon sauber daneben gelegen… )

    Sie legt aber sowas von die Populistischen Taktiken offen wirklich klasse:

    So werden wir von der Politik ver*rscht
    https://youtu.be/GtBnj3Z3eO4?si=CwclMeauBOSNzSP9

    –> Ich finde das klasse, weil nur über die geschärfte Aufmerksamkeit und Medienkompetenz fällt Mann weniger auf die „Gschichten aus dem Paulanergarten“ rein.

    Und niemand braucht meinen er könnte Sich den medialen Desinformationen/Misinformatonen/Propaganda immer und zu jeder Zeit entziehen…

    Nö nö, so einfach ist das nicht…

    • Timm Grams sagt:

      Das Mai-Thi-Video passt. Auch zur Grundmelodie des Hoppla!-Blogs.

    • Bernd sagt:

      „Ich finde das klasse, weil nur über die geschärfte Aufmerksamkeit und Medienkompetenz fällt Mann weniger auf die ‚Gschichten aus dem Paulanergarten’ rein.”

      Eine Aussage des Videos lautet: „Populismus arbeitet mit Gruppenidentitäten”. Da ist man schon bei Wilsons „Stammesdenken”. Doch das war es leider schon, denn die von Wilson vertretene Ansicht der „Chimären-Natur” des Menschen, nämlich dass wir von den Instinkten unseres animalischen Erbes „gesteuert” werden, insbesondere in der Gruppenauseinandersetzung und -selektion, davon ist wie heute fast überall, nicht die Rede. Der Populismus scheint, genau wie der Nationalsozialismus oder der massenhafte sexuelle Missbrauch von Kindern in der Kirche, irgendwie über manche Menschen gekommen zu sein, wahrscheinlich von einem Teufel oder so.

      Für mich sind es dagegen die Instinkte unseres animalischen Erbes, die hier als dichotome Natur des Menschen wirken. Die Evolutionsbiologie könnte diese eigentlichen Ursache aufdecken und so bestmöglich lösen. Doch leider ist sie selbst vom „Stammesdenken” betroffen und hängt mit ihrem gen-zentrierten Dogma vor allem weiter dem Irrtum (als „Gschichte aus dem Paulanergarten”) an, dass die Kultur des Menschen genetisch erworben und verankert ist – weswegen bei der altruistischen Hilfe stets der genetische Verwandtschaftsgrad berücksichtigt werden muss (selbst bei der Frage, ob man ein in den Fluss gefallenes Kind vor dem Ertrinken retten soll oder nicht).
      Der Populismus ist dementsprechend auch hier leicht zu finden, etwa als Dawkins Forderung, das revolutionäre Buch von Wilson gar nicht erst zu lesen, sondern es fortzuschleudern, und zwar mit Wucht (gleiches gilt für den Nature-Artikels von Nowak, Tarnita & Wilson, der bis heute nicht widerlegt wurde).

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