Federalist 10

Diejenigen, die entscheiden, sind nicht gewählt, und diejenigen, die gewählt werden, haben nichts zu entscheiden.
Horst Seehofer

Ist die Demokratie westlicher Prägung überlebensfähig? Woher kommen die selbstzerstörerischen Tendenzen? Wer den Antworten auf diese Fragen näher kommen will, geht am besten zu den Wurzeln.

Im Jahr 1787 schrieb James Madison (Präsident der USA von 1809 bis 1817) das Federalist-Papier Nummer 10.

Ihn bewegte das Problem, dass Güter und Einkommen in einer liberalen Demokratie zunehmend ungleich verteilt sind. Es entstehen Partikularinteressen, die einem einvernehmlichen Regierungshandeln entgegenstehen. Im Mittelpunkt steht die Frage, ob und inwieweit die Klüngelei mit dem Volkswillen vereinbar ist. Ich habe mir in den folgenden Zitierungen des Papiers erlaubt, das Wort „Faction“ mit „Klüngel“ zu übersetzen. Das trifft die Absicht des Autors besser als das üblicherweise eingesetzte Wort „Fraktion“. (Ansonsten war mir DeepL Übersetzungshilfe.)

Um den Ton zu setzen, beginne ich mit einem Absatz, der erst ganz am Schluss des Papiers zu finden ist:

Eine Sucht nach Papiergeld, nach Abschaffung der Schulden, nach gleicher Aufteilung des Eigentums oder nach irgendeinem anderen unangemessenen oder bösen Projekt wird weniger geeignet sein, den ganzen Körper der Union zu durchdringen, als ein einzelnes Mitglied davon; im gleichen Verhältnis, wie eine solche Krankheit eher geeignet ist, eine bestimmte Grafschaft oder einen Bezirk zu befallen, als einen ganzen Staat. (A rage for paper money…)

Reich regiert, Arm schafft

Die Ungleichverteilung von Vermögen und Einkommen ist Folge und Fluch des Liberalismus – so scheint es. Aber bereits für die Denker der Aufklärung war die Ungleichverteilung ein konstitutives Merkmal der liberalen Demokratie.

Madison schreibt:

Maßnahmen werden allzu oft nicht nach den Regeln der Gerechtigkeit und den Rechten der kleineren Partei entschieden, sondern durch die überlegene Kraft einer interessierten und anmaßenden Mehrheit (Measures are too often decided, not according to the rules of justice…)

Dagegen steht:

Die Regierung schützt die verschiedenen und ungleichen Fähigkeiten, Eigentum zu erwerben. Daraus ergibt sich unmittelbar der Besitz verschiedener Grade und Arten von Eigentum; und aus dem Einfluss dieser auf die Gefühle und Ansichten der jeweiligen Eigentümer ergibt sich eine Spaltung der Gesellschaft in verschiedene Interessen und Parteien. (From the protection of different and unequal faculties…)

Die Vermögens- und Einkommensungleichheit wird von den Befürwortern eines grenzenlosen Liberalismus beharrlich kleingeredet. Aber schon die Gründungsväter der modernen Demokratie wussten, dass genau diese von zentraler Bedeutung für das Gemeinwesen ist.

Madison:

Die häufigste und dauerhafteste Quelle für Klüngel war jedoch die unterschiedliche und ungleiche Verteilung des Eigentums. Diejenigen, die Eigentum haben, und diejenigen, die kein Eigentum haben, haben immer unterschiedliche Interessen in der Gesellschaft gebildet. Diejenigen, die Gläubiger sind, und diejenigen, die Schuldner sind, fallen unter eine ähnliche Unterscheidung. Ein Grundbesitzinteresse, ein Produktionsinteresse, ein Handelsinteresse, ein Geldinteresse und viele geringere Interessen entstehen notwendigerweise in zivilisierten Nationen und unterteilen sie in verschiedene Klassen, die von unterschiedlichen Gefühlen und Ansichten geleitet werden. Die Regulierung dieser verschiedenen und sich überschneidenden Interessen bildet die Hauptaufgabe der modernen Gesetzgebung und bezieht den Geist der Partei und der Fraktion in die notwendigen und gewöhnlichen Operationen der Regierung ein. (The most common and durable source…)

Sündenböcke

James Madison streicht die Vorzüge einer repräsentativen Demokratie gegenüber der direkten Demokratie heraus. Es seien

erstens die Übertragung der Regierungsgewalt an eine kleine Anzahl von Bürgern, die von den übrigen gewählt werden; zweitens die größere Anzahl von Bürgern und die größere Fläche des Landes, über die sich die Republik erstrecken kann.
Die Wirkung […] besteht einerseits darin, die öffentlichen Ansichten zu verfeinern und zu erweitern, indem sie durch ein ausgewähltes Gremium von Bürgern vermittelt werden, deren Weisheit das wahre Interesse ihres Landes am besten erkennen kann und deren Patriotismus und Gerechtigkeitsliebe am wenigsten dazu neigen, es vorübergehenden oder partiellen Erwägungen zu opfern. (The two great points of difference between a democracy and a republic are…)

Entscheidungen und die Kontrolle der Regierung werden bei der repräsentativen Demokratie nicht unmittelbar vom Volk, sondern von einer Volksvertretung ausgeübt. Das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland ist in diesem Sinne repräsentativ. Die Lobby des Parlaments ist Namensgeber für die Lobbyisten. Parlamentarismus und Lobbyismus sorgen dafür, dass die Wenigen, die etwas zu sagen haben, im Dunkeln bleiben und kaum zur Verantwortung gezogen werden können. Das Parlament hebt so seine Kontrollfunktion auf. Die Politiker dienen bestenfalls als Sündenböcke.

Wir neigen dazu, an allem was schief läuft, dem Politiker die Schuld zu geben. Ein Beispiel aus heutigen Tagen. Solange ich denken kann, lautet die Parole: Vorrang der Bahn gegenüber dem Straßenverkehr. Was aber ist bisher passiert: Die Bahn wurde kaputt gespart. Die Verkehrsminister geben dem die Namen.

Matthias Wissmann, in diesem Amt von 1993 bis 1998, ist bekannt vor allem wegen seiner Lobbyarbeit für die Automobilindustrie. Auch die CSU-Minister Peter Ramsauer, Alexander Dobrindt und Andi Scheuer waren für die bayerische Automobilindustrie verdienstvoll tätig. Von der Lobbyarbeit des momentanen Verkehrsministers Volker Wissing hatten wir es schon.

Die Systemfrage

Es stellt sich die Systemfrage: Ist die Demokratie westlicher Prägung zum Scheitern verurteilt und muss sie durch etwas Neues ersetzt werden?

Beim Blick in die Vergangenheit sehen wir als Alternativen den Kommunismus und den Faschismus, beide mit Millionen von menschlichen Opfern verbunden und offensichtlich gescheitert. Im Osten haben wir das Einparteiensystem Chinas und weltweit noch ein paar hässliche Diktaturen – auch nicht verlockend.

Ich bevorzuge die Weiterentwicklung unseres Systems. Eine solche Weiterentwicklung hat bereits stattgefunden, indem europäische Länder den weitgehend unbegrenzten Liberalismus der USA-Verfassung nicht eins zu eins übernommen, sondern durch progressive Elemente überformt haben.

In den westeuropäischen Ländern ist ein progressiver Liberalismus vorherrschend. Der Maastricht-Vertrag vom 7.2.1992 definiert in Artikel 3 den europäischen Binnenmarkt als soziale Marktwirtschaft.

In den USA gilt für die Risikovermeidung das Nachsorgeprinzip (Scientific Principle) und in Europa das Vorsorgeprinzip (Prudent Avoidance Principle). Die Tauchgänge zum Wrack der Titanic ohne vorherige Kontrolle des Vorhabens durch unabhängige Prüfstellen hätte es nach europäischem Recht wohl nicht gegeben. Das U-Boot Titan implodierte am 18.6.2023, dabei kamen fünf Menschen ums Leben. Der Liberalismus ist fortschrittsfreundlich und riskant!

Vorstellbar ist, dass die Globalisierung durch weitgehende Regionalisierung zurückgedrängt wird. Das Netz der Verflechtungen würde so überschaubarer. Auch der Grundsatz Small is Beautiful könnte im Rahmen unseres Regierungsystems Fortschritte bringen. Größere Transparenz des parlamentarischen Betriebs, wie sie von den Vereinen LobbyControl und Abgeordnetenwatch vorangetrieben wird, sorgt ebenfalls für mehr Demokratie.

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3 Antworten zu Federalist 10

  1. Mussi sagt:

    In den 2000’ern wurde die Öffentliche Verwaltung auf das New Public Management umgestellt. Damit wurde jeder Bereich des Lebens auf Umsatz und Gewinn getrimmt.
    In Paarung mit pursuit of happiness und freier Entfaltung der Persönlichkeit wird damit Produktivität,Effizienz und Selbstoptimierung angeheizt mit permanentem Druck der Erneuerung und Veränderung.
    Eigentum ist da lediglich Produktionsmittel.
    Im Kern ist es deshalb die Bilanz und der Zins zur Umsatzsteigerung, die systemimmanent sind.
    Die Bilanz von Energiegewinn und – verlust spiegelt sich in der kaufmännischen Bilanz wider.
    Lösen wir diese Deckung nicht auf,wird der auch der politische Liberalismus gegenüber der Ökologie nicht überleben.

  2. Timm Grams sagt:

    @ Mussi

    New Public Management ist schon aus den 1980er Jahren und verbunden mit den Namen Margaret Thatcher und Ronald Reagan. Meine Erfahrungen mit dem Thatcherismus machte ich bei einer Wanderung mit meinem Sohn in Nordengland Mitte der 90er Jahre: Wir mussten, um ein paar Kilometer zur Küste zu kommen, drei- oder viermal die damals privatisierten Buslinien wechseln und jedesmal Fahrscheine neu lösen.

    Schlimmer noch fand ich die Ökonomisierung des Bildungswesens, sichtbar in den Aktivitäten des CHE, Centrum für Hochschulentwicklung  der Bertelsmann Stiftung, und dem Bologna-Prozess. Das Hochschulranking ist ein sichtbares Zeichen dieser Fehlentwicklung.

    Lassen wir uns nicht ein X für ein U vormachen.

  3. Mussi sagt:

    @ Grams

    Da haben Sie in theoretischer Perspektive natürlich Recht. Ursprünglich ist es der Neoliberalismus der 30’er, der dann seinen Weg gefunden hat.
    Anfang der 90’er kam ich aus der Finanzdienstleistung und begann das Studium der Verwaltungswissenschaften.
    Ich habe es abbrechen lassen, weil es auch hier nur um die Förderung der shareholder ging. Mittlerweile stehen die stakeholder im Focus. Aber auch damit kommt man aus dieser Dichotomie nicht heraus.

    Ich meine,es war im letzten Jahr und ich weiss nicht mehr, welcher Kommentator erstklassig das „Unterlassen“ als Komplementär zum Unternehmen entworfen hat.
    Aber im jetzigen System sind wir zum Unternehmen gezwungen. Was den Verbrauch der Ressourcen und des Wachstums betrifft fatal.
    Und damit führt sich auch der politische Liberalismus ad absurdum.

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