Chaos wird zur Regel

Den Schrotthaufen Internet fand ich bisher ganz lustig. Es gelang mir, Abstand zu halten. Seit der 100-Tage-Rede von Donald Trump in Michigan am 29.4.25 wird mir aber angst und bang. Ich bekomme das Gefühl, in eine Jauchegrube hineingezogen zu werden.

Oh ja. Propaganda gibt es schon lange. Sie wurde in den USA verfeinert und zur öffentlichen Sache gemacht. Der Aufgeweckte lernte, sie zu durchschauen. Was neu ist: Das Rabaukentum des Internets. Es prägt inzwischen die gesamte Nachrichtenwelt.

Wir schauen das an und fragen dann, wie wir uns helfen können. Beginnen wir mit dem allgegenwärtigen Bullshit.

Bullshit

Mit dem Buch gleichen Titels habe ich mich im Artikel Kontrastbetonung beschäftigt und bin dabei auf ein Paradoxon gestoßen: Für den Autor Harry Frankfurt  existiert eine objektive Realität, derzufolge man die Wahrheit erkennen und folglich Bullshit entlarven kann. Für mich ist das Bullshit.

Wir befinden uns in der Lage des Barons von Münchhausen, der sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zieht. Freilich geht das nicht. Möglicherweise liegen aber ein paar mehr oder weniger brüchige Ästchen herum, die etwas Halt bieten.

Beutelschneiderei

Wer sich unvorsichtig im Internet bewegt, der wird sehr schnell zugemüllt. Vieles davon ist einfach nur trostlos, anderes nur langweilig, da ist der sensationell aufgemachte Flachkram. Auch die raffinierten Beutelschneider sind im Internet unterwegs. Ein Freund fragt mich: Was sagst du dazu? Er verweist auf ein Video mit dem Titel »Skandal in der Sendung: Gregor Gysi entlarvt Alice Weidels Geheimnis in Sandra Maischbergers Sendung.« Ich schaue mir das ganze ein paar Sekunden lang an. Spätestens bei diesem Satz ist meinen Argwohn geweckt:

Gregor Gysi, der bekannte Linkspolitiker und Meister der scharfen Zunge, drückte AfD-Chefin Alice Weidel an die Wand. Live im Fernsehen zwang er sie, das Geheimnis ihres finanziellen Erfolgs zu lüften.

Welcher Unbekannte will mich hier reich machen? Die Internetadresse des Beitrags ist jedenfalls nicht ARD 1 und Maischberger hatte nie Weidel und Gysi zugleich im Studio.

Derartige Bauernfängerei ist plump und ziemlich leicht zu durchschauen, dennoch richtet sie – so wird berichtet – großen Schaden an.

Chaotisierung

Unsere Demokratie basiert auf der Illusion, dass wir alle fähig sind, politische Konzeptionen zu verstehen und zu beurteilen.


Zur Zeit des Perikles war das eine Angelegenheit der oberen gesellschaftlichen Schicht. Die Psychologie der Massen und die Propaganda waren noch zwei Jahrtausende hin. Der moderne Politiker lügt und schwadroniert, was das Zeug hält. Volkes Meinung ist knetbar.

Der neueste Knaller: Donald Trump ist nach Michigan (29.4.25) gekommen, um sich selbst zu feiern und feiern zu lassen für die seiner Ansicht nach erfolgreichsten ersten 100 Tage einer Regierung in der Geschichte der USA (in Minute 25:32 der Rede). Dabei hat er die schlechtesten Umfragewerte eines Präsidenten nach 100 Tagen im Amt seit Eisenhower.

Der amerikanische Präsident hat sich an ein Wort seines ehemaligen Beraters Steve Bannon gehalten: Flood the zone with shit. In dem so entstehenden Chaos ist der Dealmaker dem Regelbeflissenen überlegen. Dealmaking gehört zum Berufsbild eines Immobilienunternehmers wie Donald Trump.

Auch die Gegenseite ist unermüdlich dabei, Gülle ins Internet zu kippen. Der von einem zweifelhaften Kanal (Dean Blundell Show) als „Counterinsurgency Expert“ apostrophierte Jim Stewartson schreibt auf X:

Elon Musk is not just a »Nazi«. Elon Musk’s psychology is comparable to neo-Nazi mass murderers Anders Breivik, Brenton Tarrant, Patrick Crusius and Dylan Roof. He is a mentally ill, emotionally broken teenage boy committing mass violence in order to make the world safe for white people.

Jim Stewartson ist eigentlich nur auf X präsent – als »Antifascist«. Für die Unterstellungen finden sich keine Belege in seinem Text. Auch die schlussendliche Beteuerung hat keinerlei Beweiskraft:

Elon is not just a »Nazi«. As someone who has studied him for years, I promise you, if we let him, he will kill more people than the original did.

Jim Stewartson nutzt die typischen Techniken der Manipulatoren. Wer solche Internet-Texte ungeprüft und unkommentiert weiterleitet, macht genau das, was wir Trump und Konsorten vorwerfen.

Orientierung im Chaos

Wie kann es gelingen, in diesem Wirbel den Kopf oben zu behalten? Ungezielt im Internet Herumsurfen kann derjenige unbeschadet überstehen, der davon ausgeht, dass fast alles, was ihm dabei begegnet, wertlos, irreführend, glatte Lüge oder gar Betrug ist.

Aber es ist auch möglich, aus dem Internet großen Gewinn zu ziehen. Dabei sollte man sich langsam vortasten und vertrauenswürdige Ankerplätze identifizieren, zusätzlich zu denen der Presse.

Jede überraschende Meldung wird der Vorsichtige auf Plausibilität und Herkunft prüfen. Jedenfalls wird er sie erst dann weiterleiten, wenn er von ihrer Unbedenklichkeit überzeugt ist.

Auch der Vorsichtige kann hereinfallen. Der Spiegel – einer meiner Ankerplätze – brachte 2018 eine fesselnde Reportage über Bürgerwehren und Flüchtlingstrecks an der Grenze zwischen den USA und Mexiko, geschrieben von Claas Relotius. Auch ich bin seinerzeit auf diese Reportage hereingefallen, habe sie glücklicherweise aber nie zitiert oder weiterverbreitet. Wie der Spiegel mit dieser Affäre umgegangen ist, hat mein Vertrauen in diesen Ankerplatz wiederhergestellt.

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