Mario Draghi, Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), will keine Zweifel an der Handlungsfähigkeit der Währungshüter und am Erfolg der bisherigen Strategie aufkommen lassen. In Draghis Rede vom vergangenen Montag klingt das so: „Die Wirtschaftslage im Euroraum ist nach wie vor schwierig, aber Anzeichen einer möglichen Stabilisierung sind zu erkennen.“
Wer sind die Adressaten dieses Satzes? Es sind die Akteure der Finanzmärkte, die Wertpapierhändler und Börsengurus. Diese Leute sind bekannt dafür, dass sie ihrem Bauchgefühl höchste Treffsicherheit zutrauen (System der Denkfallen). Und auf diese Intuition und die Tendenz zur Selbstüberschätzung (Overconfidence) setzt Draghi. Seine Verlautbarungen verleiten dazu, darin genau das zu hören, was ein jeder hören will. So auch diesmal: Es läuft gut und alles ist in Butter. Wir sind erleichtert und verschieben die Panik.
Draghi hat zwar kein Problem gelöst, aber eine kurzfristige Marktberuhigung hat er wohl erreicht.
Suspendieren wir einmal das schnelle Denken. Schauen wir uns Draghis Äußerung genauer an: Eine Rettung ist zwar nicht in Sicht, jedoch eine Stabilisierung. Und die ist auch nicht so sicher. Wenigstens lassen sich Anzeichen einer Möglichkeit dafür erkennen.
Rational, also in Ruhe und aus der Weitwinkelperspektive betrachtet lässt Draghis Verlautbarung mehrere Deutungen zu:
- Es läuft gut
- Es wird schon irgendwie klappen
- Schlimm sieht es aus
- Wir haben die Sache in den Sand gesetzt
- Die Katastrophe ist nahe
Also: „Alles klar auf der Andrea Doria?“
Wahrsager-Schule
Kürzlich habe ich ein Büchlein gekauft und begonnen, darin zu lesen: „Paranormalität. Warum wir Dinge sehen, die es nicht gibt“. Darin verrät Richard Wiseman die Tricks der Wahrsager. Auch für den Alltagsgebrauch sind sie tauglich.
Willst du als einer gelten, der die Zukunft kennt und weiß „wie der Hase läuft“, dann beherzige ein paar einfachen Regeln aus der angewandten Psychologie. Ich bringe hier nur die drei wichtigsten: Sage, was die Leute hören wollen („Atomkraft ist sicher“). Fällt dir das mangels guter Nachrichten und lästiger Skrupel wegen schwer, drücke dich mehrdeutig und vage aus („es gibt Anzeichen für“, „ich gehe davon aus, dass“). Dein Publikum wird zufrieden sein. Jeder hört nämlich genau das heraus, was er glaubt oder was er glauben will. Und schließlich: Überlasse es den Adressaten, tieferen Sinn in deine Worte zu legen. Denn das können wir Menschen ziemlich gut: Bedeutung schaffen. Dafür sorgen schon die Sinnsuche des Wahrnehmungsapparats und die Prägnanztendenz.
Wahrsager von Rang: Notenbankpräsidenten
Wer Notenbankpräsident werden will, muss ein Meister der angewandten Psychologie sein. Von Draghi gibt es weitere Zeugnisse seiner Begabung. Mit der Ankündigung „Innerhalb unseres Mandats ist die EZB bereit alles Erforderliche zu tun, um den Euro zu erhalten“ löste er am 26. Juli des vergangenen Jahres einen Anstieg der Kurse für Aktien und Anleihen aus, ganz wie gewünscht. Leider war es schon nach einer Woche vorbei mit der guten Laune; Draghis Rettungsaktionen fielen magerer aus als erwartet („Dünne Bertha“, Der Spiegel 32/2012, S. 80-84).
Auch der frühere amerikanische Notenbankpräsident Alan Greenspan war bekannt für seine kryptischen und interpretierbaren Verlautbarungen. Er ließ uns sogar in seine Trickkiste blicken: „Ich weiß, dass Sie glauben, Sie wüssten, was ich Ihrer Ansicht nach gesagt habe. Aber ich bin nicht sicher, ob Ihnen klar ist, dass das, was Sie gehört haben, nicht das ist, was ich meinte.“