Den Jubelmeldungen über die neu eingeführten iPad-Klassen an Schulen bin ich seinerzeit mit Misstrauen begegnet. Insbesondere die fehlende Kontrolle des Lernerfolgs erweckte meinen Argwohn (iPad-Klassen: unkontrollierte Experimente an jungen Menschen).
Für mich gehören der Computer und dessen Einsatz in Lehrveranstaltungen zum beruflichen Alltag. Es geht hier also nicht um eine pauschale Verurteilung von neuen Medien im Unterricht. Will man etwas über den pädagogischen Nutzen des Computers im Unterricht erfahren, muss man verschiedene Aspekte beleuchten. Das betrifft wenigstens die folgenden Felder:
- Technische Hilfsmittel: Lese-, Schreib-, Kommunikationswerkzeuge im ansonsten weitgehend traditionellen Unterricht, Herausbildung von Computer- und Medienkompetenz. Computergestütztes Arbeiten: Analyse-, Simulations- und Konstruktionswerkzeuge.
- Arbeitsverhalten: Individualisierung des Lernens, mobiles Lernen, neue Kommunikationsformen, Wandel im Miteinander und im Unterrichtsstil.
- Computergestütztes Lernen: eLearning, Edutainment
- Gefahren: Suchtverhalten.
Über ein Jahr nach dem ersten Bericht über das „Leuchtturm-Projekt“ liegt nun ein weiterer vor: „iPad-Klassen-Projekt wird weiter ausgebaut“ (Fuldaer Zeitung, 23.12.2014, S. 15) und „Großer Schritt in Richtung Schule 2.0“ (Osthessen News, 11.12.2014).
Als Erfolg wird hervorgehoben, dass der „Webauftritt der iPad-Klasse“ im „Google-Ranking […] eine Top-Platzierung erzielt“ habe. Das nenne ich Evaluation 2.0. Ein Logo und eine „Corporate Identity“ habe man inzwischen auch. Es ist, als gälte es Brühwürstchen zu verkaufen. Der Bildungsauftrag gerät zur Nebensache. Viel besser kann man meine vor Jahren geäußerten Befürchtungen eigentlich nicht illustrieren: „Oberflächenkompetenz und Konsumverhalten. Trends im Bildungswesen – eine kritische Betrachtung“ (THEMA Hochschule Fulda 2/2006, S. 4-6).
Die bereits vor über einem Jahr angekündigte seriöse Begleitstudie zum iPad-Klassen-Projekt hat wohl noch keine Ergebnisse erbracht. Jedenfalls ist davon nichts zu vernehmen. Ich verbleibe in gespannter Erwartung.
Bei sorgfältig erwogenem Einsatz sind mit dem Computer sicherlich gute Lernerfolge zu erzielen. Zur Debatte stehen vor allem die Punkte Hilfsmittel und Arbeitsverhalten. Aber zweifellos kann man auch einiges falsch machen. Hinsichtlich des Computeruntstützten Lernens (eLearning und Edutainment) ist die allgemeine Ernüchterung heute bereits ziemlich groß und zum Suchtverhalten gibt es schon seit Jahren Warnungen von berufenen Leuten.
Hier interessiert besonders die Frage, inwieweit das Lernen von Mathematik durch den frühen Einsatz von computergestützten Werkzeugen in der Schule gefördert oder gar behindert wird. Ich denke da an Dynamische-Geometrie-Software (DGS) und an Computer-Algebra-Systeme (CAS).
Dass es sich um ein brennend aktuelles Problem handelt, wird mir ständig vor Augen geführt: Viele meiner Studenten gehen mathematische Herausforderungen eher lustlos an. Ich empfinde sie als trostlose Gestalten, denen offenbar nie das Glücksgefühl zuteil wurde, das sich mit der selbst vollbrachten Lösung eines schweren mathematischen Problems einstellt. Möglicherweise wurde ihnen die Freude an der Mathematik auch durch den Computer verdorben. Was ich damit meine, habe ich in der Ministudie Erfolgserlebnisse beim Lernen und deren Verhinderung mittels Computer zum Ausdruck gebracht.
Ähnliche Erfahrungen und Erkenntnisse liegen in der Mathematikdidaktik vor. Das in der Fachwelt verfügbare Wissen geht weit über meine eher anekdotische Beweisführung hinaus. Aufschlussreich ist der Aufsatz „Zum Einfluss der Informatik auf die Mathematikdidaktik. Weiterhin nur Computereinsatz und noch immer keine Medienbildung?“ von Horst Hischer.
Die Begleitstudie zum iPad-Klassen-Projekt sollte sich dieses Themas annehmen. Es hat auch mit der Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft zu tun.
Die Begeisterung über die frühe Einführung technischer Hilfsmittel in der Schule ist oft verfehlt. Das beste Beispiel ist der Taschenrechner. Die Taschenrechner haben bei den Schülern jegliches Zahlenverständnis kaputt gemacht. Viele Schüler wissen nur mit Hilfe eines Taschenrechners, ob 2/3 größer eins ist oder nicht. Hamburg z.B. hat das jetzt gemerkt. Deshalb gibt es jetzt bei den Abschlüssen der 9. bzw. 10. Klassen und beim Abitur einen „hilfsmittelfreien“ Prüfungsteil. Dadurch sind auch die Lehrer gezwungen, die Kinder auch ohne Rechner arbeiten zu lassen.
Entsprechend ist es sicher auch bei den höheren Möglichkeiten eines iPad. Es kommt sehr darauf an, wie das eingesetzt wird, und immer besteht die Gefahr, dass die Kinder ohne Maschine gar nichts können und verstehen. Man muss auch bedenken, dass hinter der Einführung solcher Geräte immer auch große wirtschaftliche Interessen stehen.
Sie haben völlig recht, wenn Sie eine echte Überprüfung wünschen, was solche technisierten Klassen wirklich besser können und was schlechter als andere Klassen.
Hort Hischer schreibt in GDM-Mitteilungen 95/2013:
„Eher scheint das mühsame Sammeln händischer Erfahrungen für den Erwerb von Fertigkeiten als einem erwerbbaren Vermögen wesentlich zu sein für die Fähigkeit zum Erkennen struktureller Zusammenhänge und für einen „verständigen“ Softwareeinsatz.“
1. Prozedurales Wissen (‚Wie mache ich Feuer?‘) ist viel wertvoller als deklaratives Wissen („Wie heiß brennt eine Kerze?“).
2. Prozedurales Wissen wird von unserem Gehirn um ein Vielfaches aufwändiger repräsentiert als Faktenwissen.
3. Prozedurales Wissen bleibt ein Leben lang verfügbar („Auto fahren“).
4. Das prozedurale Lernen wird um ein Vielfaches stärker belohnt („Jubel über den Torschuss“) als jedes Faktenlernen.
5. Das prozedurale Wissen ist ein Problemlösungswissen.
Unsere Kinder fragen heute bei jeder Aufgabenstellung zurück. Die Eltern wünschen sich, dass ihre Kinder selbständig werden und lernen, supportfrei Probleme zu lösen. Das gelingt ihnen immer weniger in einer Blase aus virtuellen Fakten.
Wenn die Schüler heute kaum noch prozedurales Wissen erwerben („Wie kann ich lernen, eine Wand zu verputzen?“) oder das vermeintliche Defizit durch Clicks („Wie clicke ich den richtigen Icon?“) beseitigt wird, braucht sich niemand über ihr Verhalten zu wundern: Dass sie selbst keine Orientierung aus dem gewinnen können, was sie gelernt haben und eben dieses Wissen samt der Maßnahmen, die zum Erwerb notwendig waren für sinnlos erachten und ihre Meinung in einem Satz kundtun: „Keinen Bock!“
Aus Grams: Erfolgserlebnisse.pdf:
„Dieses Erlebnis erinnert mich an Asterix-Comics: Über die Dynamik, die in den statischen Bildern zum Ausdruck kommt, muss man einfach lachen. Als ich einmal einen solchen Comic als Zeichentrickfilm sah, war ich sehr enttäuscht: Alle Bewegungen wurden wahr und witzlos – ja: trivial.
Ich fürchte, dass dem Mathematikunterricht eine Trivialisierung mit Computerhilfe auf Dauer nicht bekommt. Zu den Denkfähigkeiten gehört eben auch, dass wir Bilder im Kopf in Bewegung versetzen können. Und genau das wäre im Geometrieunterricht zu üben.“
Das große Risiko des Computereinsatzes besteht darin, dass wir den Kindern beibringen, wie der dumme Computer funktioniert und dabei vergessen zu lehren wie ihr „eigener Computer“ funktioniert. So könnten sie nämlich nicht mehr lernen und nicht erfahren, wie das menschliche Gehirn Probleme löst. Die Kinder können nicht beides erlernen,
• wie man den Computer gezielt nutzt und
• wie man Probleme löst,
und gewiss nicht beides auf einmal. Den Zweck und die Vorteile des Computereinsatzes lässt sich nicht erkennen, wenn grundsätzlich alles damit erledigt wird, und häufig so, dass die Problemstellung unverstanden entsorgt wird.
Dadurch werden die Kinder zu Sklaven der Maschinen erzogen, die, noch bevor sie auf ein voll ausgebildetes Denkzentrum zur Erfassung und Beschreibung von Problemstellungen zugreifen können, schon erlernen sollen, wie man Maschinen zu „bedienen“ hat. Dass sie folglich nicht wissen können, wie man Probleme selbständig löst, wäre schon dadurch begründet, dass sie nicht lernen konnten, dass es Probleme überhaupt gibt. Was einem Computer zur Erledigung übertragen werden kann, das sind Aufgaben, wohlstrukturiert beschrieben, die in bereits vorgegebenen Schritten erledigt werden.
Frustration und fehlende Motivation in der Schule sind auch eine Folge davon, dass man den Schülern keine echten Herausforderungen gibt sowie jedes Risiko für schlechte Bewertungen und Versagen ausschließt. Dadurch fehlt den Schülern regelmäßig die Freude am Problemlösen und Lernen und sie quälen sich nur durch eine öde Zeit. Es verwundert nicht, dass Anspruch, Qualität und Einsatz zunehmend verloren gehen – nicht nur in der Schule.
https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Gruendergeist-an-Schulen-Fehlanzeige.html
Ein Großteil der Lehrer würde seinen Schülern von einer Gründung abraten. Selbst IT-Grundkenntnisse halten nicht alle für notwendig. „Eine Start-up-Kultur hängt nicht nur von Lehrplänen ab, die Lehrer müssen diese auch engagiert vermitteln. Daran hapert es derzeit ganz offensichtlich. Zudem fehle es an Schulen an Vorbildern aus der Start-up-Szene.“
Um etwas auf die Beine zu stellen, braucht man was?
Man braucht prozedurales Know-How.
Wie kommt man an das heran?
Durch prozedurales Lernen.
Das prozedurale Lernen sorgt für Vielfach-Feedback:
(a) Die positive persönliche Erfahrung belegt das ureigene Können
(nicht etwa das Nachplappern, nicht das Nachmachen und nicht
das So-machen-damit es-dem-Lehrer-gefällt-Handeln).
(b) Die endogene Belohnung (Endokrinologie des Glücks) bestätigt den Erfolg als selbsterreicht und spornt uns nachhaltig an.
(c) Das erlernte Können bleibt uns dauerhaft erhalten und kann immer wieder genutzt werden.
Wie es scheint, wissen heute viele Abiturienten nicht, wozu sie imstande sind.