Die Welt bringt am 28.05.15 eine aufsehenerregende Meldung über den 50. „Jugend forscht“-Bundeswettbewerb: „Niedersächsin behandelt Bienen homöopathisch.“ Wenn es Bienen schlecht gehe, könne man es auch mal mit Homöopathie versuchen, meint die Jungforscherin. Sie hat drei von Varroamilben geplagte Völker ein Jahr lang mit einem homöopathischen Präparat behandelt. Aus den Stöcken seien vergleichsweise deutlich weniger tote Milben gefallen als aus Bienenstöcken, deren Bevölkerungen nur Zuckerwasser bekommen haben. „Es scheint zu funktionieren“, sagt die 18-Jährige über ihr Projekt.
Dieses Resultat ist weniger spektakulär als die Tatsache, dass es die Jungforscherin bis ins Finale des 50. Bundeswettbewerbs von „Jugend forscht“ geschafft hat. Bereits 2009 hatte es einen Preis für alternative Heilmethoden in neuer Anwendung gegeben: „Akupunktur bei Pflanzen“. In der Projektmitteilung von „Jugend forscht“ heißt es: „Bei Mensch und Tier erzielt die Akupunktur Heilerfolge. Energieströme sollen durch sie geleitet, umgeleitet und geöffnet werden.“ An den Naturwissenschaften sind diese Erkenntnisse weitgehend spurlos vorübergegangen.
An der Forschung zur Homöopathie und zur Akupunktur ist zunächst einmal nichts auszusetzen – selbst wenn die Themen im Grunde ausgelutscht sind. Die allgemein zugängliche und deutliche Beweislage besagt, dass die Erfolgsaussichten, wirklich neue Einsichten auf diesen Gebieten zu gewinnen, außerordentlich niedrig sind. Wenn überhaupt, hat nur derjenige eine Chance auf neue Ergebnisse, der über ein umfangreiches und tiefgehendes Fachwissen verfügt, der Versuche professionell planen und durchführen kann und dem dafür die erforderlichen Ressourcen in materieller und personeller Hinsicht zur Verfügung stehen. Jedenfalls scheint es von vornherein aussichtslos zu sein, sich einer solchen Sache als Jungforscher zu nähern.
War denn da kein Lehrer, der die angehenden Jungforscher gewarnt hat? Haben die Eltern versäumt, sie vor nutzlosem Treiben zu bewahren? Hat ihnen niemand gesagt, dass Studien mit sehr kleinen Stichproben keinerlei wissenschaftlich bedeutende Ergebnisse erbringen können? Oder geht es hier nur um Werbebotschaften?
Damit bin ich bei meinem Thema, nämlich bei den zwei Trends in der Bildung, die ich für bedauerlich halte: Oberflächenkompetenz und Tiefenscheinwissen.
Oberflächenkompetenz
Michael Berger ruft im aktuellen Journal des Fachbereichstags für Elektrotechnik und Informationstechnik zu mehr Bildung auf: „Die Fachhochschulen haben sich lange vor der Bologna-Reform von der Vermittlung von Rezeptwissen – zu wissen wie, aber nicht warum – verabschiedet[…] Der Abschied vom Rezept war sicher kein Fehler.“ Berger meint ferner, dass sich die Schüler (sozusagen befreit vom Rezeptwissen) auf das lnternet im Smartphone oder Tablet verließen. Unter Zugrundelegung wissenschaftlicher Maßstäbe könne man diese Art der lnformationsgewinnung nur als unzureichend und oberflächlich bezeichnen.
Mit dem allgemeinen Trend zur Oberflächlichkeit geht das sinkende Interesse von Schülern einher, einen Ingenieurstudiengang zu beginnen. Das folgende Vorkommnis an einer höheren Schule markiert so etwas wie den Endpunkt der Entwicklung. Ein Schüler weigert sich, die Integralrechnung zu lernen. Seine Begründung: „Auf meinem Taschenrechner gibt es das Integralzeichen.“
Der freudvolle Umgang mit Problemen aller Art – mathematischen, technischen oder auch alltagspraktischen – geht verloren. Wer jegliche Anstrengung vermeidet, wird niemals die Freude empfinden können, die mit einem selbst gelösten Problem einhergeht. Und er kann auch nicht den damit verbundenen tiefen Lerneffekt erfahren.
Die lebenserhaltende Fähigkeit der Stressbewältigung bleibt auf der Strecke (Hüther, 2005). Stattdessen wird Stressvermeidung geübt. Es bleibt bei einer Arbeit an der Oberfläche und dem damit verbundenen bescheidenen Lustgewinn. Es entsteht eine Art Oberflächenkompetenz, eine Kompetenz, die nicht auf einer aktiven Durchdringung des Gegenstands beruht. Die Kritikfähigkeit bekommt keine Entwicklungschance. Mehr darüber in „Oberflächenkompetenz und Konsumverhalten“ (2006).
Tiefenscheinwissen
Michael Berger schreibt weiter: „Ein zweiter Trend besteht in einer gewissen Selbstzufriedenheit mit dem eigenen Wissen. Die Studierenden glauben zum Teil schon in jungen Jahren, Wichtiges von Unwichtigem für ihre Zukunft und ihr Berufsleben unterscheiden zu können.“
Als ich einen meiner Studenten auf Mängel in seinem Computerprogramm hinwies, meinte er, dass sein Programm ausgereift sei. Oberflächliches Wissen geht mit Selbstgewissheit einher. Wer wenig weiß, kann sich seiner Sache ziemlich sicher sein.
Demgegenüber ist Wissenschaft durch Unsicherheit geprägt. Mit jeder Antwort auf eine Frage tun sich neue Fragen auf. Wissenschaftler zeichnen sich dadurch aus, dass sie mit solchen Unsicherheiten leben können.
Beim vordringenden Zeitgeist der Bequemlichkeit kommt diese Haltung aus der Mode. Das Selbstbild lässt sich auch mit einfachen Antworten auf schwierige Fragen vorteilhaft gestalten.
Darum geht es: Anstrengungslos Experte werden und Gewissheit erlangen. Da bieten sich Scheinerklärungen an. Bei der Akupunktur sind es irgendwelche okkulten „Energieströme“ und die Homöopathie beruht auf dem „geistartigen Wesen“ von Arzneisubstanzen. Das sind anstrengungslose Begründungen, die zur Beruhigung der Gemüter beitragen. Es ist metaphysisches Gedankengut, unüberprüfbares „Wissen“ über tiefer Liegendes; es sind einfache Antworten, die dem Fragen ein Ende machen. Das nenne ich Tiefenscheinwissen.
Metaphyisches Gedankengut findet sich nicht nur bei den Esoterikern. Die um sich greifenden Glaubenssysteme machen auch vor den „Skeptikern“ nicht halt, denn: Glauben ist einfacher als denken.
Eigentlich sind die „Skeptiker“ strenge Kritiker von Okkultem aus den Bereichen Homöopathie und traditionelle chinesische Medizin. Das dortige Tiefenscheinwissen wird heftig gegeißelt. Dabei wird angeprangert, dass Pseudowissenschaften nur unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit mit methodisch fragwürdigen Methodiken arbeiteten und ein Weltbild voraussetzten, welches dem ontologischen Naturalismus entgegenstehe.
Auch diese Leute haben ihr Tiefenscheinwissen. Sie glauben an die Prinzipien des ontologischen Naturalismus, beispielsweise daran, dass es keine Übernatur gebe und dass die Welt kausal geschlossen sei. Ein Pseudowissenschaftler setze ihrer Meinung nach ein völlig anderes Weltbild voraus und sei sich nicht bewusst, dass er sich unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit über deren „wahre Prinzipien“ hinwegsetze.
Der „Skeptiker“ hat demnach ein einfaches Rezept, wonach er Pseudowissenschaft als solche erkennen kann. Prüfstein ist sein Weltbild. Er argumentiert metaphysisch.
Im allgemeinen Sprachgebrauch ist der Begriff frei von Metaphysik. Unter Pseudowissenschaften versteht man nämlich „Behauptungen, Lehren, Theorien, Praktiken und Institutionen, die beanspruchen, Wissenschaft zu sein, aber Ansprüche an Wissenschaften nicht erfüllen“ (Wikipedia, Zugriff am 12.12.2015). Wissenschaft hat mit Transparenz, Falsifizierbarkeit, Diskussionsbereitschaft, Offenheit, Freiheit, also mit allerlei Diesseitigem zu tun. Diese Auffassung von Pseudowissenschaft kommt ohne Bezug auf irgendeine Ontologie aus. Aber sie macht Arbeit: Um die Spreu vom Weizen zu trennen, muss sich der Skeptiker in das anstrengende Geschäft der Wissenschaft begeben. Oberflächenkompetenz ist dabei ziemlich nutzlos und Tiefenscheinwissen hinderlich.
Zum Weiterlesen
Michael Berger: Mehr Bildung! Ein Aufruf zur Unzeit. FBTEI-Journal Wintersemester 2015/16
Timm Grams: Oberflächenkompetenz und Konsumverhalten. Trends im Bildungswesen – eine kritische Betrachtung. Erschienen in THEMA Hochschule Fulda 2/2006, S. 4-6
Felix von Cube: Gefährliche Sicherheit. Die Verhaltensbiologie des Risikos. 1995
Gerald Hüther: Biologie der Angst. Wie aus Stress Gefühle werden. 2005