Einer dpa-Meldung vom 28. 04. 2020 entnehme ich, dass der stellvertretende FDP-Vorsitzende Wolfgang Kubicki das Robert Koch-Institut und seinen Präsidenten Lothar Wieler wegen der regelmäßig verbreiteten Corona-Zahlen scharf kritisiert habe.
Diese vermittelten eher den Eindruck, politisch motivierte Zahlen zu sein als wissenschaftlich fundiert. Kubicki wies insbesondere auf die Reproduktionszahl hin, die nach RKI-Angaben bundesweit von 0,9 auf 1,0 gestiegen ist. Seine Kritik: „Woher dieser Wert bei sinkenden Infektionsraten kommen soll, erschließt sich nicht einmal mehr den Wohlmeinendsten.“
Es geht also um Reproduktionszahlen nahe eins. Unter eins geht die Zahl der Infizierten zurück, darüber steigt sie an. Bei R0 = 1 bleibt der Krankenstand gleich. Eine kleine Simulation mit der Kalkulationstabelle des letzten Artikels zeigt uns, dass tatsächlich größte Vorsicht angebracht ist. (Achtung: Ich nenne jemanden krank, der infiziert ist und noch nicht wieder immun, ob er nun Symptome zeigt oder nicht. In offiziellen Statistiken werden nur die tatsächlich Kranken gezählt, also diejenigen, die auch Symptome zeigen.)
Ich rufe in Erinnerung, dass es hier nicht um Prognosen des tatsächlichen Verlaufs der Corona-Infektionen geht. Das Modell ist dafür viel zu simpel. Aber man kann sich damit ein paar grundsätzliche Mechanismen der Virendynamik vor Augen führen. Hier will ich zeigen, dass zwischen der Dynamik für R0=0,9 und R0=1,1 Welten liegen. Die Ausbreitungsdynamik reagiert offensichtlich ganz empfindlich bei Reproduktionszahlen um die eins herum. Sehen wir uns den Verlauf des Krankenstandes Xi im Laufe der Tage i für diese Reproduktionszahlen einmal an. Begonnen wurde jeweils mit 100 Infizierten am Tag i=0.
Krankenstand bei anfänglich 100 Infizierten | |||
Tag | R0=0,9 | R0=1 | R0=1,1 |
10 | 150 | 156 | 161 |
20 | 126 | 146 | 167 |
50 | 88 | 140 | 213 |
100 | 52 | 140 | 345 |
200 | 18 | 140 | 896 |
500 | 1 | 140 | 15552 |
Ich erinnere an die grundlegenden Modellannahmen: Jeder Infizierte wird nach fünf Tagen ansteckend und nach weiteren neun Tagen gesund und immun. Krankheitsdauer: 14 Tage.
Wir wollen die Dynamik etwas genauer studieren. Dazu schauen wir uns zunächst die Spalte für R0=1 genauer an. Die Zahl der zu einem bestimmten Zeitpunkt Infizierten bleibt über den gesamten Zeitraum nahezu gleich: 140. Anfangs geht es ein wenig hin und her: Zu den ersten Infizierten kommen die neu angesteckten. Nach 14 Tagen verschwinden die ersten hundert schlagartig. Diese Sprünge gehen mit der Zeit zurück. Wir können ab dem 50. Tag davon ausgehen, dass die Zahl der bereits erlittenen Krankheitstage der Kranken in etwa gleichverteilt ist. Das heißt, von den 140 Patienten sind im Mittel 140∙9/14, also 90 infektiös. Diese stecken 90∙R0/9 = 10 Leute an. Es gibt also im Schnitt zehn neu Infizierten je Tag. Nach 10 Tagen summieren sich diese auf 100 Infizierte wie am Tag null. Daraus folgt ein Generationenabstand von 10 Tagen.
Diesen Generationenabstand können wir uns auch so erklären: Je 1/9 der Ansteckungen passieren am Tag x einer Erkrankung, wobei x = 6, 7, …, 14. Mittelwertbildung liefert den Wert 10.
Jetzt können wir in der Tabelle eine Struktur erkennen. Die proportionale Zunahme/Abnahme des Krankenstands ist von Generation zu Generation gleich R0. Bei einem Generationenabstand von 10 Tagen vergehen von Tag 100 bis Tag 200 zehn Generationen. Die relative Zunahme des Krankenstands sollte demnach gleich R010 sein. Das sind die Werte 35%, 100% und 259% für die drei Spalten. Und das sind ziemlich genau die Quotienten aus den jeweiligen Krankenständen des 200. und des 100. Tages.
Die Tabelle verdeutlicht das exponentielle Wachstum, sobald die Reproduktionszahl über eins liegt. Liegt sie unter eins kommt es zu dem höchst erwünschten exponentiellen Rückgang des Krankenstandes. Die Vergrößerung der Reproduktionszahl von 0,9 auf 1,1 erscheint uns klein. Die dazugehörige Veränderung der Virendynamik ist dramatisch; wir sehen das oft angesprochene exponentielle Wachstum in der Anfangsphase der Pandemie!
Beim aktuellen Datenstand gibt das RKI eine Schätzung ab („Täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019“ vom 28.4.2020). Demnach geht das 95%-Vertrauensintervall für die Reproduktionszahl an diesem Tag von 0,7 bis 1,0. Wie diese Schätzungen zustande kommen, steht im epidemiologischen Bulletin 17/2020 des Robert Koch Instituts vom 23. April 2020.
Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Von dieser Vorsicht ist die Verlautbarung des Herrn Kubicki frei. Sein nicht weiter begründeter Angriff auf die Vertrauenswürdigkeit des RKI hat uns angesichts der prekären Lage gerade noch gefehlt.
Die Verwirrung um die Reproduktionszahl ist jedoch auch zum Teil von Medien und RKI mitverschuldet, da R aufgrund der verkürzten Kommunikation von kritischen Nicht-Fachleuten (z.B. Kubicki) leicht missverstanden wird (komplexe Berechnung). Die Angabe eines bundesdeutschen Durchschnittswertes für R spiegelt auch nicht die Regionalität der Coronavirus-Dynamik wider, und wird damit auch bei einem R von 0,9 der weiteren Ausbreitung (!) des Virus nicht gerecht. Während man sich über einen mittleren R von 0,9 bis 1,0 streitet, ist diese Reproduktionszahl in manchen Regionen Deutschlands immer noch über 1, und in anderen Regionen deutlich unter 1. Landkreis-bezogene Werte vom RKI wären hier besser vermittelbar. Oder die Einteilung der Infizierten in Subpopulationen mit jeweils eigenem R (Partygänger, verschiedene Berufsgruppen, Stubenhocker). Man erkennt die Regionalität auch auf folgender Seite vom RKI:
https://experience.arcgis.com/experience/478220a4c454480e823b17327b2bf1d4/page/page_1/
Erst rechts oben auf Landkreise, dann das Bundesland einstellen und daraufhin links durch die Landkreise klicken.
Rechts sieht man dann den Verlauf von Anfang März bis Ende April. In manchen Landkreisen zeigen die Beschränkungen bis Ende April eine gute Wirkung (Zahl der Neuinfektionen ab Mitte April um 0-1), in manchen Landkreisen laufen die Infektionen bis dato weiter. Man vergleiche dazu beispielsweise Gütersloh und Kleve. Für die regionale Eindämmung sehe ich die dort lebenden Bürger und die jeweiligen Gesundheitsämter in der Pflicht.
Zu den Grenzen der Simulation:
Um einen Virus weiterzutragen, muss man sich infizieren. Das geschieht nicht „durch räumliche Nähe“, sondern durch eine Infektion. Wir sind keine passiven Spielbälle, sondern haben selbst (begrenzt) Einfluss darauf. Um sich zu infizieren muss viel Atem des Gegenübers eingeatmet werden, oder man muss durch laute oder feuchte Aussprache angespuckt werden, oder sich mit frisch infizierten Fingern an Augen/Nase/Mund fassen (so der derzeitige Wissensstand). Natürlich könnte man mittels „Mobile tracing“ an verschiedenen Filterkriterien herumspielen (z.B. Zeitdauer räumlicher Nähe), doch auch die dt. Gesellschaft für Krankenhaushygiene hält dieses Mobile Tracing für ineffizient und lehnt es ab. Es gibt keine Alternative zu einer angemessenen Hygiene und Abstand.
Wie es vom Shutdown aus weitergehen soll, scheint bisher politisch noch nicht entschieden. Es gibt viele „Meinungen“ und das Problem ist, ohne Immunität und mit unklarem Pandemieverlauf sitzen wir auf einem Pulverfass. Schweden lässt die Ladung langsam abbrennen. Wir haben die Lunte fast wieder ausgedrückt. Klar ist, dass „Superspreading Events“ wie Ischgl unterbleiben müssen, denn auch mit einem maximal niedrigem bundesweiten R reicht eben 1 infizierter Kellner, um einen neuen Cluster zu bilden: Bei lauter Musik muss man nahezu schreiend sein Bier bestellen und so bekommt der Kellner mit dem ersten infizierten Gast eine ausreichende Menge Viren ab, die er in den Folgetagen bei fortgesetzter Arbeit als Neuinfizierter an jeden Gast weitergibt.
Wie geht es also weiter? Nachdem R bereits wenige Tage vor dem Shutdown auf <1 gefallen war, scheinen die Maßnahmen bis zum Shutdown (Absage von Großveranstaltungen) für den Stopp der exponentiellen Ausbreitung auszureichen und die weitere Beibehaltung senkte nun die Anzahl der Infizierten, indem sich die erste große Welle Kranker kontaktlos auskurieren konnte. Der Shutdown als Erziehungsmaßnahme? Vermutlich auch. Wenn jeder auf Hygiene & Abstand am Arbeitsplatz achtet und im Kundenverkehr Mundschutz trägt, sollte sich die Virusverbreitung weiter eindämmen lassen. Können wir das jetzt? Hätten wir das auch schon vor 4 Wochen gekonnt? Ich denke, wenn man etwas kritisieren möchte, dann vor allem die fehlende Kommunikation über das notwendige hygiensche Verhalten im Alltag für die Zeit nach Wiederöffnung. Und Gummihandschuhe oder zwanghaftes Händedesinfizieren gehören nicht dazu, doch das wurde eben leider auch nicht kommuniziert.
Beim Umgang mit Statistiken gibt es ein paar Fallen: Statistiken laufen immer auf Aggregierung von Daten hinaus; Einzelschicksale und spezifische Trends gehen in der Masse auf. Gut, dass Armin Welker das herausgestrichen hat. Welche Fehlinterpretationen drohen, führt das simpsonsche Paradoxon besonders eindrucksvoll vor Augen.
Ein Übriges tun die Kennzahlen, die ihren Beitrag zu Blickverengung leisten: Trifft’s der Mittelwert oder der Medianwert besser?
Und ein Drittes: Manche Kennzahlen mögen klar und einleuchtend definiert sein, aber es gibt keine eindeutig daraus ableitbaren praktikablen Schätzmethoden dafür. Die Reproduktionszahl scheint in diese Kategorie zu fallen.
Im Laufe der momentanen Krise hatte ich ein erstes Aha-Erlebnis, als ich vermeinte, die Reproduktionszahl verstanden zu haben. Dann kam die Ernüchterung: Die Reproduktionszahl sagt uns über die Dynamik der Virenausbreitung erst dann etwas, wenn wir auch die Generationszeit, den Generationenabstand, kennen. Bei einer Reproduktionszahl von 1,1 braucht es bis zur Verdopplung der Neuinfizierten etwa sieben Generationen. So weit, so klar. Nur wenn wir wissen wollen, wie groß diese Zeit ist, wird es nebulös. In meinem simplen Modell kann man sich den Generationenabstand noch herleiten, was ich im Artikel ja auch gemacht habe. In der Praxis sieht es eher düster aus.
Das RKI hat in letzter Zeit die Generationszeit aus einer Plausibilitätsbetrachtung gewonnen und zunächst auf drei Tage festgelegt. Seit kurzem gilt eine Generationszeit von vier Tagen, was die Schwankungsbreite und damit die Unschärfe etwas verringert. Damit ist die Verdopplungszeit bei derselben Reproduktionszahl von R = 1,1 von drei Wochen auf vier gestiegen, ohne dass das Virus irgendwie zahmer geworden wäre. Bei einer Generationszeit von zehn Tagen, wie in meinem Modell, hätten wir sogar zehn Wochen Zeit, immer vorausgesetzt, die Reproduktionszahl ist dieselbe. Ist sie aber nicht.
In die Formel zur Schätzung der Reproduktionszahl nach dem RKI-Verfahren geht die angenommene Generationszeit ein. Die geschätzte Reproduktionszahl ist folglich parameterabhängig und bestenfalls zufällig gleich der tatsächlichen.
Das RKI sagt uns, dass zur Schätzung der aktuellen Reproduktionszahl die Fallzahlen der vergangenen vier Tage in Beziehung gesetzt werden zu den davor liegenden vier Tagen. Dieser Schätzwert der Reproduktionszahl passt zur angenommenen Generationszeit von vier Tagen. Beide Zahlen geben die tatsächlich Dynamik wieder, auch wenn weder die Generationszeit noch die geschätzte Reproduktionszahl zum intuitiven Verständnis dieser Kennzahlen passen.
Also: Der RKI-Schätzwert der Reproduktionszahl gewinnt seine Aussagekraft erst durch die Generationszeit, auf die er sich bezieht. Das RKI hat diese kürzlich von drei auf vier Tage erweitert, ohne dass das meines Erachtens ausreichend kommuniziert wurde. Wir können nun verstehen, dass Wolfgang Kubicki etwas verwirrt war.
Wenn es nur darum geht, die Reproduktionszahlen größer eins als Wachstum und die kleiner eins als Rückgang der Neuinfiziertenzahlen rein qualitativ zu deuten, spielt es keine Rolle, ob die gewählte Generationszeit etwas größer oder kleiner ist.