Achtes Intermezzo: Das Kuschelprinzip

Wir wissen, wer wir sind,
wenn wir wissen, wer wir nicht sind
und gegen wen wir sind.

Samuel P. Huntington

Was für ein bescheuerter Titel: „Das Kuschelprinzip“. Aber der Text ist auch nicht besser: nichts Gerades, nur Krummes und Paradoxes.

Kognitive Dissonanz

Zu meinen Kindheitserinnerungen gehören unbequeme, enge Kirchenbänke. Ich plapperte nach, was die erwachsenen Nachbarn sprachen:

Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde. Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn, empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, …

Und weiter:

… gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten…

So oder so ähnlich ging es mehrere Jahre, allsonntäglich. Dann diese Frage: Was machst du da eigentlich? Du sprichst von Dingen, die du nicht verstehst. Der hohe geistige Einsatz zahlt sich nicht aus. Erlösung ist nicht zu erwarten. Die Hingabe, die ordentliche Gemeindemitglieder augenscheinlich aufbrachten, ist mir immer fremd geblieben. Auf der Webseite des Bistums Würzburg finde ich aktuell dies:

Vom Nikolausberg auf der linken Mainseite, hoch über Würzburg, grüßt die wohl bekannteste Wallfahrtskirche der Diözese: das Käppele.

Besonders schön ist der Aufstieg vom Mainufer zu Fuß entlang des Stationswegs zum Gotteshaus. Insgesamt 77 Figuren und 14 Stationskapellen säumen den Aufstieg. Früher haben manche Gläubige den Weg auf den Knien zurückgelegt.

Warum tut jemand sich das alles an? Um Gott zu gefallen? Für einen guten Platz im Himmel? Mich beschleicht ein Verdacht: Vielleicht geschieht das alles nur, um in der Gemeinschaft der Gläubigen an Ansehen zu gewinnen und um als ordentliches Mitglied zu gelten.

Signale senden

In Gemeinschaft stark. Es wäre verwunderlich, hätte die Evolution keinen Weg gefunden, diesem lebensdienlichen Prinzip zur Wirkung zu verhelfen. Und tatsächlich sehen wir Lebensäußerungen, die in diese Richtung weisen: Totemismus, Abgrenzungstendenzen, Gemeinschaftssinn, Religiosität.

Manches zeigt aber auch in die entgegengesetzte Richtung, scheint eher gemeinschaftszerstörend zu wirken. Erst beim näheren Hinsehen entwickelt sich die Paradoxie: Amotz Zahavi hat erkannt, dass manches natürliche Verhalten genau das Gegenteil von dem bewirkt, wonach es aussieht:

Vögel hassen es, dicht beieinander zu hocken. Aber sie tun es, um gegenseitig die Leidensfähigkeit zu testen. Das Leben in der Wüste ist gefährlich, hier gibt es Schlangen, Falken und Wildkatzen. Deshalb testet jeder Graudrossling morgens, ob er sich darauf verlassen kann, dass die anderen bei ihm bleiben, falls er angegriffen wird.

Auf Zahavis Handicap-Prinzip oder Costly-Signaling beziehe ich mich, wenn ich den Prozess der Gruppenbildung unter Naturalisten beschreibe: Man kann das Streben mancher Leute, sich sogar zu einer im Grunde absurden Erzählung – einer bestimmten Ausprägung des Naturalismus nämlich –  zu bekennen, mit diesem Handicap-Prinzip erklären: „Nur die wahrhaft Gläubigen nehmen solche unsinnigen Zumutungen auf sich. Damit beweisen sie einander, dass sie es ernst meinen mit der Gruppe.“ (Der Spiegel 30/2020, S. 104-106: Die Apokalypse nach Q)

Richard Dawkins geht auf Zahawis Theorie ein und meint, dass Zahawi der Ansicht sei,

dass die Schwänze von Paradiesvögeln und Pfauen, die gewaltigen Gehörne von Hirschen sowie die anderen sexuell-selektierten Merkmale, die immer paradox erschienen, weil sie für ihren Besitzer eine Belastung zu sein scheinen, sich gerade deshalb so herausbilden, weil sie Handikaps sind. Ein männlicher Vogel mit einem langen und hinderlichen Schwanz führt dem Weibchen damit vor, dass er ein derart starker ‚Vollblutmann‘ ist, dass er trotz seines Schwanzes überleben kann.

Filterblasen und Echokammern

In wissenschaftsnahen Diskussionsforen lässt sich gut beobachten, wie Gruppen sich bilden und sich stabilisieren. Was auffällt ist, dass man sich nicht etwa gegenseitig zitiert, weil man etwas Besonderes oder Neues erfahren hat, sondern nur deshalb, weil man der gleichen Meinung ist: „Der angebliche logische Widerspruch wurde von Martin Mahner, Martin Holzherr und mir als Strohmann entlarvt.“ Zur Pflege des Gemeinschaftsgefühls gehört das wechselseitige Schulterklopfen: „Mein Dank an Feodor für die Klarstellung, wie der von mir bemängelte Kategorienfehler von Raimund Popper zu Fehlschlüssen führen kann!“ Wenn die Argumente ausgehen, wird der Gegner ins Abseits gestellt: „Beim Bieri-Trilemma vermuten Sie, ein Naturalist müsse These 2 ablehnen. Damit stehen Sie allein auf weiter Flur.“ Ob das den Tatsachen entspricht, ist dabei unerheblich. Die Debatte ist so jedenfalls erst einmal weg von der Sache hin zum Persönlichen verschoben.

Die uns angeborene Neigung der Kontrastbetonung sorgt für die scharfe Trennung von Innen und Außen einer Gruppe. Vorurteile entstehen und verfestigen sich, selbst wenn der Anlass zur Gruppenbildung ziemlich zufällig oder gar willkürlich ist (Edward Osborne Wilson. The Social Conquest of Earth. 2012. S. 59). Im Hoppla!-Artikel Stabile Filterblasen bin ich der Sache nachgegangen.

Angeboren

Signalisierung und Kontrastbetonung sind Mechanismen des sozialen Verhaltens. Aber sie sind eher sekundär. Aller Anfang liegt woanders: Die Mutter bietet dir die Brust. Kuscheln ist das Erste, was du machst – unwiderstehlich, überlebensdienlich. Der Titel dieses Artikels passt schon: Dass sich Gruppen bilden, scheint dem Drang zum Kuscheln zu entspringen.

Diese Neigung zur Gruppenbildung ist erfolgversprechend. Sie muss angeboren sein, ob man’s nun Kuscheln nennt oder anders. Welchem Leitmotiv eine Gruppe folgt, ist demgegenüber sekundär. Sind erst einmal mehrere Gruppen in der Welt, kann der Konkurrenzkampf beginnen. Eine weitere Voraussetzung neben der Gruppenbildung ist die Haltbarkeit des Motivs, ob sinnvoll oder nicht. Die Stabilität des Überbaus bewirkt, dass die Selektion wirksam angreifen kann. Mir erscheint die Gruppenselektion als eine ziemlich natürliche Erweiterung der Evolutionsmechanismen.

Das war Ihnen jetzt nicht wissenschaftlich genug? Davon können Sie mehr haben. Aber das macht es auch nicht besser. Zwei Ikonen der biologischen Wissenschaft sind sich über die Frage, ob es Gruppenselektion gibt oder nicht, ordentlich in die Haare geraten: Edward Wilson und Richard Dawkins. Wer seine Kunstfertigkeit in Rechthaberei perfektionieren will, kann diesen herrlichen Disput genießen.

Giftigkeit gegen Andersdenkende paart sich in natürlicher Weise mit dem Kuscheln unter Gleichgesinnten. Auch früher schon war Giftigkeit im Wissenschaftsbetrieb eher Würze als Belastung. Das war mein Thema im Hoppla!-Artikel Wissenschaft mit Schmackes.

Sich ankuscheln oder sich empören – so ambivalent sieht das auch Maren Keller (Der Spiegel, 37/11,9.2021, S. 128 f.). Sie greift die Rede von den Ohne-mich-Typen auf, denen ein grundlegendes Merkmal des Menschen abhandengekommen sei: „die Fähigkeit zur Empörung und damit zum Engagement“. Sie schreibt: „Ein Jahrzehnt voller Social-Media-Debatten später kann man das auch anders sehen. Vielleicht gibt es gar nicht zu viele ‚Ohne-mich‘-Typen, sondern zu wenige. Vielleicht wäre die Welt besser dran ohne Empörung über das Ende der Currywurst bei VW. Wenn es also das nächste Mal um ein virales Video, ein einzelnes Zitat oder ein Kantinenessen geht, dann müsste es vielleicht heißen: entempört euch!“

Die Fähigkeit, Ambivalenz aushalten zu können, spricht für eine gesteigerte emotionale Reife (Wikipedia, 12.9.2021).

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2 Antworten zu Achtes Intermezzo: Das Kuschelprinzip

  1. Rainer Gebauer sagt:

    Menschliche Gruppenbildung ist offenbar – sofern die Evolutionstheorie zumindest prinzipiell etwas Relevantes aussagt – ein überlebenstechnisch nützliches Verhalten, nicht mehr und nicht weniger. Wie individuelles Handeln den Nutzen optimiert und schädliche Nebenwirkungen minimiert, ermittelt das Leben durch Versuch und Irrtum.
    Das menschliche Problem ist, dass die Beurteilung des Nützlichen sich am Jetzt orientieren muss, weil das Weltgeschehen zu komplex für unser simples Ursache-Wirkung-Denken ist. Vor allem längerfristiges Planen bleibt illusionär, also verschaffe ich mir etwas Sicherheit in meiner Gruppe. Als die Welt noch leer war, konnten sich konkurrierende Gruppen aus dem Weg gehen. Aber die Welt ist nicht mehr leer, und alle wissen von allen. Jede Gruppe ist in Gefahr.
    Wir werden uns selbst reduzieren müssen, wie auch immer das gehen soll.

    • Timm Grams sagt:

      Das Individuum muss sich auch im Rahmen seiner Gruppe bewähren; eine Randbedingung für individuelles Handeln ist das Wertesystem der Gruppe, für Deutschland als Großgruppe beispielsweise sind die Grundgesetzartikel 1 bis 21 mit der zentralen Stellung des Individuums und dem gesellschaftlichen Pluralismus prägend. Das Individuum steckt in einem Netz von gesellschaftlichen Kräften, Werten, Weltanschauungen und konkurrierenden Verbänden. Dem Kuschelprinzip bietet sich ein weites Anwendungsfeld – ins Riesenhafte ausgeweitet durch die sozialen Medien.

      Auf höherer Ebene treten Gruppen mit stabilen Wertesystemen gegeneinander an. Auf Ebene der Kulturkreise wird die Konkurrenzsituation gerade besonders deutlich. Es ist nicht ausgemacht, wer Sieger sein wird: das westliche (Europa, USA), das östliche System (China) oder der Islam. Möglicherweise lag Samuel Huntington mit seiner These vom „Kampf der Kulturen“ (1996) gar nicht so arg daneben.

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