Fortschrittsideologie – ein Ponzi-Schema?

Das Sondierungsergebnis vom 15.10.2021

Das ist ein Ergebnis der Sondierungen zwischen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP: „Die nächsten Jahre sind entscheidend, um Deutschland und Europa zu stärken für die großen Herausforderungen wie den Klimawandel, die Digitalisierung, die Sicherung unseres Wohlstands, den sozialen Zusammenhalt und den demografischen Wandel. Die Grundlage dafür ist eine umfassende Erneuerung unseres Landes.“ Und weiter: „Wir fühlen uns gemeinsam dem Fortschritt verpflichtet. […] Als Fortschrittskoalition können wir die Weichen für ein Jahrzehnt der sozialen, ökologischen, wirtschaftlichen, digitalen und gesellschaftlichen Erneuerung stellen.“

Toll, sagte ich mir. Das könnte klappen. – Dann habe ich darüber nachgedacht, und mir sind Zweifel gekommen.

Fortschrittsdynamik

Anfangs der 1980er Jahre gab ich in der Vorlesung „Nachrichtentechnik“ im einleitenden Kapitel folgenden Gedanken zum Besten: „Mittels Technik erweitert der Mensch seine Fähigkeiten der Nachrichtenspeicherung, -verarbeitung und –übertragung. Theorien und Techniken lassen sich dadurch schneller verbreiten – und auch schneller widerlegen und durch bessere ersetzen. Das beschleunigt wiederum die technische Entwicklung und den technischen Fortschritt. Der Nachrichtentechnik fällt in der kulturellen Entwicklung offensichtlich eine wichtige Sonderrolle zu. Das ist keine Wertung dahingehend, dass alle Technik zum Segen der Menschheit ist. Skepsis ist angebracht.“

Der Philosoph Hermann Lübbe spricht vom beschleunigten Wissenswachstum und eben dadurch beschleunigte technische Evolution: „Selbstreferentiell war diese Evolution immer“ (1992, S. 263).

Der Fortschritt nimmt seinen Lauf. Die Folgen sind Wachstum der Möglichkeiten und Wachstum der Ansprüche, Wachstum der Güter. Bei konstanten Wachstumsraten ist das Wachstum exponentiell. Als ich von der Hochschule in die elektrotechnische Industrie ging, hieß es, dass das jährliche Wachstum des Stromverbrauchs 7% und die Zeit bis zur Verdopplung folglich nur zehn Jahre betrage. Zur selben Zeit erschien der Bericht des Club of Rome „Limits to Growth“ und der tauchte diese Zukunftsprognose in ein düsteres Licht. Plötzlich sprach jedermann von der Erschöpflichkeit der Ressourcen.

Im Kollegenkreis vertrat ich eine etwas abweichende Haltung. Ich sah unser Problem eher in dem ungelösten Abfallproblem. Ich übertrug das damals – anfangs der 70er Jahre – allseits zur Kenntnis genommene Problem der klimawirksamen Abgase, insbesondere des CO2, auf den radioaktiven Abfall der Kernenergietechnik. Und tatsächlich ist auch heute noch kein Endlager dafür in Sicht. Aber wenigstens hat inzwischen wohl jeder begriffen, was es mit dem CO2 in der Atmosphäre auf sich hat – ausgenommen Leute vom Schlag eines Martin Hohmann („CO2 ist eine gute Gabe Gottes“, Bundestagsrede am 10.09.2019).

Uns wurden die physischen Grenzen unseres Wohlstands deutlich gemacht. Das Lebensgefühl, das sich damals ausbreitete, wird durch die Inschriften der Georgia Guide Stones ziemlich gut beschrieben. Ernst Friedrich Schumacher, ein britischer Ökonom deutscher Herkunft, lieferte 1973 die passende Parole dazu: „Small is beautiful“. Das machte mich zu einem überzeugten Grünen, fast ein Jahrzehnt bevor diese Partei gegründet wurde. Autofahren fand ich unnötig. Den Führerschein machte ich erst ein Vierteljahrhundert später.

Unser modernes Leben hat, wie ich finde, den Charakter eines Ponzi Schemas (Zuckoff, 2005): Ponzis Werbespruch „Double the Money Within Three Months“ verlockte die Menschen dazu, ihr Geld bei ihm anzulegen. Ponzi zahlte anfangs auch ordentliche Gewinne aus, weil er neue Geldanleger finden konnte. Dieses Schneeballsystem stößt zwangsläufig an Grenzen. Irgendwann musste dem Verleiher Ponzi das Geld ausgehen – mangels Neukunden. Er bekannte sich schuldig und musste ins Kittchen. Mehrmals lief das so. Und Ponzi fand seine Nachahmer. Bernie Madoff war einer von ihnen.

Kern des Schemas ist, dass die frühen Kunden das ernten, was die späten, ohne Aussicht auf Entschädigung, einbringen. Das ist glatter Betrug und deshalb auch verboten. Wer die Analogie noch nicht sieht, dem sage ich: Wir beuten die Umwelt aus und unsere Nachfahren werden die Rechnung dafür präsentiert bekommen. Das Ponzi-Schema lebt vom Zugriff auf das Vermögen der Nachfolger. Es bedient das Verlangen nach mehr Wohlstand als einem zusteht. Es ist auf Wachstum angelegt. Aber das hat seine natürlichen Grenzen. Die letzten haben nichts mehr, was sie ausbeuten könnten. Also auch hier: glatter Betrug. Aber in diesem Fall nicht verboten.

Dagegen steht die Bewegung Fridays for Future auf. Man könnte meinen, dass endlich eine Bewegung entstanden ist, die dem Ruf „Small is beautiful“ Gehör verschafft. Dem ist leider nicht so.

Grenzen respektieren oder überwinden?

Fortschrittskritiker („Small is beautiful“) sind unbeliebt. Sie drohen, uns etwas Geliebtes wegzunehmen und uns zu bevormunden. Im Wahlkampf wurden die Grünen als Verbotspartei verunglimpft. Und die Grünen haben – zumindest nach der öffentlichen Wahrnehmung – Abbitte geleistet und sind auf den FDP-Kurs eingeschwenkt: „Der Klimawandel ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Packen wir es richtig an, kann er aber auch zu einer unserer größten Chancen werden. Wir brauchen Forschung, Wissenschaft, Innovationen und die vielen klugen Ideen der Menschen. Neue Technologien führen dazu, Energie bezahlbar umwandeln und gleichzeitig das Klima schützen zu können. Auch bei der Lösung für komplexe Umweltprobleme setzen wir auf die Kreativität der Vielen und den Wettbewerb der besten Ideen.“ (Aus dem Wahlprogramm 2021 der FDP)

Annalena Baerbocks Einlassung „Verbote bedeuten übrigens oft Fortschritt“ hat mir zunächst Hoffnung gemacht. Doch auch da schimmert ein Fortschrittsbegriff durch, wie ihn die Fortschrittsapologeten vom Schlage eines Michael Shermer verstehen. Sie meinen, dass die Welt auf dem Weg in eine rosige Zukunft sei. Sie wählen die zu ihren Ansichten passenden Fakten; Gegenläufiges wird klein geredet.

Dabei ist es doch so, dass wir gar nicht wissen, ob unsere mit guter Absicht vorgenommenen Handlungen auch tatsächlich gute Resultate haben werden. Schädliche Nebenwirkungen sind im Voraus kaum abschätzbar. Nicht ohne Grund wendet sich Karl Raimund Popper gegen das Planen im großen Stil. Wenn er von einer Sozialtechnik der Einzelprobleme spricht, dann hat er womöglich „Small is beautiful“ im Sinn. Im Lichte von Poppers Einwand „Das soziale Leben ist so kompliziert, dass nur wenige Menschen oder überhaupt niemand fähig ist, den Wert eines Bauplans für soziale Maßnahmen im großen Maßstab richtig einzuschätzen“ (Popper, 1980, S. 216) sieht das Sondierungsergebnis, „eine umfassende Erneuerung unseres Landes“ betreffend, gar nicht mehr so gut aus.

Aber das alles ist zu allgemein, als dass es das Erneuerungsvorhaben im Kern erschüttern könnte. Werden wir etwas konkreter. Im Sondierungsergebnis lesen wir „Wesentlich ist eine gute Forschungslandschaft, die Innovationen hervorbringt.“ Das liest sich nun tatsächlich wie ein Wechsel auf die Zukunft.

Grenzen des Wissens

Der Wissensfortschritt hat seine Grenzen, und das nicht etwa, weil wir irgendwann einmal alles über die Welt wissen. Er scheint sich totzulaufen. Zumindest gibt es dafür Anzeichen. Davon soll nun die Rede sein.

Von den physikalischen Grenzen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts hatten wir es schon. Ich sehe darüber hinaus Fortschrittsbarrieren, die vom Publikum und sogar von den Experten kaum wahrgenommen werden. Das Wissenswachstum aufgrund nützlicher Theorien tendiert gegen null. Die Hoffnung, dass sich unsere Probleme durch zukünftige Innovationen lösen lassen, könnte sich als trügerisch erweisen.

Zum Schluss des Beitrags bringe ich ein paar Warnzeichen, die auf Fortschrittsbarrieren beim Wissenszuwachs hindeuten. Einige waren bereits früher Thema des Hoppla!-Blogs.

Qualitätsverlust in der öffentlich wahrgenommenen Wissenschaft

Theorien sind in den Medien und insbesondere im Internet in großer Fülle vorhanden. Sie geraten dadurch in die Hände von dafür nicht Qualifizierten. Reproduktionen in minderer Qualität reduzieren Wissen.

In einem Buch über die Metaphysik der Wissenschaft finde ich beispielsweise die folgende Passage: So beträgt beispielsweise die Ereigniswahrscheinlichkeit, bei einem Münzwurf ZAHL zu werfen, 0,5. Die Wahrscheinlichkeit der Aussage „Die Wahrscheinlichkeit, bei einem fairen Münzwurf ZAHL zu werfen, ist 0,5“ beträgt indes 1.

Das klingt zwar etwas komisch, ist aber gut zu verstehen, auch unter Zugrundelegung der frequentistisch begründeten objektiven Wahrscheinlichkeiten. Man braucht ja nur die Wahl der Münze als Zufallsereignis anzusehen – mit dementsprechend zufallsbedingten statistischen Eigenschaften. In der zitierten Passage wird, etwas umständlich zwar, aber nicht verkehrt, die Gültigkeit des Indifferenzprinzips postuliert. Jedenfalls bietet sie keinen Grund, über Unverträglichkeiten von subjektiven und objektiven Wahrscheinlichkeiten zu sinnieren, wie in dem Buch geschehen. So entsteht Halbgares, aber jedenfalls kein Wissen.

Das ist ein ziemlich harmloser Fall von Qualitätsverlust in der Populärwissenschaft. Schmerzlich wird es bei vorsätzlich verbreiteten irrigen Lehren bis hin zu den heute gängigen Verschwörungstheorien.

Lehrbuchwissen – leicht verdaulich, aber allzu oft verkehrt

Lehrbuchautoren pflegen von anderen abzuschreiben. Und da sich einfache aber windige„Beweise“ leichter „verkaufen“ lassen als komplizierte korrekte, breiten sie sich auf dem Lehrbuchmarkt auch schneller aus.

Als Beispiel für derartige Wissensvernichtung bringe ich in meinem Artikel über Pseudomathematik die sogenannten exakten Konfidenzintervalle nach Clopper und Pearson.

Irrungen und Wirrungen im Wissenschaftsbetrieb

In einem Beitrag zum Informatik Spektrum von 1998 zeige ich mich überzeugt davon, dass viel zu viele aus­­gezeichnete Wissenschaftler ihre For­schungs­anstren­gun­gen in un­frucht­ba­re Arbeitsgebiete investieren. Als Beispiel nenne ich die Zuverlässig­keits­wach­s­­tumsmo­delle für Software, die mich seinerzeit an Poppers Kampf gegen den Historizismus erinnerten (1960 ff.). Der von mir gewählte knallige Titel sorgte denn auch für große Aufregung unter den Fachkollegen: Das Elend der Zuverlässigkeitswachstumsmodelle.

Wenn ich einmal Zweifel am Wissenschaftsprozess äußere und darauf hinweise, dass der Stand der Wissenschaft gar nicht so fest gefügt ist, wie einige meiner Kollegen offenbar glauben, dann bekomme ich immer wieder eingerieben, dass es ja bewährte Mechanismen gebe, die den Prozess der Wissensgenerierung absicherten. An erster Stelle genannt wird das Peer-Review, das renommierte Wissenschaftszeitungen installiert haben. Damit habe ich nun aber gar nicht so positive Erfahrungen gemacht.

Artikel über ein verallgemeinertes Hardware-Software-Zuverlässigkeitsmodell (X-Ware Reliability) sind in mehreren renommierten Zeitschriften erschienen, und außerdem als Leitkapitel in einem Handbook of Software Reliability. Dabei ist die ganze Theorie auf einer Gleichung aufgebaut, deren Fehlerhaftigkeit jedem Ingenieurstudenten im Grundstudium hätte auffallen müssen. In „Grundlagen des Qualitäts- und Risikomanagements“ berichte ich darüber (2001, S. 65).

Forscher wissen über immer weniger immer mehr

Vor zwei Jahren schrieb ich: „Wir alle, auch der Wissenschaftler, sind in fast jedem Fach Laien. Unsere Urteilskraft beruht ganz wesentlich auf Auskünften von Leuten, denen wir vertrauen. Woran soll man sich denn halten, wenn nicht an den guten Ruf großer Namen. Wir verlassen uns auf Institutionen und Redaktionen, deren Verfassungen und Statuten vertrauenswürdige Wissenschaftler und Publizisten an die Front bringen. Von den Publikationsprozessen verlangen wir durchschaubare Kompetenzregelungen und Verantwortungsabgrenzungen, kurz: Transparenz.“

Die Zeiten der Universalgelehrten ist längst vorbei. Forscher sind heute extreme Spezialisten. Auf vielen Fachgebieten gibt es weltweit nur wenige, die einander verstehen. Es entstehen Echokammern. Das vorurteilsfreie Prüfen von Fachaufsätzen wird so nahezu unmöglich.

Ich kann Erfahrungen aus meiner Publikationstätigkeit beisteuern: In mehreren Fällen haben mir die Gutachter vorgeschlagen, weitere Arbeiten zu zitieren. Es fiel mir nicht schwer, die anonymen Gutachter als deren Autoren zu identifizieren. Es fragt sich, wie unter diesen Bedingungen die Objektivität der Wissenschaft gewährleisten werden kann.

Ein weiteres Problem sind die großen Kollaborationen, bei denen der einzelne Wissenschaftler in einem Kollektiv verschwindet. Dadurch kommt dem Publikum jede Orientierung durch herausragende Forscherpersönlichkeiten abhanden. In dem Hoppla!-Artikel Wie verlässlich ist die Wissenschaft? arbeite ich das etwas deutlicher heraus.

Fazit

Das alles sind Hinweise darauf, dass sich der wissenschaftliche Fortschritt totlaufen könnte, dass er trotz aller Beschleunigung schließlich nur noch Energie verschlingt und am geistigen Abfall erstickt. Vielleicht ist die Fortschrittsideologie tatsächlich ein Ponzi-Schema, und das nicht nur in physikalischer Hinsicht, sondern auch in geistiger. Dann wäre die Fortschrittsideologie ein Irrweg, ein Irrweg, den die neuen Koalitionäre offenbar mit strammem Schritt gehen wollen.

Literatur

Grams, Timm: Das Elend der Zuverlässigkeitswachstumsmodelle.  Informatik Spektrum 5/1998, S. 291-295

Grams, Timm: Grundlagen des Qualitäts- und Risikomanagements. Vieweg, Braunschweig/Wiesbaden 2001

Grams, Timm: Klüger irren – Denkfallen vermeiden mit System (2. Auflage). Springer, Berlin 2020

Lübbe, Hermann: Im Zug der Zeit. Springer, Berlin, Heidelberg 1992

Popper, Karl Raimund: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I. Francke, München 1957/1980

Popper, Karl Raimund: Das Elend des Historizismus. Mohr Siebeck, Tübingen 1965/2003 (engl. Original 1960)

Schumacher, Ernst Friedrich: Small is beautiful. Die Rückkehr zum menschlichen Maß. oekom verlag, München 2019 (englische/deutsche Originalausgabe 1973/1977)

Zuckoff, Mitchell: Ponzi’s Scheme. The True Story of a Financial Legend. Random House, New York 2005

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Eine Antwort zu Fortschrittsideologie – ein Ponzi-Schema?

  1. Rabe Socke sagt:

    Wieder ein schöner Artikel, der viele aktuelle Themen adressiert!

    Die Frage ist, ob Fortschritt wirklich immer mit Wachstum verbunden ist, bzw. in Zukunft noch sein kann.
    Es wäre ja auch fortschrittlich, das Wachstum in Zukunft zu begrenzen.
    Ganz gut finde ich dazu die Ausführungen von Harald Welzer:
    https://www.youtube.com/watch?v=WPx3Iewroc8

    Ob man den Qualitätsverlust in der Wissenschaft noch stoppen kann, ist fraglich.
    Im Rahmen von Forschungsprofessuren (FH-Professur mit reduziertem Deputat) wird die Forschung zu 100% aus Drittmitteln (teilweise explizit aus der Industrie verlangt) finanziert.
    Das Gleichsetzten „Wissenschaft = Drittelmittel“ ist im Ingenieursbereich mittlerweile gang und gebe. Kein Wunder, wenn viele Dissertation wie eher „ingenieursmäßige Arbeit“ wirken. Schlimmer noch, wenn Professoren ingenieurmäßiges und wissenschaftliches Arbeiten nicht unterscheiden.

    Auch das Streben der FH’s, das Promotionsrecht für sich zu erlangen, baut teilweise darauf auf:
    „Forschungsstark“ ist derjenige, der Drittmittel einwirbt.

    Man erkennt, Wissenschaft ist das, was dem Drittmittelgeber nutzt. Freie Forschung mit „Luft zum Scheitern“ gibt es nur noch selten.

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