Die offene Gesellschaft: Trump, Netanjahu, Orban, Weidel kommen nicht überraschend

Im Jahr 1955 wars. Die Mutter stand mit den Kindern auf dem Bahnhof einer oberfränkischen Kleinstadt. „Wir bleiben jetzt im Westen“, sagte sie. Eine gute Nachricht für den Jungen, der die Gängeleien in der Schule und die DDR-Propaganda ziemlich satt hatte.

Die Wertschätzung der Freiheit zieht sich seither durch sein Leben und er kann Joachim Gauck gut verstehen, wenn dieser sich leidenschaftlich zu seinem großen Lebensthema Freiheit äußert.

Etwas Grundsätzliches macht sich bemerkbar

Einen Knacks bekam die Begeisterung für die Freiheit, als der Junge merkte, dass es beim Metzger zwar viele Wurstsorten gab, sogar Aufschnitt mit Gesichtern, dass alles aber so ziemlich gleich fad schmeckte – anders als die ihm von früher bekannte Knackwurst.

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit: Das ist die Losung der französischen Revolution von 1789. Sie grundiert die westlichen Verfassungen. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) steht unter Artikel 1 Freiheit, Gleichheit, Solidarität:

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.

Die Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 der USA bezieht sich noch deutlicher auf das individuelle Wohl:

We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.

Die ökonomische Freiheit sorgt in Demokratien für wirtschaftliche Ungleichheit und die scharfe Trennung zwischen Arm und Reich. Geld regiert die Welt. Ein Großteil der Macht geht an die Superreichen wie Elon Musk, Jeff Bezos und Mark Zuckerberg. Anders als beabsichtigt, entzieht so die Demokratie dem Volk die Macht.

Knackpunkt Gewaltenteilung

Wir Europäer sehen das Vertrauen in die Demokratie schwinden. Und jetzt zeigen uns auch noch die Vereinigten Staaten von Amerika, wie verletzlich die westliche Leitkultur ist.

Dort ist man ja besonders stolz auf die Gewaltenteilung, die Checks and Balances, und gerade darin schwächelt das System. Eigentlich sollten ja die Richter unabhängig von der gesetzgebenden und von der ausführenden Gewalt sein. Und da stellt sich ein ganz grundsätzliches Problem: Wer ernennt die Richter? Und wer definiert ihre Befugnisse? Die Ernennung der Richter des Supreme Courts der USA war schon immer eine Sache der gerade im Senat herrschenden Partei und ihres Präsidenten und folglich grundsätzlich konfliktträchtig.

Freie geheime allgemeine Wahlen

Ein weiteres vielleicht noch gravierenderes Problem ist die Infragestellung des gewaltlosen Machtwechsels, die ihr Symbol in der Erstürmung des Capitols am 6. Januar 2021 gefunden hat. Für Adam Przeworski ist die Möglichkeit des gewaltfreien Machtwechsels das einzige unverzichtbare Merkmal einer Demokratie.

Der Aufruhr wird von vielen Kennern der wirtschaftlichen Ungleichheit in den USA zugeschrieben. Der Gini-Index in den USA liegt dauerhaft bei etwa 40%. In Deutschland und in weiteren europäischen Ländern sind es 30%. Von der Machtballung bei den Superreichen hatten wir es schon.

Ich frage mich, ob diese Ereignisse wirklich außerordentlich oder ob sie dementgegen sogar in der Demokratie selbst angelegt sind. Eine „offene Gesellschaft“ (Karl Raimund Popper) ist eben verletzlich.

Kritische Punkte

Schauen wir in den freiheitlich-demokratischen Verfassungen einmal nach, inwiefern ihre Stärken zugleich ihre Schwachpunkte sind, an denen sie ausgehebelt werden können.

In der Constitution of the United States in Artikel II Section 3 finden wir den Pferdefuß: Der Präsident

shall have Power, by and with the Advice and Consent of the Senate, to make Treaties, provided two thirds of the Senators present concur; and he shall nominate, and by and with the Advice and Consent of the Senate, shall appoint Ambassadors, other public Ministers and Consuls, Judges of the supreme Court …

Ich finde es bedenklich, dass ein solches Präsidialsystem auf die deutschen Hochschulen übertragen worden ist. Die wechselseitige Kontrolle der Institutionen wird so außer Kraft gesetzt.

Ein Blick nach Israel zeigt, dass dort die Erosion der Demokratie durch eine sogenannte Justizreform vorangebracht werden soll.

In der Bundesrepublik ist die Gefahr des Missbrauchs von Richterernennungen geringer: Art. 94 des Grundgesetzes sieht vor, dass die Bundesver­fassungsrichter je zur Hälfte von Bundestag und Bundesrat gewählt werden. Eine echte Gewaltenteilung ist das aber auch nicht.

Übrigens: Der Föderalismus ist ein Element der Gewaltenteilung und in diesem Sinne von den Alliierten dem Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee (1948) vorgegeben worden. Das sollten die heutzutage erstarkenden Föderalismuskritiker bedenken.

Fazit

Die Demokratie kann nur bestehen, wenn es gelingt, genau die Leute mit Macht auszustatten, deren Herz für die offene Gesellschaft schlägt. Dafür müssen wir aber selber sorgen.

Dieser Beitrag wurde unter Bildungswesen, Humanismus, Moral und Ethik, Wirtschaft veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Eine Antwort zu Die offene Gesellschaft: Trump, Netanjahu, Orban, Weidel kommen nicht überraschend

  1. Timm Grams sagt:

    Es kann nichts schaden, sich über die Förderungen von Projekten durch Superreiche Gedanken zu machen. Wer hat das Sagen?

    https://www.spiegel.de/backstage/fragen-und-antworten-zur-foerderung-durch-die-bill-and-melinda-gates-stiftung-a-dac661f6-210a-4616-b2d2-88917210fed4

    Für schwerwiegend halte ich den Einfluss der Bertelsmann-Stiftung auf die Hochschulpolitik:

    https://www2.hs-fulda.de/~grams/hoppla/wordpress/?p=99

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Optionally add an image (JPEG only)